Oratorium, oder Bethstück

[283] An dem zum erstenmale eingefallenen Jubelfeste einer vorstädtischen Kirche zu Königsberg.


1723.


Tochter Zion.


Auf, ihr jauchzenden Gedanken!

Derer Gott geweihte Kraft

Mich fast aus mir selber rafft.

Alles Aechzen muß itzt schweigen,

Da sich Freudenstunden zeigen,

Die der Herr mir selber schafft.

Auf, ihr etc.


V.A.

Komm, frohes Christenvolk!

Der Höchste läßt dich ruffen.

Betritt itzt deines Tempels Stuffen,

Worinn er dich ein Jubelfest

Nach hundert Jahren feyren läßt.


Gemeine.


Psalm 118. v. 24.


Dieß ist der Tag, den der Herr gemachet hat. Laßt uns freuen und fröhlich drinnen seyn.


[283] Gottes Stimme.


Du höchstgeliebte Schaar!

So wird denn die Verheißung wahr,

Die ich dir längst gethan:

Dieß Haus soll meine Rechte schützen!

Des Höllenfeindes Blitzen

Soll dir nicht schädlich seyn:

Denn du bist mein.


Hier ist meine Ruhe ewiglich, hier will ich wohnen; denn es gefällt mir wohl.


Choral.


Meine Treu bleibt gegen dir, Zion, o du meine Zier! du hast mir das Herz besessen, deiner kann ich nicht vergessen.


Tochter Zion.


Nie empfundne Süßigkeit

Tränkt mich itzt mit vollen Schaalen.

Gott! ich kann dirs nicht bezahlen.

Deine Huld ist täglich neu.

Meiner Lippen Dankgeschrey

Preiset dich zu tausendmalen:

Denn ich schmeck itzt, auf das Leid,

Nie empfundne Süßigkeit.


Gottes Stimme.


Sag an, du kleine Heerde!

Hat dir bisher auch irgend was gefehlt?

Hat dich, nachdem ich dich erwählt,[284]

An deiner Seelenweide

Ein Hunger oder Durst gequält?

Hab ich dich nicht im Leide,

Mit Quellen süßes Trosts getränkt,

Und dieses Haus mit Sicherheit beschenkt?


Gemeine.


Dein' Schäflein thust du weiden wohl, im Busen du sie trägest. Den Arm hast du der Lämmer voll, des Schwachen treulich pflegest: niemand reißt dir eins aus der Hand, dein Blut hast du daran gewandt, uns theur erkauft zum Leben. Ja weil du uns gezeichnet hast, nicht zu schwer machst des Kreuzes Last, so sey dir all's ergeben.

Nur fahre, treuer Hort!

Hinführo ferner fort,

Uns deinen Gnadenschutz zu gönnen,

Daß wir dich ewig rühmen können.


Gottes Stimme.


Es. 54. v. 10.


Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.


Tochter Zion.


Mischet euch, rinnende Freudenkrystallen,

Mischet euch mit Lob und Dank.

Seufzer und Lachen

Müssen itzt ein Bündniß machen:[285]

Denn wir verknüpfen ein thränendes Lallen

Mit Seyten und Klang.

Mischet euch etc.


V.A.


Gemeine.


Doch Herr! wenn bringt uns deine Hand,

Aus diesem Weltgetümmel,

In deinen Freudenhimmel,

Ins rechte Vaterland?

Wenn schließt uns deine Stadt in ihre Mauren ein,

Wo alle Gassen Gold, die Thore Perlen seyn;

Wo keine Sonne scheint,

Wo niemand weint,

Wo außer dir, Herr Jesu Christ!

Kein Tempel ist?

Mich dünkt, mein fernes Ohr

Vernimmt von weitem schon ein Lied im höhern Chor.


Die Schaar der Seligen.


Choral.


Ach, Jerusalem, du Schöne! ach! wie helle glänzest du?

Ach! welch lieblich Lustgetöne hört man da in sanfter Ruh?

O der großen Freud und Wonne! Itzo geht uns auf die Sonne,

itzo gehet an den Tag, der kein Ende nehmen mag.


Göttliche Antwort.


Matth. 24. v. 13.


Wer bis ans Ende beharret, der wird selig werden.[286]


Choral.


Du bist mir stets vor den Augen, du liegst mir in meiner Schooß; wie die Kindlein, die noch saugen; meine Treu zu dir ist groß. Mich und dich soll keine Zeit, keine Noth, Gefahr und Leid, ja der Satan selbst nicht scheiden. Sey getreu in allen Leiden.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Band 1: Gedichte und Gedichtübertragungen, Berlin 1968/1970, S. 283-287.
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