Dritter Brief

[220] Julie hat in ihrer letzten Nachschrift dem Philosophen das Wort geredet, leider stimmt der Oheim noch nicht mit ein, denn der junge Mann hält nicht nur auf einer besondern Methode, die mir keinesweges einleuchtet, sondern sein Geist ist auch auf solche Gegenstände gerichtet, über die ich weder viel denke noch gedacht habe. In der Mitte meiner Sammlung sogar, durch die ich fast mit allen Menschen in ein Verhältnis komme, scheint sich nicht einmal ein Berührungspunkt zu finden. Selbst den historischen, den antiquarischen Anteil, den er sonst daran zu nehmen schien, hat er völlig verloren. Die Sittenlehre, von der ich außerhalb meines Herzens wenig weiß, beschäftigt ihn besonders; das Naturrecht, das ich nicht vermisse, weil unser Tribunal gerecht und unsere Polizei tätig ist, verschlingt seine nächsten Forschungen; das Staatsrecht, das mir in meiner frühsten Jugend schon durch meinen Oheim verleidet wurde, steht als das Ziel seiner Aussichten.[220]

Da ist es nun um die Unterhaltung, von der ich mir so viel versprach, beinahe getan, und es hilft mir nichts, daß ich ihn als einen edeln Menschen schätze, als einen guten liebe, als einen Verwandten zu befördern wünsche: wir haben einander nichts zu sagen. Meine Kupfer lassen ihn stumm, meine Gemälde kalt.

Wenn ich nun so für mich selbst, wie hier gegen Sie, meine Herren, als ein wahrer Oheim in der deutschen Komödie, meinen Unmut auslasse, so zupft mich die Erfahrung wieder und erinnert mich, daß es der Weg nicht sei, sich mit den Menschen zu verbinden, wenn wir uns die Eigenschaften exagerieren, durch welche sie von uns allenfalls getrennt erscheinen.

Wir wollen also lieber abwarten, wie sich das künftig machen kann, und ich will indessen meine Pflicht gegen Sie nicht versäumen und fortfahren, Ihnen etwas von den Stiftern meiner Sammlung zu erzählen.

Meines Vaters Bruder, nachdem er als Offizier sehr brav gedient hatte, ward nach und nach in verschiednen Staatsgeschäften und zuletzt bei sehr wichtigen Fällen gebraucht. Er kannte fast alle Fürsten seiner Zeit und hatte durch die Geschenke, die mit ihren Bildnissen in Email und Miniatur verziert waren, eine Liebhaberei zu solchen Kunstwerken gewonnen. Er verschaffte sich nach und nach die Porträts verstorbner sowohl als lebender Potentaten, wenn die goldnen Dosen und brillantnen Einfassungen zu den Goldschmieden und Juwelenhändlern wieder zurückkehrten und so besaß er endlich einen Staatskalender seines Jahrhunderts in Bildnissen.

Da er viel reiste, wollte er seinen Schatz immer bei sich haben, und es war möglich, die Sammlung in einen sehr engen Raum zu bringen. Nirgends zeigte er sie vor, ohne daß ihm das Bildnis eines Lebenden oder Verstorbenen, aus irgendeinem Schmuckkästchen, zugeflogen wäre; denn das Eigne hat eine bestimmte Sammlung, daß sie das Zerstreute an sich zieht und selbst die Affektion eines Besitzers[221] gegen irgendein einzelnes Kleinod durch die Gewalt der Masse gleichsam aufhebt und vernichtet.

Von den Porträten, unter welchen sich auch ganze Figuren, z.B. allegorisch als Jägerinnen und Nymphen vorgestellte Prinzessinnen fanden, verbreitete er sich zuletzt auf andere kleine Gemälde dieser Art, wobei er jedoch mehr auf die äußerste Feinheit der Ausführung als auf die höhern Kunstzwecke sah, die freilich auch in dieser Gattung erreicht werden können. Sie haben das Beste dieser Sammlung selbst bewundert; nur weniges ist gelegentlich durch mich hinzugekommen.

Um nun endlich von mir als dem gegenwärtigen, vergnügten Besitzer, doch auch oft genug inkommodierten Kustoden der wohlbekannten und wohlbelobten Sammlung zu reden, so war meine Neigung von Jugend auf der Liebhaberei meines Oheims, ja auch meines Vaters entgegengesetzt.

Ob die etwas ernsthaftere Richtung meines Großvaters auf mich geerbt hatte oder ob ich, wie man es so oft bei Kindern findet, aus Geist des Widerspruchs, mit vorsätzlicher Unart, mich von dem Wege des Vaters, des Oheims entfernte, will ich nicht entscheiden; genug, wenn jener durch die genauste Nachahmung, durch die sorgfältigste Ausführung das Kunstwerk mit dem Naturwerke völlig auf einer Linie sehen wollte, wenn dieser eine kleine Tafel nur insofern schätzte, als sie durch die zartesten Punkte gleichsam ins unendliche geteilt war, wenn er immer ein Vergrößerungsglas bei der Hand hielt und dadurch das Wunder einer solchen Arbeit noch zu vergrößern glaubte: so konnte ich kein ander Vergnügen an Kunstwerken finden, als wenn ich Skizzen vor mir sah, die mir auf einmal einen lebhaften Gedanken zu einem etwa auszuführenden Stücke vor Augen legten.

Die trefflichen Blätter von dieser Art, welche sich in meines Großvaters Sammlung befanden und die mich hätten belehren können, daß eine Skizze mit ebensoviel[222] Genauigkeit als Geist gezeichnet werden könnte, dienten, meine Liebhaberei anzufachen, ohne sie eben zu leiten. Das Kühnhingestrichene, Wildausgetuschte, Gewaltsame reizte mich, selbst das, was mit wenigen Zügen nur die Hieroglyphe einer Figur war, wußte ich zu lesen und schätzte es übermäßig; von solchen Blättern begann die kleine Sammlung, die ich als Jüngling anfing und als Mann fortsetzte.

Auf diese Weise blieb ich mit Vater, Schwager und Oheim beständig im Widerspruch, der sich um so mehr verlängerte und befestigte, als keiner die Art, sich mir oder mich ihm zu nähern, verstand.

Ob ich gleich, wie gesagt, nur meistens die geistreiche Hand schätzte, so konnte es doch nicht fehlen, daß nicht auch manches ausgeführte Stück in meine Sammlung gekommen wäre. Ich lernte, ohne es selbst recht gewahr zu werden, den glücklichen Übergang von einem geistreichen Entwurf zu einer geistreichen Ausführung schätzen; ich lernte das Bestimmte verehren, ob ich gleich immer daran die unerläßliche Forderung tat, daß der bestimmteste Strich zugleich auch empfunden sein sollte.

Hierzu trugen die eigenhändigen Radierungen verschiedner italienischer Meister, die meine Sammlung noch aufbewahrt, das ihrige treulich bei, und so war ich auf gutem Wege, auf welchem eine andere Neigung mich frühzeitig weiterbrachte.

Ordnung und Vollständigkeit waren die beiden Eigenschaften, die ich meiner kleinen Sammlung zu geben wünschte; ich las die Geschichte der Kunst, ich legte meine Blätter nach Schulen, Meistern und Jahren, ich machte Katalogen und muß zu meinem Lobe sagen, daß ich den Namen keines Meisters, die Lebensumstände keines braven Mannes kennenlernte, ohne mich nach irgendeiner seiner Arbeiten zu bemühen, um sein Verdienst nicht nur in Worten nachzusprechen, sondern es wirklich und anschaulich vor mir zu haben.[223]

So stand es um meine Sammlung, um meine Kenntnisse und ihre Richtung, als die Zeit herankam, die Akademie zu beziehen. Die Neigung zu meiner Wissenschaft, welches nun einmal die Medizin sein sollte, die Entfernung von allen Kunstwerken, die neuen Gegenstände, ein neues Leben drängten meine Liebhaberei in die Tiefe meines Herzens zurück, und ich fand nur Gelegenheit, mein Auge an dem Besten zu üben, was wir von Abbildungen anatomischer, physiologischer und naturhistorischer Gegenstände besitzen.

Noch vor dem Ende meiner akademischen Laufbahn sollte sich mir eine neue und für mein ganzes Leben entscheidende Aussicht eröffnen: ich fand Gelegenheit, Dresden zu sehen. Mit welchem Entzücken, ja mit welchem Taumel durchwandelte ich das Heiligtum der Galerie! Wie manche Ahnung ward zum Anschauen! wie manche Lücke meiner historischen Kenntnis ward nicht ausgefüllt! und wie erweiterte sich nicht mein Blick über das prächtige Stufengebäude der Kunst! Ein selbstgefälliger Rückblick auf die Familiensammlung, die einst mein werden sollte, war von den angenehmsten Empfindungen begleitet, und da ich nicht Künstler sein konnte, so wäre ich in Verzweiflung geraten, wenn ich nicht schon vor meiner Geburt zum Liebhaber und Sammler bestimmt gewesen wäre.

Was die übrigen Sammlungen auf mich gewirkt, was ich sonst noch getan, um in der Kenntnis nicht stehenzubleiben, und wie diese Liebhaberei neben allen meinen Beschäftigungen hergegangen und mich wie ein Schutzgeist begleitet, davon will ich Sie nicht unterhalten, genug, daß ich alle meine übrigen Fähigkeiten auf meine Wissenschaft, auf ihre Ausübung verwendete, daß meine Praxis fast meine ganze Tätigkeit verschlang und daß eine ganz heterogene Beschäftigung meine Liebe zur Kunst, meine Leidenschaft zu sammeln nur zu vermehren schien.

Das übrige werden Sie leicht, da Sie mich und meine Sammlung kennen, hinzusetzen.[224]

Als mein Vater starb und dieser Schatz nun zu meiner Disposition gelangte, war ich gebildet genug, um die Lücken, die ich fand, nicht als Sammler nur auszufüllen, weil es Lücken waren, sondern einigermaßen als Kenner, weil sie ausgefüllt zu werden verdienten. Und so glaube ich noch, daß ich nicht auf unrechtem Wege bin, indem ich meine Neigung mit der Meinung vieler wackern Männer, die ich kennenlernte, übereinstimmend finde. Ich bin nie in Italien gewesen, und doch habe ich meinen Geschmack, soviel es möglich war, ins Allgemeine auszubilden gesucht. Wie es damit steht, kann Ihnen nicht verborgen sein. Ich will nicht leugnen, daß ich vielleicht meine Neigung hie und da mehr hätte reinigen können und sollen. Doch wer möchte mit ganz gereinigten Neigungen leben.

Für diesmal und für immer genug von mir selbst. Möge sich mein ganzer Egoism innerhalb meiner Sammlung befriedigen! Mitteilung und Empfänglichkeit sei übrigens das Losungswort, das Ihnen von niemand lebhafter, mit mehr Neigung und Zutrauen zugerufen werden kann als von dem, der sich unterzeichnet

Ihren aufrichtig ergebnen.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe.Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 19, Berlin 1960 ff, S. 220-225.
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