Als er aus seinem Vaterlande gieng

[371] Im Jenner des 1724sten Jahres.


Mein Auge will sich noch vor Wehmuth überschwemmen,

Wenn der gestörte Sinn an jenen Tag gedenkt.

Ich kann nicht mehr den Strom verhaltner Klagen hemmen,

Weil ich den Fuß so schnell aus Königsberg gelenkt.

O Schrecken! welches mir die Geister eingenommen,

O Schrecken! das mir Mars durch seine Wuth erweckt:

Von dir ist der Entschluß von meiner Flucht gekommen,

Der andre fast noch mehr, als meine Brust, erschreckt.

Ich hörte hier und dar ein warnend Wort erschallen;

Ein jeder war bemüht und sehr besorgt um mich.

Man sprach: Ich würde bald in schlaue Hände fallen,

Ja mancher stellte sich fast allzu jämmerlich.

Bald ist ein kleiner Brief aus guter Hand erschienen,

Der als ein Donnerschlag, mein blödes Herz zerschellt.

Bald kam ein lieber Freund mit angsterfüllten Mienen,

Und sprach: Es würde mir betrüglich nachgestellt.

Bald drang ein falscher Ruff in die bestürzten Ohren:

Ich wäre wirklich schon Bellonen unterthan.[371]

Bald hat ein banger Mund den leeren Eid geschworen:

Man führe mich bereits zur vollen Uebungsbahn;

Man habe mich schon längst ins dicke Buch geschrieben,

Das Freygebohrne stracks zu Sclavenkindern macht.

So pflegte Freund und Feind mich stündlich zu betrüben;

So ward von jedermann an meinen Fall gedacht.

Zwar anfangs konnte mich kein Warnungsbothe schrecken:

Man sagte dieß und das: ich lachte nur dazu.

Kein Dräuwort konnte mir die mindste Furcht erwecken,

Ich dachte jederzeit: wer ist so frey, wie du?

Zuletzt besiegten mich die wohlgemeynten Worte,

Die mancher treue Mund mir in das Ohr gesetzt.

Ich traute mir nicht mehr an dem beliebten Orte,

Der meinen Geist bisher mit vieler Lust ergetzt.

Der unverhoffte Schluß ward plötzlich abgefasset,

Der Schluß, der eine Flucht aus Königsberg beschloß;

Der Schluß, bey welchem mir das Angesicht erblasset,

Als das betrübte Wort von meinen Lippen floß.

Ach! rief ich bey mir selbst, du grimmiges Geschicke!

Was treibt mich deine Hand so schleunig in die Flucht!

Verhängniß! ändre doch die zornerfüllten Blicke,

Dadurch dein Eifer nur mein größtes Unglück sucht.

Was drohet mir dein Arm mit den verwünschten Waffen?

Du weist ja, daß ich mich dem Musenchor geweiht.

Was hab ich mit dem Mars, dem Kriegesgott, zu schaffen?

Der mir dennoch so oft mit seiner Knechtschaft dräut.

Doch bald erholten sich die zagenden Gedanken,

Und sagten: ach vieleicht befördert dieß dein Glück!

Vieleicht führt dich der Herr in seiner Weisheit Schranken,

Durch den schon oftermals gespürten Vaterblick.

Also verkehrte sich die Furcht in ein Vertrauen:

Wiewohl ein neuer Schmerz bekränkte meinen Sinn.

Ich sollte manchen Freund zum letztenmale schauen,[372]

Dem ich verwandt, bekannt und lieb gewesen bin.

Ich sollte unverhofft der Gönner Haus verlieren,

Die meine Schwachheit oft durch ihre Huld gestützt.

Mein Schicksal wollte mich nach fremden Oertern führen,

Wo mich, so viel ich weis, kein gleicher Schild beschützt.

Ja, ja, ich fühle noch, wie dem beklemmten Herzen,

Bey manchem Letzungswort so schlecht zu Muthe war:

Sonst pflegte hier und da mein freyer Mund zu scherzen;

Doch damals stellte sich ein trübes Wesen dar.

Zwar wurde mehrentheils der herbe Schmerz verborgen,

Indem ich meinen Gram nicht völlig merken ließ:

Allein mein Herz empfand um desto mehr die Sorgen,

Womit der Abschied mich fast gar zu Boden stieß.

Doch seht! auch dieses ist nicht überall geschehen;

Die kurze Zeit verboth die letzte Höflichkeit.

Ich kriegte manchen Freund und Gönner nicht zu sehen,

Der mir vieleicht itzund mit seiner Ungunst dräut.

Ach Werthste! zürnet nicht. Ich habe nichts verbrochen!

Die abgedrungne Flucht hat mir den Gruß verwehrt.

Und hat euch euer Knecht gleich nicht zuletzt gesprochen:

So soll es doch geschehn, wenn er zurücke kehrt.

Indeß lebt alle wohl! und bleibet dem gewogen,

Der eure Namen stets in treuer Seelen hält.

Voritzo bin ich zwar aus Königsberg gezogen;

Doch wer aus Preußen zieht, der zieht nicht aus der Welt.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Band 1: Gedichte und Gedichtübertragungen, Berlin 1968/1970, S. 371-373.
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