An Herrn D. Carl Friedrich Lau, in Königsberg, nach Zurücklegung des großen Stuffenjahres

[3] 1723 den 15ten October.


I.f.N.


Des Aberglaubens Anker bricht,

Sein tiefbeschämtes Angesicht

Muß sich je mehr und mehr mit blöder Röthe färben.

Der aufgeklärte Geist der Welt,

Dem keine Thorheit mehr gefällt,

Wird nun nicht, wie vorhin, vor eitler Angst verderben.


Wie bebte vormals Stadt und Land,

Wenn eine freche Zauberhand

Sich murmelnd in den Kreis beschworner Zeichen zirkte?

Wenn Faust auf seinem Mantel fuhr,

Und zur Beschimpfung der Natur

Mehr Wunder in der Welt, als Mosis Stecken, wirkte.


Nun steht der kahle Blocksberg leer,

Der Hexen Körper ist zu schwer,

Kein Geist kan solche Last durch leichte Lüfte führen:[3]

Kein heißer Scheiterhaufen schmaucht,

Kein angeflammter Holzstoß raucht,

Es ist itzt keine Spur der Zauberey zu spüren.


Wie zitterte die Vorderwelt!

Wie? Sah man nicht den größten Held

Die nächtliche Gewalt der Poltergeister glauben?

Denn alles fiel, und nichts zerbrach,

Ein Wort, das man von spücken sprach,

War stark und kräftig gnug uns Herz und Muth zu rauben.


Kein Kind entsetzt sich mehr davor,

Es scheint, daß itzo unser Ohr

In diesem Absehn taub, das Auge blind geworden.

Gespenster sind uns unbekannt,

Die Poltergeister ausgebannt,

Drum wird Betrug und Angst itzt keinen Menschen morden.


Noch mehr! ein andrer Irrthum schwindt,

Der sich bey feigen Seelen findt,

Wenn sie in ihrer Zeit gewisse Stuffen zählen.

Man nennet es ein Stuffenjahr,

Und pflegt mit Krankheit und Gefahr

Mit schwerer Todesfurcht die bange Brust zu quälen.


Mein Lau! dein eigen Beyspiel weist,

Daß sich der oft betrogne Geist

Verirrter Sterblichen mit leeren Aengsten plaget.

Kein Stuffenjahr erschreckte dich,

Dein großer Geist erhöhte sich,

Wenn mancher blöde Sinn aus früher Furcht verzaget.


Beglücktes Haupt! das seine Zeit,

Nicht durch vergebne Traurigkeit,[4]

Mit selbst gemachter Angst und eigner Schuld verkürzet.

Gesetzter Muth! der seine Zahl

Nicht mindert, nicht durch Gram und Qual

Sich schleunig in den Schlund des offnen Grabes stürzet.


Dein theures Haus ist froh dabey

Und wird von allem Kummer frey,

Da heute wiederum dein Wiegenfest erschienen.

Auch deines Dieners treue Brust

Ergötzet sich bey solcher Lust,

Und will dich, großer Mann, durch diesen Wunsch bedienen.


Des Himmels Schild bedecke dich,

Dein hohes Alter mehre sich,

Bis deine Jahre ganz an deine Tugend reichen.

Gott segne deine Wanderschaft,

So wirst du voller Muth und Kraft

Dem Nestor, so an Zeit als seltner Klugheit gleichen.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Band 1: Gedichte und Gedichtübertragungen, Berlin 1968/1970, S. 3-5.
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