Der Einleitung
I Abschnitt.
Von der Sprachkunst überhaupt.

[37] 1. §.


Eine Sprachkunst überhaupt ist eine gegründete Anweisung, wie man die Sprache eines gewissen Volkes, nach der besten Mundart desselben, und nach der Einstimmung seiner besten Schriftsteller, richtig und zierlich, sowohl reden, als schreiben solle1.[37]

2 §. Eine Mundart ist diejenige Art zu reden, die in einer gewissen Provinz eines Landes herrschet; in so weit sie von der Art zu reden der andern Provinzen abgeht, die einerley Hauptsprache mit ihr haben2.

3 §. Die beste Mundart eines Volkes ist insgemein diejenige, die an dem Hofe, oder in der Hauptstadt eines Landes gesprochen wird3. Hat aber ein Volk mehr als einen Hof, wie z.E. Wälschland, oder Deutschland: so ist die Sprache des größten Hofes, der in der Mitte des Landes liegt, für die beste Mundart zu halten. So ist in Griechenland vormals die atheniensische Mundart für die beste gehalten worden; weil Athen mitten unter allen denen Staaten lag, die in Asien und Europa griechisch redeten. In Italien wird gleichfalls die toscanische und römische für die beste gehalten.[38]

4 §. Eine jede Mundart hat in dem Munde der Ungelehrten, ihre gewissen Mängel; ja aus Nachläßigkeit und Übereilung im Reden, ist sie mit sich selbst nicht allemal einstimmig. Daher muß man auch den Gebrauch der besten Schriftsteller zu Hülfe nehmen, um die Regeln einer Sprache fest zu setzen: denn im Schreiben pflegt man sich viel mehr in Acht zu nehmen, als im Reden4.

5 §. Die besten Schriftsteller eines Volkes, werden durch den allgemeinen Ruhm, oder durch die Stimmen der klügsten Leser bekannt: doch müssen sie nicht in Ansehung der Sachen, sondern wegen der Schreibart und Sprache berühmt seyn. Es dörfen aber diese Scribenten nicht eben alle aus derselben Landschaft gebürtig seyn5. Denn durch Fleiß und Aufmerksamkeit kann man sich die Fehler seiner angebohrnen Mundart, und zwar im Schreiben, noch viel leichter, als im Reden, abgewöhnen.[39]

6 §. Wenn aber diese guten Scribenten dennoch in gewissen Stücken von einander abgehen: so muß die Analogie der Sprache den Ausschlag geben, wer von ihnen am besten geschrieben habe. Oft hat das besondere Vaterland eines Schriftstellers an seinen Abweichungen Schuld6. Oft haben auch die fremden Sprachen, die er am meisten getrieben hat, ihn auf gewisse Abwege geleitet; so daß er sich in seiner eigenen Muttersprache fremd und ausländisch ausdrücket7.[40]

7 §. Durch die Analogie versteht man in den Sprachlehren die Aehnlichkeit in den Ableitungen und Verwandelungen der Wörter; imgleichen in der Verkürzung, Verlängerung und Zusammensetzung, sowohl der Wörter, als der Redensarten. Da es nun in allen Sprachen eine solche Aehnlichkeit, oder Analogie giebt: so machet allemal die größte Anzahl übereinstimmender Exempel eine Regel aus; die davon abweichenden Redensarten aber geben die Ausnahmen an die Hand8. Denn noch bey keinem Volke hat man eine vollkommene Analogie im Reden beobachtet: ja vieleicht würde selbst eine ganz neuerdachte philosophische Sprache, nicht ohne alle Ausnahmen seyn können.[41]

8 §. Man sieht also, wie es zugeht, daß man die Sprache nach Regeln richten; und die Gewohnheit im Reden bisweilen der Sprachkunst entgegen setzen kann. Denn da die Regeln aus der Sprache selbst, nach den meisten Exempeln genommen und festgesetzet worden: so unterwirft man nicht die Sprache gewissen eigenmächtigen Gesetzen eines Sprachlehrers; sondern es werden nur wenige, von der Ähnlichkeit abweichende Redensarten, der Übereinstimmung der meisten Exempel unterworfen. Man setzet also auch nicht das Ansehen eines Sprachkundigen, der Gewohnheit; sondern eine allgemeinere Gewohnheit großer und vieler, oder doch besserer Landschaften, einer eingeschränktem, oder gewissen Misbräuchen entgegen9.

9 §. Doch, aus dieser Widerwärtigkeit der Gewohnheit im Reden, folget noch nicht, daß alle Redensarten durchaus auf eine Aehnlichkeit gebracht werden, und also alle Ausnahmen abgeschaffet werden müßten. Nein; die Sprachen sind älter, als die Regeln derselben: und diese müssen also nachgeben, wo eine durchgängige und allgemeine Gewohnheit[42] im Sprechen10 das Gegentheil eingeführet hat. Nur, wo der Gebrauch ungewiß, oder verschieden ist, da kann ein guter Sprachlehrer, durch die Aehnlichkeit der meisten Exempel, oder durch die daraus entstandenen Regeln, entscheiden, welcher Gebrauch dem andern vorzuziehen sey11.

10 §. Da die Sprachen sich von Zeit zu Zeit verändern, und unvermerkt gewisse Arten zu denken und zu reden aufkommen, auch endlich überhand nehmen, die vormals nicht gewöhnlich gewesen: so müssen sich auch die Sprachlehrer darnach richten, und solche Regeln machen, die der Mundart ihrer Zeiten gemäß sind12. Es ist also kein Wunder, daß die alten Sprachlehren von lebendigen Sprachen endlich unvollständig und unbrauchbar werden: wie wir an der klajischen und schottelischen bey uns deutlich wahrnehmen. Denn seit hundert Jahren hat sich das Deutsche ziemlich gebessert, oder doch wenigstens sehr verändert.[43]

11 §. Doch ist es einem Sprachlehrer sehr nöthig, neben der besten Mundart seiner Muttersprache, theils die abweichenden schlechtem Mundarten der übrigen Provinzen; theils auch die ältern Schriften der Sprachlehrer, und überhaupt die ältesten Bücher seines Vaterlandes zu kennen. Die mannichfaltigen Stuffen, die eine Landessprache allmählich bestiegen hat, geben ein großes Licht in den Ursachen der Regeln, und in denen Veränderungen, die sie erlitten haben13. Und selbst die verschiedenen Mundarten erläutern bisweilen einander, durch ihre Vergleichung: wie z.E. das Niederdeutsche sehr oft dem Hochdeutschen zu statten kömmt.

12 §. Da aus verschiedenen Mundarten vielmals ganz besondere Sprachen entstanden sind, die man, wegen ihrer noch merklichen Aehnlichkeit, Schwestern zu nennen pflegt: so[44] sieht man leicht, daß man sich bisweilen auch der verschwisterten Sprachen bedienen kann, um von gewissen Regeln Grund anzugeben. So erläutern zuweilen die wälsche und spanische Sprache das Französische; die engländische, holländische, dänische und schwedische Sprache aber das Hochdeutsche. Es ist also gut, wenn ein Sprachlehrer auch die mit seiner Sprache verwandten Schwestern, gewissermaßen kennet14.

13 §. Aus allen diesen Haupt- und Nebenquellen ist folgende deutsche Sprachlehre hergeflossen. Man hat sich dabey zwar hauptsächlich auf den heutigen Gebrauch der besten Mundart in Deutschland, und der beliebtesten Schriftsteller gegründet; aber auch die alten deutschen Bücher, und sonderlich die Sprachlehrer voriger Zeiten, oder ihre guten Anmerkungen über unsere Muttersprache, zu Nutze gemacht. Man hat sich endlich auch der benachbarten Völker Sprachen, und vieler deutschen Sprachlehren bedienet, die ihnen zu gut geschrieben worden15.[45]

14 §. Daraus erhellet also, daß man keines Menschen Arbeit in diesem Stücke zu verachten, zu widerlegen, oder zu verkleinern gesonnen ist. Meine Vorgänger haben alle viel Gutes an sich, und ich habe ihnen selbst das meiste von demjenigen zu danken, was in diesen Blättern stehen wird. Ich habe nur nach der einem jeden obliegenden Schuldigkeit, noch eines und das andere hinzugesetzet; was eine langwierige Beobachtung der besten Schriften unserer Zeiten, eine vielfältige Untersuchung und Prüfung guter und schlechter Mundarten, und endlich die Vergleichung so vieler kritischen Anmerkungen, die seit 30 Jahren über die Sprache gemacht worden, dem obigen beygefüget haben.

15 §. Weit gefehlet also, daß ich andern guten Schriftstellern ein neues Joch auflegen wollte: so will ich vielmehr nur jungen Leuten die Ursachen anzeigen, warum gute Schriftsteller voriger und unserer Zeiten so, und nicht anders, geschrieben haben, um sie dadurch in dieser guten Art mehr und mehr zu befestigen. Wenn man aus guten Gründen weis, wie man reden und schreiben soll: so läßt man sich, durch gegenseitige böse Exempel, so leicht nicht verführen. Die Sprache selbst wird dadurch fester; und die gute Mundart erhält sich, mitten in der Unbeständigkeit der Sprachen, desto länger16.[46]

16 §. Endlich werden auch die an den Gränzen von Deutschland liegenden Landschaften, deren gemeine Mundart von der guten hochdeutschen mehr oder weniger abweicht, in den meisten Fällen eine Anweisung finden: wie sie reden und schreiben müssen, wenn sie sich der besten Mundart, so viel ihnen möglich ist, nähern wollen17. Denn obgleich ein jedes Volk, zumal in Deutschland, Herr in seinem Lande ist; und also der besondern Mundart seines Hofes folgen könnte: so wird es doch niemand für rathsam halten, sich um etlicher Kleinigkeiten willen, mit Fleiß von dem übrigen Theile der Nation, zu trennen18; zumal, da schon die besten Schriftsteller in allen Landschaften, den Vorzug der wahren hochdeutschen Mundart eingesehen, und stillschweigend zugestanden haben.

Fußnoten

1 Eine Kunst ist zwar sonst eine Fertigkeit, etwas zu thun, oder zu machen: allein, wenn man sie einem andern beybringen soll; so besteht sie aus Regeln, darnach man sich in der Ausübung derselben richten muß. Wenn diese nun, in einem guten Zusammenhange, gründlich abgehandelt werden: so bekömmt ein solcher Vortrag auch den Namen einer Kunst: so wie man an der Dichtkunst und Redekunst die Beyspiele sieht. Die Sprachkunst ist von den ältesten Zeiten her unter die sieben freyen Künste gezahlet worden. Die Griechen nennen sie γραμματικην, die Lateiner LITTERATURAM, s. Quintil. II Buch 14 Cap. Beydes müßte man deutsch die Buchstäbeley, oder Buchstabenkunst geben: welches aber bey weitem den ganzen Begriff der Sache nicht so erschöpfet, als unsere deutsche Benennung. Die Rabinen nennen sie קודקיד Dickduck, d.i. SUBTILITAS. Jul. C. Scaliger in s. Tr. DE CAUSIS LAT. LINGUÆ, will die Grammatik zur Wissenschaft machen, aber fälschlich. S. den Gerh. Joh. Vossius DE ARTE GRAMMATICA L. 1. c. 2. p. 6. Sciopp hat diese Sprachkunst zu enge eingeschränket, wenn er in s. GRAMM. PHILOS. p. 1. saget: GRAMMATICA EST ARS RECTE LO QUENDI. Denn das rechte Schreiben ist noch viel schwerer, und folglich der wichtigste Theil einer Sprachkunst. Von der allgemeinen Sprachkunst hat Hr. Cantz zu Tübingen 1737 in 4 eine Abhandl. geschrieben: GRAMMATICÆ UNIVERSALIS TENUIA RUDIMENTA etc.


2 So waren vor Zeiten, in Griechenland vier Hauptmundarten gewöhnlich, die man Dialekte nennete: der attische, dorische, äolische und ionische. Der toscanische Dialekt ist heute zu Tage in Wälschland, vom neapolitanischen, lombardischen und venetianischen sehr unterschieden. Und so ist es in Frankreich mit dem parisischen, gasconischen, niederbrittanischen und provenzalischen ebenfalls. In Deutschland hat gleichfalls fast jede größere Landschaft ihre eigene Mundart: doch konnte man die hochdeutsche Sprache hauptsächlich in die österreichische, schwäbische, fränkische und meißnische abtheilen. Die plattdeutsche, oder eigentliche sächsische Sprache, theilet sich abermal in viele Mundarten, worunter die preußischbrandenburgische, braunschweigische, hollsteinische und westphälische leicht die ansehnlichsten seyn werden. Doch ist noch zu merken, daß man auch eine gewisse eklektische, oder ausgesuchte und auserlesene Art zu reden, die in keiner Provinz völlig im Schwange geht, die Mundart der Gelehrten, oder auch wohl der Höfe zu nennen pflegt. Diese hat jederzeit den rechten Kern einer Sprache ausgemachet. In Griechenland hieß sie der ATTICISMUS, in Rom URBANITAS. In Deutschland kann man sie das wahre Hochdeutsche nennen.


3 Man meynet hier aber nicht die Aussprache des Pöbels in diesen Residenzen, sondern der Vornehmem und Hofleute. Denn jene ist z.E. auch in Paris und London, nicht die beste. Ja in solchen großen Städten, als diese beyden sind, spricht man oft in einer Gegend derselben viel anders, als in der andern: und so geht es auch in deutschen Residenzen; wie selbst in Wien und Prag bemerket wird. Indessen kann es kommen, daß auch gewisse Städte außer den Residenzen, eine gute Mundart haben; wie man in Frankreich, die Stadt Orleans oder Blois deswegen rühmet. Doch müssen sie nicht gar zu weit vom Hofe liegen.


4 Dieses ist um desto gewisser: da alle Sprachen unter einer Menge eines rohen Volkes zuerst entstanden; oft durch Vermischungen fremder Sprachen verwirret, und durch allerley einschleichende Misbräuche, noch mehr verderbet worden. Sobald sich nun Gelehrte finden, die auch auf die Schreibart einigen Fleiß wenden; so fängt man an, die Sprachähnlichkeit besser zu beobachten, als der Pöbel zu thun pflegt: und die Sprache verliert also etwas von ihrer Rauhigkeit. Je mehr fleißige und sorgfältige Schriftsteller sich nun finden, desto richtiger wird die Sprache: und daher entsteht die Pflicht, sich auch nach dem Gebrauche der besten Schriftsteller zu richten. Diese sind nämlich, wie Ennius vom Cethegus sagete:


FLOS DELIBUTUS POPULI, SUADÆQUE MEDULLA.


5 Das lehren uns die Beyspiele der alten Griechen und Römer. Viele von den ersten waren Jonier, Karier, Lesbier, Lykier, Rhodiser, Kretenser, Thebaner, Sicilianer, ja Samosater und Halikarnassier: ungeachtet auch viele Athenienser sich hervorthaten. Bey den Lateinern war es nicht anders. Die wenigsten guten Schriftsteller waren gebohrne Römer; sondern Umbrier, Calabrier, Venusiner, Paduaner, Mantuaner, Veroneser, ja wohl gar Gallier, Spanier und Afrikaner. Man sehe davon des Hrn. M. Müllers gel. Werk von den classischen Schriftstellern der Lateiner. Mit den neuern Völkern ist es eben so. Nicht alle gute wälsche Scribenten sind gebohrne Toscaner; sondern nach Gelegenheit, Vicentiner, Neapolitaner, Venetianer, Ferrareser, Modeneser und Veroneser gewesen. Und bey den Franzosen sind fast alle ihre besten Schriftsteller aus der Normandie entsprossen: wie Malherbe, die Corneillen, St. Evremond, Benserade, Scudery, Sarrasin, und Hr. von Fontenelle sattsam zeigen. Eben das wird man auch in Deutschland bemerken, wenn man darauf Achtung geben will. War Opitz ein Schlesier, und Flemming ein Meißner, so war Dach ein Preuß, Rist ein Niedersachs, Besser ein Curländer, Canitz ein Brandenburger, Gundling ein Frank, u.s.w.


6 So wird bey uns ein schwäbischer, oder fränkischer Schriftsteller noch allemal etwas schwäbisches oder fränkisches; ein niedersächsischer noch allemal etwas niedersächsisches, und ein Schlesier oder Meißner wiederum sein eigenes Schiboleth behalten: woran ihn ein Kenner aller dieser Mundarten, auch wider seinen Willen, erkennen kann.


7 Das wiederfährt vielen heutigen Schriftstellern bey uns, die uns mit englischen und französischen Redensarten, auch wohl mit lateinischen und griechischen, die Sprache verderben. Jenes ist ein Fehler der Hofleute, dieses aber insgemein der Gelehrten, sonderlich der Schulmänner. Wie klingt es aber, wenn jene zuweilen sagen: der Mensch hat viel Welt, (IL A DU MONDE) d.i. er weis wohl zu leben; Er ist vom Handwerke, (IL EST DU METIER) d.i. er versteht die Sache gründlich; oder auch diese: lasset uns allen Stein bewegen, (OMNEM MOVEAMUS LAPIDEM)? Ja selbst unsere Bibel hat solche hebräische und griechische Ausdrückungen in großer Anzahl, die wir sonst niemals brauchen: als z.E. des Todes sterben; ich kenne des Menschen nicht; Vater unser; die Himmel, u.d.gl. Und wie verderbet uns jetzt das Engländische nicht die Sprache: z.E. Das, Heil dir! für Wohl dir; die Schöpfung, für die Welt u.d.m.


8 Unter den Griechen hat Plato zuerst einige grammatische Anmerkungen in seine Gespräche einfließen lassen; dem hernach Aristoteles in der Rhetorik und Poetik gefolget ist. Allein, es ist gleichwohl ein Wunder, daß keiner unter allen Griechen sich an eine ganze Sprachlehre gewaget hat. Unter den Römern soll Cäsar selbst DE ANALOGIA LAT. LINGUÆ geschrieben haben; worauf hernach mehr grammatische Schriften gefolget; aber freylich sehr spät, als das gute Latein schon vorbey war. Man hat noch den Festus, Nonius, Marcellus, Fabius, Fulgentius, den Corn. Fronto, Caper, den Varro, Terenz, Donat, Servius u.a.m. Bey uns haben wir schon seit 200 und mehr Jahren Versuche, und beynahe eben so lange ganze Sprachlehren gehabt: z.E. Val. Jckelsamers, 1537, in 8vo zu Nürnberg. Laurents Alberts, 1573, in 8vo zu Augspurg; Ölingers von 1574, zu Straßburg und Clajs von 1578. Um aber zu zeigen, wie die Analogie Regeln lehre, will ich ein Exempel geben. Ich bemerke, daß die Wörter, die in der fast vergangenen Zeit den Selbstlaut ändern, und kein te haben, in der völlig vergangenen ein en annehmen: z.E. ich gebe, ich gab, gegeben; ich gehe, ich gieng, gegangen; ich sehe, ich sah, gesehen, u.s.w. Folglich schließe ich obige Regel aus der Übereinstimmung der Exempel; und dieselbe verdammet alsdann die unrichtige Gewohnheit derer, die da sagen, ich bin gewest. Denn von ich bin, ich war, muß folgen, ich bin gewesen.


9 Ja selbst in einer und derselben Landschaft reden nicht alle Leute nach einerley Art und Gewohnheit. Z.E. hier in Meißen sprechen viele, ich bin Willens; so wie man spricht, ich bin der Meynung, des Sinnes, des Vorhabens u.d.gl. Das alles ist nun analogisch gesprochen. Andere aber sagen: ich habs in Willens; allein so hat diese Redensart nirgends ihres gleichen. Sie ist also falsch: zumal, da das Wörtchen in niemals die zweyte Endung zu haben pflegt. Noch eins. Viele sagen ganz richtig, in währender Zeit; so wie man saget in langer, kurzer, verflossener, künftiger Zeit. Das ist nun analogisch. Andere aber sagen und schreiben, während der Zeit: das ist fehlerhaft; denn niemand saget; daurend der Zeit, u.d.gl.


10 Allgemein heißt hier, in Ansehung der Provinzen und Mundarten. Z.E. von ich lebe, bebe, kömmt ich lebete, bebete, und also sollte von gebe, hebe, nach der Analogie, ich gebete, hebete, kommen. Allein, alle deutsche Landschaften sagen, ich gab, ich hub. Dieses kann also kein Sprachlehrer durch seine Regeln abschaffen.


11 Z.E. von, ich schlage, kömmt ich schlug; wie von tragen, ich trug. Hier kommen nun die Niedersachsen, und machen auch von fragen, jagen, ich frug, ich jug. Allein, daß dieses weder der Analogie, noch der allgemeinen Übereinstimmung gemäß sey, zeigen die Oberdeutschen, die da sprechen, ich fragete, jagete; so wie man auch von klagen, sagen, ich klagete, ich sagete spricht. Da nun dieses der Analogie gemäßer ist, und der durchgängige Gebrauch der Oberdeutschen mehr Ansehen und Gültigkeit hat, als der Plattdeutschen: so bleibt fragete, jagete recht; frug und jug aber ist falsch.


12 Nur muß man nicht einzelner Grillenfänger ihre Neuerungen annehmen. So hat man z.E. der Zesianer ihre Seltsamkeiten nicht gebilliget. Ein Sprachlehrer muß sich nämlich sehr hüten, daß er nichts zu einer Regel mache, was noch nicht von so vielen und den besten Schriftstellern gebilliget, und angenommen ist. Z.E. Da es nur wenige Feinde vom h und y in Deutschland giebt, die noch dazu mit ihrer Schreiberey keinen Beyfall finden, sondern vielmehr Ekel er wecken: so muß ein Sprachlehrer dieses nicht billigen. Eben so ist es mit den kleinen Buchstaben bey den Hauptwörtern im Deutschen; imgleichen mit Abschaffung der doppelten Mitlauter, oder des c in lateinischen Wörtern. Hier heißt es billig: Eine Schwalbe machet keinen Sommer.


13 Z.E. das Wort Quittung verstehen die meisten nicht, und denken wohl gar, es komme aus dem Französischen QUITTER: da es doch altes Deutsch ist. Denn im gothischen Evangelio Math. V. im 32 V. und fast unzählige mal, steht, IK QUITA IZWIS, d.i. ich sage euch. Und im VI Cap. der Tatianischen Harmonie, im 2 V. heißt es: INTI QUAD IN THER ENGIL, d.i. und der Engel sprach zu ihnen. Ja endlich singen wir noch im güldenen Abc: Quat nicht zu viel, d.i. sprich, oder rede nicht zu viel. So heißt den quiten, quitiren eigentlich sagen, sprechen, oder auf eine feyerliche Art aussagen, bejahen, bekennen, daß etwas so sey, oder daß man etwas empfangen habe. Eben so wissen viele nicht, daß freyen, ein Freyer, mit Freund, eines Stammes sind. Allein, beyde kommen aus dem gothischen Worte frijan, lieben, Matth. V, v. 46; daher auch die Göttinn Freya, die Liebesgöttinn, und Freytag, DIES VENERIS, kömmt. So heißt denn ein Freyer, ein Liebhaber: und Frijond ein Freund, v. 47, ist gleichfalls einer, der uns liebet.


14 In alten gedruckten Büchern findet man oft das Wort bey in der Bedeutung gebraucht, daß es durch heißt: Z.E. Im Theuerdank steht: Dem gab Gott bey dem Gemahel sein, Eine einige Tochter hübsch und fein. Dieses zu verstehen, hilft einem das Englische, wo BY ebenfalls, durch, heißt. So kömmt das Wort der letzte, von dem alten Worte LATE, spät, welches die Engländer, als Angelsachsen, noch behalten haben; wovon die höchste Staffel THE LATEST, der späteste, oder letzte gebildet wird. Wir schreiben Volk, mit einem V, die Schweden aber Folk, mit einem F; die Isländer auch. In alten Handschriften, steht Folg: dieses zeiget, daß es von folgen kömmt, und also gleichsam das Gefolg bedeutet, u.a.m.


15 Weit gefehlt also, daß ich, nach dem Rathe eines gewissen gelehrten Mannes, der an einem ansehnlichen Gymnasio DIRECTOR ist, noch herzhafter zu Werke gehen sollte; um manches zu verwerfen und einzuführen, das wider allen bisherigen Gebrauch, und wider unsere alten Sprachlehrer streitet: so habe ich mich vielmehr in den Schranken der Bescheidenheit zu erhalten gesuchet. Wer sich ein solches Ansehen zutrauet, daß er das unterste zu oberst kehren könne, und fest glaubet, daß ihm ganz Deutschland darinnen folgen werde, der versuche immerhin sein Heil! Ich bin so keck nicht, wider den Strom zu schwimmen: ich glaube auch nicht, daß die Gewalt eines Sprachlehrers so weit gehe, alles, was in einer Landessprache einigermaßen unrichtig ist, abzuschaffen. Seneca saget ganz wohlbedächtig EP. 95, GRAMMATICI CUSTODES LATINI SERMONIS; nicht AUCTORES, oder DICTATORES. Alle Sprachen haben ihre Anomalien; die griechische und lateinische nicht ausgenommen. Wie will man es denn fordern, daß die deutsche von allen Unrichtigkeiten frey seyn soll? Ich bin schon zufrieden, wenn ich sie nur nicht vermehret, und viele der ungeschicktesten abgeschaffet habe.


16 Ein neuer Sprachlehrer hat hier sehr spöttisch über mich triumphiret, daß ich mir eingebildet: die Sprache würde nun so bleiben, wie ich sie in Regeln gebracht. Allein, das habe ich weder geglaubet, noch gesaget.


UT SILVÆ FOLIIS PRONOS MUTANTUR IN ANNOS;

PRIMA CADUNT: ITA VERBORUM VETUS INTERIT ÆTAS,

ET JUVENUM RITU FLORENT MODO NATA, VIGENTQUE.

DEBEMUR MORTI NOS, NOSTRAQUE. – – –

– – – MORTALIA FACTA PERIBUNT:

NEDUM SERMONUM STET HONOS, ET GRATIA VIVAX.


Hor.


Alles, was ich glaube, ist dieses: daß eine Sprache, die grammatisch gelernet und gelehret wird, beständiger und fester bleibe; als die dem unbeständigen Munde des Pöbels, und den Ausschweifungen wilder Schriftsteller überlassen wird.


17 Ich habe bereits das Vergnügen gehabt, zu bemerken, daß viele in den mittäglichen Landschaften Deutschlandes, sich meiner Sprachlehre zu dem Ende bedienet haben. Da sie solches ohne ein Reichsgesetz, aus eigenem freyen Willen, gethan haben: so zeiget mir dieses einigermaßen, daß ich die Vorzüge dieser reinen hochdeutschen Mundart recht ins Licht gesetzet, und ihre Regeln so deutlich gefasset haben müsse, daß sie von sich selbst in die Augen leuchten. Und hat gleich ein P. Dornblüth dawider auf eine heftige Art gepoltert: so hat er doch bey seinen eigenen Landesleuten keinen Beyfall, sondern Gegner gefunden. Es ist auch desto mehr zu hoffen, daß selbige allmählich in den Landschaften längst der Donau, und längst dem Rheine herunter, mehr und mehr in Aufnahme kommen werde: je mehr sie bereits in der kaiserlichen Residenz selbst, auf allerhöchste Genehmhaltung und ausdrücklichen Befehl, bey der vornehmsten adelichen Jugend eingeführet worden.


18 Diejenigen Sonderlinge aber, die sich mit einigen willkührlichen Grübeleyen, und Seltsamkeiten, sowohl in der Rechtschreibung, als Wortfügung, von dem großen Haufen guter Schriftsteller trennen, werden schwerlich das Vergnügen erleben, zu sehen, daß ihre Einfälle Beyfall, und Anhänger finden. Es ist wahr, sie haben Macht, zu schreiben, wie sie wollen: aber jeder Leser hat auch das Recht, sie auszulachen, und für eigensinnige Grillenfänger und Pedanten zu erklären. Auf diese Gefahr können sie alles wagen![47]


Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 8, Berlin und New York 1968–1987, S. 37-49.
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