Das X. Capitel.
Von Tragödien oder Trauerspielen.

[308] 1. §.


Wie vorzeiten die ganze Poesie mit der Musik vereinbaret gewesen: also hat auch die Tragödie ihren Ursprung aus gewissen Liedern, die dem Bacchus zu Ehren gesungen worden. Es traten an Festtagen etliche Sänger zusammen, die ein ganzes Chor ausmachten, diese spielten, tanzten und sungen nach Art der heidnischen Religion, dem Weingotte dadurch seinen Gottesdienst zu leisten. Wie sie aber gemeiniglich, sowohl als die Zuhörer, ein Räuschchen hatten: also waren auch ihre Lieder so ernsthaft nicht; sondern es liefen allerley Possen mit unter. Jemehr man sich in solchen Gesängen übte, je weiter brachte mans darinn: und desto lieber hörte man auch solchen Sängern zu. Daher kam es nun, daß sich ihre Zahl vermehrte; und daß es eine Bande der andern zuvor zu thun suchte. Sie giengen wohl gar einen Wettstreit darüber ein, und der Preis war nach der alten Art schon groß genug, wenn man dem besten Sänger einen Bock zum Gewinnste zuerkannte. Ein Bock heißt auf griechisch Τράγος, und ein Lied ὠδή; daher kömmt das Wort Tragödie, ein Bocklied, wie solches theils Aristoteles in seiner Poetik, theils Horaz in seiner Dichtkunst bezeuget, wenn er den Thespis so beschreibt:


CARMINE QUI TRAGICO VILEM CERTAUIT OB HIRCUM.


2. §. Man ward aber des beständigen Singens mit der Zeit überdrüßig, und sehnte sich nach einer Veränderung. Thespis,[309] der mit seinen Sängern in Griechenland von einem Orte zum andern herumzog, erdachte etwas neues, als er die Lieder in Theile absonderte, und zwischen zweyen und zweyen allemal eine Person auftreten ließ, die etwas ungesungen erzählen mußte. Mehrerer Bequemlichkeit halber machte er seinen Wagen zur Schaubühne; indem er Bretter darüber legte, und seine Leute droben singen und spielen ließ, damit sie desto besser zu sehen und zu hören seyn möchten. Damit man aber dieselben nicht erkennen könnte; so salbte er ihnen die Gesichter mit Hefen, welche ihnen anstatt der Larven dienen mußten. Um dieser Veränderung halber wird Thespis für den Erfinder der Tragödie gehalten. Allein das war in der That nur noch ein schlechter Anfang dazu. Aeschylus nämlich, ein neuerer Poet, sah wohl, daß auch die Erzählungen einzelner Personen, die man zwischen die Lieder einschaltete, noch nicht so angenehm wären; als wenn ein paar Personen mit einander sprächen, darinn sich mehr Mannigfaltigkeit und Veränderung würde anbringen lassen: und da ihm solches nach Wunsche ausschlug; so dachte er auch auf mehrere Zierrathe seiner Tragödien. Er erfand die Larven, gab seinen Leuten ehrbare Kleidungen, und bauete sich eine bessere Schaubühne: ja, welches das merkwürdigste war, so machte Aeschylus, daß die Gespräche seiner auftretenden Personen mit einander zusammen hingen. Kurz, er erfand zuerst die Idee der Hauptperson in einem solchen Spiele, welches vorher nur ein verwirrtes Wesen ohne Verknüpfung und Ordnung gewesen war. Das bezeugt abermal Aristoteles in seinem IV. Capitel, und Horaz in folgenden Worten:


IGNOTUM TRAGICAE GENUS INUENISSE CAMOENAE

DICITUR, ET PLAUSTRIS VEXISSE POEMATA THESPIS:

QUAE CANERENT AGERENTQUE PERUNCTI FAECIBUS ORA.

POST HUNC PERSONAE ET PALLAE REPERTOR HONESTAE

AESCHYLUS, ET MODICIS INSTRAUIT PULPITA TIGNIS,

ET DOCUTT MAGNUMQUE LOQUI, NITIQUE COTHURNO.[310]


3. §. Dieser letzte Vers zeigt noch an, daß man auch um diese Zeit die hohe Schreibart in die Tragödie eingeführet habe: denn vorher war ihr Vortrag voller Zoten und gemeinen Possen gewesen; so, wie auch ihr Inhalt ganz satirisch war. Die Poeten hatten sich hierinn nach den Zuschauern gerichtet, die in ihrer ersten Grobheit an etwas ernsthaftem noch keinen Geschmack finden konnten; sondern nur allezeit lachen wollten. Allmählig aber fanden sich auch verständigere Zuschauer, die an den gewöhnlichen Fratzen ein Misfallen hatten, und lieber etwas kluges sehen wollten. In dieser Verfassung nun erhielt Euripides die Schaubühne, Sophokles aber brachte sie noch zu größerer Vollkommenheit. Er stellte anstatt der vorigen zwo Personen, nach Gelegenheit, auch wohl drey zugleich auf, die mit einander sprechen mußten, und erfand noch bessere Verzierungen für die Bühne; dadurch die Augen der Leute mehr gefüllet wurden. Ja, er richtete auch die Lieder des Chores, die allezeit zwischen jeder Handlung gesungen wurden, so ein, daß sie sich mit zu der Tragödie schicken mußten: da sie vorher von ganz andern, mehrentheils lustigen Materien zu handeln pflegten. Vor Alters hatte man die vierfüßigen jambischen Verse, die sehr bequem zum Singen waren, und so zu reden recht zum Sprunge giengen, gebraucht; nachmals aber wurden die sechsfüßigen jambischen eingeführt: eben so, wie es bey uns Deutschen gegangen, wo man vor Opitzen lauter vierfüßige Verse zu Comödien gebraucht hat, wie aus Hans Sachsen und andern zu ersehen ist.

4. §. Aus dem allen erhellet nun wohl zur Gnüge, daß die Tragödie in ihrem Ursprunge ganz was anders gewesen ist, als was sie hernach geworden. Aus den abgeschmacktesten Liedern besoffener Bauern, ist das ernsthafteste und beweglichste Stücke entstanden, welches die ganze Poesie aufzuweisen hat. Was vorhin ein Nebenwerk war, und von den Griechen Episodium genennet wurde, nämlich die eingeschalteten Erzählungen und Gespräche, zwischen den Liedern; das ist hernach das Hauptwerk geworden. Das vorige satirische Scherzen[311] hat sich in ein recht prächtiges und lehrreiches Wesen verwandelt; so, daß sich die ansehnlichsten Leute nicht mehr schämen dorften, Zuschauer solcher Schauspiele abzugeben. Die Athenienser wurden auch dergestalt darauf erpicht, daß sie sich fast eine Schuldigkeit daraus machten, die Tragödien zu besuchen. Ja, weil sich die Poeten in allen Stücken der Religion bequemeten, und die vortrefflichsten Sittenlehren und Tugendsprüche darinn häufig einstreueten: so wurde diese Art von Schauspielen eine Art des Gottesdienstes; die auch in der That für das Volk viel erbaulicher war, als alle die Opfer und übrigen Ceremonien des Heidenthums. Dazu trug nun hauptsächlich der Chor viel bey, der allezeit in seinen Liedern solche moralische Betrachtungen, Gebethe und Lobgesänge anstimmete, die sich zu der unmittelbar vorhergehenden Handlung schicketen. Diese lernte man damals gar auswendig, und pflegte sie im gemeinen Leben als Lehrsätze und Denksprüche bey Gelegenheit anzubringen; so, wie wir itzo die Schrift, und unsre geistliche Lieder anzuziehen pflegen.

5. §. Bey den Griechen war also, selbst dem Urtheile des Aristoteles, die Tragödie zu ihrer Vollkommenheit gebracht; und konnte in diesem ihrem Zustande gar wohl ein Trauerspiel heißen: weil sie zu ihrer Absicht hatte, durch die Unglücksfälle der Großen, Traurigkeit, Schrecken, Mitleiden und Bewunderung bey den Zuschauern zu erwecken. Aristoteles beschreibt sie derowegen, als eine Nachahmung einer Handlung, dadurch sich eine vornehme Person harte und unvermuthete Unglücksfälle zuzieht. Der Poet will also durch die Fabeln Wahrheiten lehren, und die Zuschauer, durch den Anblick solcher schweren Fälle der Großen dieser Welt, zu ihren eigenen Trübsalen vorbereiten. Z.E. Oedipus, eins der berühmtesten Trauerspiele des Sophokles, stellt das klägliche Ende vor, welches dieser thebanische König um seiner abscheulichen Thaten halber, genommen; wiewohl er fast ohne seine Schuld darein gefallen war. Und das will eben Aristoteles haben, wenn er sagt, die Helden einer Tragödie müßten weder recht schlimm, noch[312] recht gut seyn: nicht recht schlimm, weil man sonst mit ihrem Unglücke kein Mitleiden haben, sondern sich darüber freuen würde; aber auch nicht recht gut, weil man sonst die Vorsehung leicht einer Ungerechtigkeit beschuldigen könnte, wenn sie unschuldige Leute so hart gestrafet hätte. So war nun Oedipus beschaffen. Als ihm das Orakel in seiner Jugend antwortete: Er würde seinen Vater erschlagen, und mit seiner Mutter Blutschande treiben: so hatte er einen solchen Abscheu vor diesen Lastern, daß er Corinth verließ, wo er als königlicher Prinz erzogen war, und sich also der Krone begab, die er zu hoffen hatte; bloß weil er den Mord an seinem Vater, und die Unzucht mit seiner Mutter zu begehen, fürchtete. Da er aber in Griechenland als ein Flüchtiger, herum schweifete, und ihm in einem schmalen Wege sein rechter Vater, Lajus, begegnete, der ihn in seiner Kindheit zu tödten befohlen hatte, und nicht wußte, daß es sein Sohn wäre; gleichwie er es nicht wissen konnte, daß Lajus sein Vater wäre: so griff er allein, den König nebst seinen Leuten an, und ermordete dieselben, bis auf einen, der ihm entlief.

6. §. Hier ist nun Oedipus zwar strafbar, daß er so hitzig, gewaltsam und eigensinnig gewesen: gleich wohl ist es seine Meynung nicht, einen Vatermord zu begehen; als welchen zu vermeiden, er seine vermeynte Vaterstadt verlassen hatte. Als er nachmals die Jokasta heyrathet, ja etliche Kinder mit ihr zeuget; ist er abermals mehr unglücklich als lasterhaft: weil er es nicht weis, daß es seine Mutter ist, auch nach seinen Umständen es nicht wissen kann; bis es nach etlichen Jahren, und zwar in eben dieser Tragödie, wunderlich ans Licht kömmt. Wer hier sagen wollte, daß Oedipus ganz unschuldig oder ganz schuldig wäre, der würde in beydem irren. Er ist so, wie die Menschen insgemein zu seyn pflegen, das ist, von mittlerer Gattung; er hat gewisse Tugenden, auch gewisse Laster an sich: und doch stürzen ihn bloß die letzten ins Unglück. Denn hätte er nur niemanden erschlagen, so wäre alles übrige nicht erfolget. Er hätte sich aber billig vor allen Todtschlägen hüten[313] sollen: nachdem ihm das Orakel eine so deutliche Weissagung gegeben hatte. Denn er sollte billig allezeit gedacht haben: Wie? wenn dieß etwa mein Vater wäre! Da er nun also beschaffen ist; so wird dadurch die Tragödie den allermeisten Zuschauern erbaulich: weil nämlich die meisten von eben der Art sind, als er; das ist, weder recht gut, noch recht böse. Man hat einestheils Mitleiden mit ihm: anderntheils aber bewundert man die göttliche Rache, die gar kein Laster ungestraft läßt.

7. §. Nach diesem allgemeinen Vorschmacke von der Tragödie wollen wir sie noch etwas genauer betrachten. Aeußerlichem Ansehen nach, konnte sie bey den Alten in zweyerley Stücke eingetheilet werden: nämlich in das, was von dem Chore gesungen, und in das, was nur schlechtweg gesprochen wurde. Der musikalische Theil bestund aus Oden, und die Sänger derselben hießen alle zusammen der Chor. Dieser bestund nach Beschaffenheit der Umstände, bald aus einer guten Anzahl von Weibern oder Männern, welche die Bürger einer Stadt vorstelleten; bald aus einer Schaar von Priestern und Aeltesten des Volks; bald aus einer Menge von Jungfrauen; bald aus einem Schwarme höllischer Furien, u. s w. Diese Leute nun fanden sich gleich in der ersten Handlung auf der Schaubühne ein, und behielten ihren Platz bis ans Ende des ganzen Spieles. Sie vertraten daselbst die Stelle der Zuschauer, die bey der Handlung, die man spielete, zugegen gewesen seyn konnten, als sie wirklich geschehen war. Denn das muß man wissen, daß die wichtigsten Handlungen der alten griechischen und morgenländischen Fürsten nicht zwischen vier Wänden, sondern öffentlich, vor ihren Pallästen, oder auf den Märkten ihrer Städte vorgiengen. Da war nun allezeit eine Menge von Zuschauern zugegen, die an dem Thun und Lassen ihrer Könige Theil nahmen; auch wohl nach Gelegenheit ihre Meynung davon sagten, gute Anschläge gaben, oder sonst ihre Betrachtungen drüber anstelleten. Da nun die Poeten die ganze Natur solcher öffentlichen Handlungen vorstellen wollten und[314] sollten; so mußten sie auch Zuschauer derselben auf die Bühne bringen: und das war denn der Chor.

8. §. Man muß aber wissen, daß dieser Chor nicht nur zum Singen, sondern auch sonst, als eine spielende Person, mit gebraucht worden. Denn der Coryphäus oder Führer desselben, redete im Namen aller übrigen, so gut als eine andere Person, darzwischen. Das heißt beym Horaz:


ACTORIS PARTES CHORUS, OFFICIUMQUE VIRILE

DEFENDAT; NEU QUID MEDIOS INTERCINAT ACTUS,

QUOD NON PROPOSITO CONDUCAT & HAEREAT APTE ETC.


Doch war freylich wohl das Singen die vornehmste Pflicht des Chores, welches zu vier verschiedenen malen, nämlich zwischen allen fünf Aufzügen geschah. Denn im Anfange und am Ende der Tragödie sang er nicht; sondern es traten sogleich die spielenden Personen hervor, machten auch mit ihrer Handlung den Beschluß: wo nicht irgend der Chor, doch ohne Gesang, das letzte Wort behielt; indem er eine erbauliche Betrachtung, oder Nutzanwendung über das ganze Schauspiel, in wenigen Worten beyfügte. Alles nun, was zwischen dem ersten und letzten Liede gespielt und gesungen wurde, das nennte man ein Episodium; was vor dem Singen vorhergieng, den Eingang oder die Vorrede; und was darauf zuletzt folgte, den Ausgang oder Beschluß. Siehe Arist. Poet. im 12. Cap. so daß auf diese Art eine Tragödie in drey sehr ungleiche Theile unterschieden wurde.

9. §. Was den andern Theil der Tragödie, der nicht gesungen ward, anlanget, so bestund derselbe aus den Unterredungen der auftretenden Personen, die eine gewisse Fabel vorstelleten. Ungeachtet nun diese Fabel nur eine einzige Haupthandlung haben muß, wenn sie gut seyn soll: so theilte man doch der Abwechselung halber, dieselbe in fünf Theile ein, die man ACTUS, Thaten, oder noch besser, Aufzüge nennte:[315]


NEUE MINOR QUINTO, NEU SIT PRODUCTIOR ACTU

FABULA, QUAE VULT SPECTARI & SPECTATA REPONI.


sagt Horatius. Die Ursache dieser fünffachen Eintheilung ist wohl freylich willkührlich gewesen: indessen ist diese Zahl sehr bequem, damit dem Zuschauer nicht die Zeit gar zu lang werde. Denn wenn jeder Aufzug ohngefähr eine viertel Stunde daurete, so dann aber der Chor sein Lied darzwischen sang: so konnte das Spiel nicht viel länger als zwo Stunden dauren; welches eben die rechte Zeit ist, die sich ohne Ueberdruß einem Schauspiele widmen läßt. Es waren aber diese fünf Aufzüge untereinander eben durch den Chor der Sänger verbunden; und also wurde die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die gespielte Fabel nie ganz unterbrochen: so wie es bey uns durch die Musikanten geschieht, die allerley lustige Stücke darzwischen spielen; oder auch wohl gar durch Tänzer, die sich zwischen den Aufzügen sehen lassen. Dieser Zusammenhang des ganzen Stückes that sehr viel dazu, daß die ganze Tragödie einen starken Eindruck in die Gemüther machte: und Racine hat auch in neuern Zeiten etliche Stücke nämlich Athalia und Esther von der Art, auf die Bühne gebracht, die nicht wenig Beyfall deswegen erhalten haben. Ich wundre mich nur, daß man dieses nicht durchgehends wieder aufgebracht hat.

10. §. Von diesen äußerlichen Stücken einer Tragödie, die auch einem Ungelehrten in die Augen fallen, komme ich auf die innere Einrichtung derselben, die nur ein Kunstverständiger wahrnimmt. Hier bemerkt man nun, daß das Trauerspiel einige Stücke mit dem Heldengedichte gemein hat; in andern aber von ihm unterschieden ist. Es hat mit ihm gemein die Fabel, die Handlung, die Charactere, und die Schreibart, oder den Ausdruck. Es ist aber von demselben unterschieden in der Größe der Fabel, oder in ihrer Dauer; in der Beschaffenheit des Ortes, wo sie vorgehen muß; und in der Art des Vortrages, welche hier ganz dramatisch ist, da dort die Erzählung herrschet. Hierzu kömmt noch, daß in der Tragödie die Gemüthsbewegungen[316] weit lebhafter und stärker vorgestellet werden; daß man die Musik dabey brauchet, und daß man einer Schaubühne nöthig hat, die auf verschiedene Art verzieret werden muß. Von allen diesen Stücken ins besondre muß kürzlich gehandelt werden.

11. §. Wie eine gute tragische Fabel gemacht werden müsse, daß ist schon im vierten Capitel des ersten Theils einiger maßen gewiesen worden. Der Poet wählet sich einen moralischen Lehrsatz, den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will. Dazu ersinnt er sich eine allgemeine Fabel, daraus die Wahrheit eines Satzes erhellet. Hiernächst sucht er in der Historie solche berühmte Leute, denen etwas ähnliches begegnet ist: und von diesen entlehnet er die Namen, für die Personen seiner Fabel, um derselben also ein Ansehen zu geben. Er erdenket sodann alle Umstände dazu, um die Hauptfabel recht wahrscheinlich zu machen, und das werden die Zwischenfabeln, oder Episodia nach neuer Art, genannt. Dieses theilt er dann in fünf Stücke ein, die ohngefähr gleich groß sind, und ordnet sie so, daß natürlicher Weise das letztere aus dem vorhergehenden fließet; bekümmert sich aber weiter nicht, ob alles in der Historie wirklich so vorgegangen, oder ob alle Nebenpersonen wirklich so, und nicht anders geheißen haben. Zum Exempel kann die oberwähnte Tragödie des Sophokles, oder auch mein Cato dienen. Der Poet wollte dort zeigen, daß Gott auch die Laster, die unwissend begangen werden, nicht ungestraft lasse. Hierzu ersinnt er nun eine allgemeine Fabel, die etwa so lautet:

12. §. Es war einmal ein Prinz, wird es heißen, der sehr viel gute Eigenschaften an sich hatte, aber dabey verwegen, argwöhnisch und neugierig war. Dieser hatte einmal, vor dem Antritte seiner Regierung, auf freyem Felde einen Mord begangen; ohne zu wissen, daß er seinen eigenen Vater erschlagen hätte. Durch seinen Verstand bringet er sich in einem fremden Lande in solches Ansehen; daß er zum Könige gemacht wird, und die verwittibte Königinn heirathet; ohne zu wissen, daß[317] selbige seine eigene Mutter ist. Aber dieses alles geht ihm nicht für genossen aus. Seine Laster kommen ans licht, und es treffen ihn alle die Flüche, die er selbst auf den Mörder seines Vorfahren im Regimente, ausgestoßen hatte. Er beraubet sich selbst des Reichs, und geht ins Elend; nachdem er sich selbst aus Verzweifelung der Augen beraubet hatte. Zu dieser allgemeinen Fabel nun findet Sophokles in den alten thebanischen Geschichten, den Oedipus geschickt. Er ist ein solcher Prinz, als die Fabel erfordert: er hat unwissend einen Vatermord und eine Blutschande begangen: er ist dadurch auf eine Zeitlang glücklich geworden; allein, die Strafe bleibt nicht aus; sondern er muß endlich alle Wirkungen seiner unerhörten Laster empfinden.

13. §. Diese Fabel ist nun geschickt, Schrecken und Mitleiden zu erwecken, und also die Gemüthsbewegungen der Zuschauer auf eine der Tugend gemäße Weise zu erregen. Durch seine guten Eigenschaften erwirbt sich Oedipus die Liebe der Zuschauer; und da er seine Laster unwissend, ja wider Willen begeht, so beklagt man ihn deswegen. Da er aber gleichwohl sehr unglücklich wird, so bedauret man ihn um destomehr; ja man erstaunet über die strenge Gerechtigkeit der Götter, die nichts ungestraft lassen. Man sieht auch, daß der Chor in dieser Tragödie dadurch bewogen wird, recht erbauliche Betrachtungen, über die Unbeständigkeit des Glückes der Großen dieser Welt, und über die Schandbarkeit seiner Laster anzustellen, und zuletzt in dem Beschlusse die Thebaner so anzureden: »Ihr Einwohner von Theben, seht hier den Oedipus, der durch seine Weisheit Räthsel erklären konnte, und an Tapferkeit alles übertraf; ja der seine Hoheit sonst keinem, als seinem Verstande und Heldenmuthe zu danken hatte: seht, in was für schreckliche Trübsalen er gerathen ist; und wenn ihr dieses unselige Ende desselben erweget, so lernt doch niemanden für glücklich halten, bis ihr ihn seine letzte Stunde glücklich habt erreichen gesehen«. Wer auf gleiche Art die Trauerspiele aus unsrer deutschen Schaubühne mit Bedacht[318] durchgehen will, der wird überall eine solche Hauptlehre antreffen, ob sie gleich nicht immer so deutlich im Schlüsse steht.

14. §. Eine solche Fabel nun zu erdichten, sie recht wahrscheinlich einzurichten, und wohl auszuführen, das ist das allerschwerste in einer Tragödie. Es hat viele Poeten gegeben, die in allem andern Zubehör des Trauerspiels, in den Charactern, in dem Ausdrucke, in den Affecten etc. glücklich gewesen: aber in der Fabel ist es sehr wenigen gelungen. Wer Exempel davon sehen will, der sehe was von Schakespears Cäsar im VII. B. und vom Telemach im VI. B. der critischen Beyträge steht. Das macht, daß dieselbe eine dreyfache Einheit haben muß, wenn ich so reden darf. Die Einheit der Handlung, der Zeit, und des Ortes. Von allen dreyen müssen wir insonderheit handeln.

15. §. Die ganze Fabel hat nur eine Hauptabsicht; nämlich einen moralischen Satz: also muß sie auch nur eine Haupthandlung haben, um derentwegen alles übrige vorgeht. Die Nebenhandlungen aber, die zur Ausführung der Haupthandlung gehören, können gar wohl andre moralische Wahrheiten in sich schließen: wie zum Exempel im Oedipus die Erfüllung der Orakel, darüber Jokasta vorher gespottet hatte, die Lehre giebt: Daß die göttliche Allwissenheit nicht fehlen könne. Alle Stücke sind also tadelhaft und verwerflich, die aus zwoen Handlungen bestehen, davon keine die vornehmste ist. Ich habe dergleichen im 1717. Jahre am Reformationsfeste in einer Schulcomödie vorstellen gesehen, wo der ganze Inhalt der Aeneis Virgilii, und die Reformation Lutheri zugleich vorgestellet wurde. In einem Auftritte war ein Trojaner, in der andern der Ablaßkrämer Tetzel zu sehen. Bald handelte Aeneas von der Stiftung des römischen Reichs, bald kam Lutherus und reinigte die Kirche. Bald war Dido, bald die babylonische Hure zu sehen u.s.w. Und diese beyde so verschiedene Handlungen hiengen nicht anders zusammen, als durch eine lustige Person, Momus genannt, die zwischen solchen Vorstellungen auftrat, und z.E. den auf der See bestürmten Aeneas,[319] mit dem in Gefahr schwebenden Kirchenschifflein verglich. Das ist nun ein sehr handgreiflicher Fehler, wo zwey so verschiedene Dinge zugleich gespielet werden. Allein die andern, die etwas unmerklicher sind, verdienen deswegen keine Entschuldigung. Insgemein sündigen die englischen Stücke wider diese Regel.

16. §. Die Einheit der Zeit ist das andre, das in der Tragödie unentbehrlich. Die Fabel eines Heldengedichtes kann viele Monathe dauren, wie oben gewiesen worden; das macht, sie wird nur gelesen: aber die Fabel eines Schauspieles, die mit lebendigen Personen in etlichen Stunden wirklich vorgestellet wird, kann nur einen Umlauf der Sonnen, wie Aristoteles spricht; das ist einen Tag, dauren. Denn was hat es für eine Wahrscheinlichkeit, wenn man in dem ersten Auftritte den Helden in der Wiege, etwas weiter hin als einen Knaben, hernach als einen Jüngling, Mann, Greis, und zuletzt gar im Sarge vorstellen wollte: wie Cervantes solche thörichte Schauspiele, an seinen spanischen Poeten, im Don Quixote ausgelachet hat. Haben es die Engländer nicht völlig so schlimm gemacht; so ist es doch nicht viel besser. Schakespears Cäsar hebt vor der Ermordung Cäsars an, und dauret bis nach der philippischen Schlacht, wo Brutus und Cassius geblieben. Oder wie ist es wahrscheinlich, daß man es auf der Schaubühne etlichemal Abend werden sieht; und doch selbst, ohne zu essen, oder zu trinken, oder zu schlafen, immer auf einer Stelle sitzen bleibt? Die besten Fabeln sind also diejenigen, die nicht mehr Zeit nöthig gehabt hätten, wirklich zu geschehen, als sie zur Vorstellung brauchen; das ist etwa drey oder vier Stunden: und so sind die Fabeln der meisten griechischen Tragödien beschaffen. Kömmt es hoch, so bedörfen sie sechs, acht, oder zum höchsten zwölf Stunden zu ihrem ganzen Verlaufe: und höher muß es ein Poet nicht treiben; wenn er nicht wieder die Wahrscheinlichkeit handeln will.

17. §. Es müssen aber diese Stunden bey Tage, und nicht bey Nachte seyn, weil diese zum Schlafen bestimmet ist: es wäre[320] denn, daß die Handlung entweder in der Nacht vorgegangen wäre; oder erst nach Mittage anfienge, und sich bis in die späte Nacht verzöge; oder umgekehrt, vor morgens angienge, und bis zu Mittage daurete. Der berühmte Cid des Corneille läuft in diesem Stücke wider die Regeln, denn er dauret eine ganze Nacht durch, nebst dem vorigen und folgenden Tage, und braucht wenigstens volle vier und zwanzig Stunden: welches schon viel zu viel ist, und unerträglich seyn würde, wenn das Stück nicht sonst viel andre Schönheiten in sich hätte; die den Zuschauern fast nicht Zeit ließen, daran zu gedenken. S. den ersten B. meiner Schaubühne, Das ist nun eben die Kunst, die Fabel so ins kurze zu bringen, daß keine lange Zeit dazu gehöret; und eben deswegen sind auch bey uns Deutschen die Tragödien von Wallenstein, von der Banise, imgleichen von der böhmischen Libussa ganz falsch und unrichtig: weil sie zum Theil etliche Monate, zum Theil aber viele Jahre zu ihrer Dauer erfordern. Meine obige Schultragödie hub sich von dem Urtheile des Paris über die drey Göttinnen an, und daurete bis auf die Glaubensverbesserung durch Luthern. Das war nun eine Zeit, etwa von drey bis viertehalb tausend Jahren, davon die zwey Heldengedichte, Ilias und Aeneis, nicht den tausendsten Theil einnehmen, und ich zweifle, ob man die Ungereimtheit höher hätte treiben können.

18. §. Zum dritten gehört zur Tragödie die Einigkeit des Ortes. Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen: folglich müssen auch die spielenden Personen alle auf einem Platze bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern. So ist im Oedipus, z.E. der Schauplatz auf dem Vorhofe des königlichen thebanischen Schlosses, darinn Oedipus wohnt. Alles, was in der ganzen Tragödie vorgeht, das geschieht vor diesem Pallaste: nichts, was man wirklich sieht, trägt sich in den Zimmern zu; sondern draußen auf dem Schloßplatze, vor den Augen alles Volks. Heute zu Tage, da unsre Fürsten alles in ihren Zimmern verrichten, fällt es also schwerer,[321] solche Fabeln wahrscheinlich zu machen. Daher nehmen denn die Poeten gemeiniglich alte Historien dazu, oder sie stellen uns auch einen großen Audienzsaal vor, darinn vielerley Personen auftreten können. Ja sie helfen sich auch zuweilen mit dem Vorhange, den sie fallen lassen und aufziehen; wenn sie zwey Zimmer zu der Fabel nöthig haben. Man kann also leicht denken, wie ungereimt es ist, wenn, nach dem Berichte des Cervantes, die spanischen Trauerspiele den Helden in dem ersten Aufzuge in Europa, in dem andern in Africa, in dem dritten in Asien, und endlich gar in America vorstellen: oder, wenn meine obgedachte Schulcomödie uns bald in Asien die Stadt Troja, bald die ungestüme See, darauf Aeneas schiffet, bald Carthago, bald Italien vorstellete, und uns also durch alle drey Theile der damals bekannten Welt, führte; ohne daß wir uns von der Stelle rühren dorften. Noch was lächerliches fällt mir von einem italiänischen Dichter ein, der in einem Schauspiele, den Himmel, die Erde, und die Hölle brauchete; und die Einheit des Ortes mit einer Perpendikellinie behaupten wollte, die vom Himmel durch die Erde, bis in die Hölle gienge. Es ist also in einer regelmäßigen Tragödie nicht erlaubt, den Schauplatz zu ändern. Wo man ist, da muß man bleiben; und daher auch nicht in dem ersten Aufzuge im Walde, in dem andern in der Stadt, in dem dritten im Kriege, und in dem vierten in einem Garten, oder auf der See seyn. Das sind lauter Fehler wider die Wahrscheinlichkeit: eine Fabel aber, die nicht wahrscheinlich ist, taugt nichts, weil dieses ihre vornehmste Eigenschaft ist.

19. §. Es sind aber die Fabeln der Trauerspiele ebenfalls entweder einfache und schlechte; oder verworrene, die einen Glückswechsel und eine Entdeckung unbekannter Personen haben. In beyden aber hat ein Knoten, oder die sogenannte Intrigue statt, der sich im Anfange des Schauspieles anfängt in einander zu schlingen, und allmählich immer mehr und mehr verwirret; bis der letzte Aufzug, oder wo möglich, der letzte Auftritt alles auf einmal auflöset. Dieser Knoten ist in der Fabel[322] nöthig, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu erwecken, und sie auf den Ausgang solcher verwirrten Händel begierig zu machen. Im Titus des Racine ist ein Exempel von der ersten Classe zu sehen; wo alles ohne eine andere Verwirrung der Umstände, bloß deswegen einen Knoten schürzet, weil die Königinn Berenice nicht weis, was sie hoffen oder fürchten soll; der Kaiser selbst aber bey sich ansteht, ob er seiner Liebe, oder dem Willen des römischen Volkes gehorchen solle? Dieses ist also eine einfache oder schlechte Fabel, worinn kein Glückswechsel, keine Entdeckung verborgener Personen vorgeht. Denn beyde bleiben, was sie sind, jene Königinn von Palästina, dieser römischer Kaiser. Eben so ist der Cinna und Porus beschaffen. Ganz anders ist es in der Elektra des Sophokles. Hier kömmt der junge Prinz Orestes in verstellter Kleidung nach Mycene; läßt sich für todt ausgeben, und bringt selbst den Aschentopf getragen, in welchem, seinem Vorgeben nach, sein eigener Ueberrest ist. Seine Mutter, Clytemnestra, die sich darüber freuet, weil sie nur von ihrem Sohne die Rache, wegen seines, von ihr und ihrem neuen Gemahle Aegysthus ermordeten Vaters, Agamemnons, zu befürchten hatte; wird dergestalt hintergangen, und nachdem sich Orestes ihr entdecket hatte, ums Leben gebracht. Ihrem Aegysthus gehts nicht besser, und da also die glückseligen Personen des Trauerspiels unglücklich werden: so wird der vorhin flüchtige Orestes, nebst seiner geplagten Schwester Elektra, auf einmal glücklich. Eben so ist die Tragödie Iphigenia beschaffen, wo Eriphile stirbt, so bald es entdecket wird, daß sie der Helena Tochter ist; Achilles aber mit seiner Prinzeßinn auf einmal glücklich wird. Im Cato ist es nichts anders, indem Arsene erfährt, daß sie Catons Tochter ist, und also weder eine Königinn seyn, noch Cäsarn heirathen kann. Die Schönheit in dergleichen Fabeln, besteht darinn, daß dieser Glückswechsel ganz zuletzt, und zwar unvermuthet geschieht, auch die Entdeckung der verkleideten oder unbekannten Personen, wenn dergleichen vorhanden sind, unmittelbar vorhergeht.[323]

20. §. Ich komme nunmehro auf die Charactere der Tragödie, dadurch die ganze Fabel ihr rechtes Leben bekömmt. Man darf hier nur wiederholen, was im vorigen Capitel davon gesaget worden: denn alles das muß hier auch gelten. Es muß also der Poet seinen Hauptpersonen eine solche Gemüthsbeschaffenheit geben, daraus man ihre künftige Handlungen wahrscheinlich vermuthen, und wenn sie geschehen, leicht begreifen kann. Sogleich in dem ersten Auftritte, den sie hat, muß sie ihr Naturell, ihre Neigungen, ihre Tugenden und Laster verrathen; dadurch sie sich von andern Menschen unterscheidet. So zeiget, zum Exempel, Racine den Porus, gleich im Anfange, als einen großmüthigen Held, der allein das Herz hat, dem Alexander die Spitze zu biethen: worüber ihn zwar St. Evremont getadelt hat, aber ohne Grund; weil selbst Curtius demselben diesen Character beygeleget hat. So hat auch Cinna gleich im ersten Auftritte den Character eines verwegenen Rebellen, und freyheitliebenden Römers; sowohl als Aemilia, die Gemüthsart eines rachgierigen und unversöhnlichen Frauenzimmers hat. Roderich stellt durchgehends einen ehrliebenden und unverzagten Helden vor, und Chimene eine rechtschaffene Tochter ihres Vaters, zugleich aber eine treue Liebhaberinn ihres Roderichs. Nicht minder zeigt Cato gleich bey seinem ersten Auftritte, wie er gesonnen ist, nämlich Freyheit und Tugend auch mit seinem Blute zu versiegeln. Siehe der deutschen Schaubühne I. Theil. Und in der Iphigenia im II. Theile ist Achilles so abgeschildert, wie Horaz es haben will, wenn er schreibt:


HONORATUM SI FORTE REPONIS ACHILLEM,

IMPIGER, IRACUNDUS, INEXORABILIS, ACER,

IURA NEGET SIBI NATA: NIHIL NON ARROGET ARMIS.

SIT MEDEA FEROX INUICTAQUE, FLEBILIS INO,

PERFIDUS IXION, IO VAGA, TRISTIS ORESTES.


21. §. Diese letzten Zeilen wollen so viel sagen, daß ein Poet die Personen, die aus der Historie schon bekannt sind,[324] genau bey dem Charactere lassen müsse, den man von ihnen längst gewohnt ist. Das hat Corneille in seiner Sophonisbe gethan. Er beobachtet genau, was Livius von ihrer Gemüthsbeschaffenheit erzählet; den Masinissa und den Syphax läßt er auch so, wie er sie fand. Unser Lohenstein aber hat alles verkehret. Ein anders ist es, wenn man ganz neue Personen dichtet. Diese kann man zwar machen, wie man selber will, und wie die Fabel es erfordert. Nur folgende Regel des Horaz ist zu beobachten:


SI QUID INEXPERTUM SCENAE COMMITTIS, ET AUDES

PERSONAM FORMARE NOUAM; SERUETUR AD IMUM.

QUALIS AB INCEPTO PROCESSERIT, ET SIBI CONSTET.


Ein widersprechender Character ist ein Ungeheuer, das in der Natur nicht vorkömmt: daher muß ein Geiziger geizig, ein Stolzer stolz, ein Hitziger hitzig, ein Verzagter verzagt seyn und bleiben; es würde denn in der Fabel durch besondere Umstände wahrscheinlich gemacht, daß er sich ein wenig geändert hätte. Denn eine gänzliche Aenderung des Naturells oder Characters ist ohnedieß in so kurzer Zeit unmöglich.

22. §. Nichts ist von Charactern mehr übrig zu sagen, als daß nur die Hauptpersonen dergleichen haben müssen. Die Bedienten derselben, die fast allezeit in fremdem Namen handeln oder thun, dörfen keine besondere Gemüthsart haben: zum wenigsten haben sie selten Gelegenheit, dieselbe blicken zu lassen. Doch ist es in solchen Fällen, wo sie Gelegenheit dazu hätten, auch unverbothen. Die Exempel zu dieser Regel wird man in allen Trauerspielen antreffen, die in meiner Schaubühne stehen. Z.E. Artaban und Phocas, Phenize und Domitius im sterbenden Cato; Arcas und Doris aber in der Iphigenia u.d.gl.

23. §. Ich komme auf den Ausdruck oder auf die Schreibart der Tragödien. Diese muß eben so beschaffen seyn, als die Schreibart in Heldengedichten, wenn der Poet daselbst andre[325] redend einführet. Die Alten nannten diese Art des Ausdruckes Cothurnus; von den hohen Schuhen, die von vornehmen Standespersonen getragen wurden. Weil nun dergleichen vornehme Leute in der Tragödie vorgestellet wurden, und es sich für sie nicht anders schickte, als daß sie sich auf eine edlere Art, als der gemeine Pöbel ausdrücken mußten; zumal, wenn die gewaltigsten Affecten sie bestürmeten: so bekam ihre Sprache eben diesen Namen. Die guten Poeten nun, die ihre Einbildungskraft durch die Vernunft in den Schranken zu halten, und die hohe Schreibart durch die Regeln der Wahrscheinlichkeit zu mäßigen gewußt haben, sind auch bey einer vernünftigen hohen Art des Ausdruckes geblieben. Die schwachen Geister aber, die ihrer Phantasie folgen mußten, wohin sie wollte; verstiegen sich gar zu hoch: so daß Horaz sie beschuldiget, sie hätten bisweilen solche Räthsel, als die delphische Priesterinn, gemacht:


ET TULIT ELOQUIUM INSOLITUM FACUNDIA PRAECEPS,

– – – – – ET DIUINA FUTURI

SORTILEGIS NON DISCREPUIT SENTENTIA DELPHIS.


Ja er verbeut gleich darauf ausdrücklich, daß man die tragischen Personen weder zu nicdrig, noch zu hochtrabend solle reden lassen:


NE, QUICUNQUE DEUS, QUICUNQUE ADHIBEBITUR HEROS,

MIGRET IN OBSCURAS HUMILI SERMONE TABERNAS:

AUT DUM VITAT HUMUM, NUBES ET INANIA CAPTET.


24. §. In dieser falschen Hoheit sind nun, bey den Lateinern, Seneca in seinen Tragödien; und bey uns, Lohenstein ganz unerträglich. Fast alle ihre Personen, die sie aufführen, reden lauter Phöbus: wie bereits in dem allgemeinen Capitel von der poetischen Schreibart angemerket worden. Unser Andreas Gryphius ist doch weit vernünftiger in diesem[326] Stücke. Ich mag, die Weitläuftigkeit zu meiden, keine Exempel von beyden anführen: man darf aber nur gleich des erstem Agrippina, mit Carl Stuarten von diesem; oder auch die Sophonisbe mit dem Leo Arminius zusammen halten, so wird man den Unterscheid gleich merken. Man sehe auch, was bey Gelegenheit des Cäsars, aus dem Schakespear, in dem VII. B. der critischen Beyträge von ihm gesaget worden. Sonderlich drucken die lohensteinischen Personen niemals den Affect recht natürlich aus: sondern, da sie im Schmerze aufhören sollten, auf Stelzen zu gehen: so bleiben sie unverändert bey ihren scharfsinnigen Sprüchen und künstlichen Spitzfündigkeiten. Ja selbst Corneille und Racine, haben sich in diesem Stöcke oft versehen, wie Fenelon in seinen Gedanken von der Tragödie angemerket hat, daß Sophokles seinen Oedipus nichts schwülstiges sagen lassen. Siehe den I. Th. meiner Schaubühne, gleich nach der Vorrede. Dieses hat uns Horaz ausdrücklich gelehret:


ET TRAGICUS PLERUMQUE DOLET SERMONE PEDESTRI

TELEPHUS ET PELEUS: CUM PAUPER ET EXSUL VTERQUE

PROIICIT AMPULLAS ET SESQUIPEDALIA VERBA.

SI CURAT COR SPECTANTIS TETIGISSE QUERELA.


Die beste allgemeine Regel, die man hier geben kann, ist, die Natur eines jeden Affects im gemeinen Leben zu beobachten, und dieselbe aufs genaueste nachzuahmen. Nun findet man aber, daß auch die vornehmsten Standespersonen zwar ihrer Würde gemäß denken und sprechen, so lange sie ruhiges Gemüthes sind: so bald sie aber der Affect übermeistert, vergessen sie ihres hohen Standes fast, und werden wie andre Menschen. Wenn wir nun einen wahrhaftigen Traurigen sehen, dem vergeht die Lust wohl, scharfsinnige Klagen auszustudiren. Er wird so kläglich und beweglich sprechen, als es ihm möglich ist: denn wo er selbst nicht weinet, so wird gewiß niemand zum Mitleiden bewogen werden:[327]


VT RIDENTIBUS ARRIDENT, ITA FLENTIBUS ADSUNT

HUMANI VULTUS. SI VIS ME FLERE, DOLENDUM EST

PRIMUM IPSE TIBI: TUNC TUA ME INFORTUNIA LAEDENT,

TELEPHE VEL PELEU. MALE SI MANDATA LOQUERIS,

AUT DORMITABO, AUT RIDEBO.


25. §. Hier fragt sichs unter andern, ob sich in die Schreibart der Tragödien auch viele Gleichnisse schicken? Ich antworte, man darf nur auf die Natur sehen. Nun finde ich nicht, daß man im gemeinen Leben, wenn wir von ernstlichen und wichtigen Dingen reden, lange Vergleichungen zu machen pfleget. Wem das, wovon er zu reden hat, zu Herzen geht; der hält sich mit solchen Spielen des Witzes nicht auf; sondern er dringt gerade auf die Sache selbst. So unzulänglich einem unsrer Kunstrichter diese Regel geschienen, wenn er dieselbe umzustoßen gesucht; so gegründet ist sie doch. Könige und Fürsten und Helden, spielen in ernsthaften Geschäfften, nicht lange mit künstlichen Vergleichungen, sondern reden mit Ernst und Nachdruck. Auf diese Natur nun muß man sehen. Ein anders ist es, mit einem Poeten, in einem Heldengedichte. Dieser ist selbst in der Fabel nicht mit verwickelt, die er erzählt; sondern gleichsam nur ein Zuschauer oder Herold derselben. Der kann sich also wohl mit kaltem Blute die Zeit nehmen, Gleichnisse zu machen, und so weitläuftig auszuführen, als er will. Allein in der Tragödie kömmt der Poet gar nicht zum Vorscheine; sondern es reden lauter andre Leute, die mit an den Begebenheiten Theil haben, und als ordentliche Menschen eingeführet werden müssen. Die Exempel der Alten sind mir auch nicht zuwider. Ich finde, daß Sophokles nicht über zwey oder drey Gleichnisse in seinem Oedipus angebracht hat; und zwar nur ganz kurz, und gleichsam im Vorbeygehen. Diesen meinen Zusatz hat obgedachter Kunstrichter muthwillig ausgelassen, um meine Meynung desto leichter zu verdrehen. Hergegen Lohenstein und Seneca sind fast überall voll davon: wodurch denn abermal ihre Schreibart die unnatürlichste[328] von der Welt wird. Eben das ist von der Gelehrsamkeit und Belesenheit zu merken, welche diese beyde Tragödienschreiber ihren Personen zu leihen pflegen. Sie schicket sich für dieselben durchaus nicht, zumal wenn sie im Affecte reden; und könnte an bequemere Oerter versparet werden.

26. §. Wir kommen auf die Musik, die bey den Alten in der Tragödie einer von den besten Zierrathen war. Woher das gekommen, das ist aus dem obigen leicht abzunehmen. Die Lieder, die der Chor sang, wurden mit Instrumenten begleitet: und weil diese einen wesentlichen Theil ihrer Schauspiele ausmachten; so rechneten sie die Musik mit zur Tragödie. Daß diese Musik aber sehr stark gewesen seyn müsse, erhellet aus der Zahl der Personen im Chore, die zuweilen bis fünfzig hinan lief. Und diese starken Chöre daureten so lange, bis Euripides in dem Trauerspiele, Eumenides, einen sehr zahlreichen Chor rasender Furien mit schwarzen Pechfakeln aufführete: denn dadurch entstund ein solches Entsetzen in dem Schauplatze, daß die Kinder vor Schrecken todt blieben, die schwangern Weiber aber auf der Stelle niederkamen. Darauf wurde von der Obrigkeit befohlen, daß der Chor künftig nur aus 15. Personen bestehen sollte. Bey uns sind die Chöre nicht gewöhnlich, obgleich unsere ersten Tragödienschreiber sie nach der alten Art bey jedem Aufzuge angehänget haben. Die Musik der Stimmen fällt also gänzlich weg; nur die Instrumente lassen sich zwischen jedem Aufzuge mit allerhand lustigen Stücken hören. Weil sie aber die Zuschauer ganz aus der Aufmerksamkeit auf die vorigen Vorstellungen bringen: so fragt sichs, ob es nicht möglich wäre, anstatt der alten Oden des Chores, eine nach unserer Art eingerichtete Cantate, von etlichen Sängern absingen zu lassen; aber eine solche, die sich allezeit zu den kurz zuvor gespielten Begebenheiten schickte, und folglich moralische Betrachtungen dar über anstellete. Dieses würde ohne Zweifel die Zuhörer in dem Affecte, darinn sie schon stünden, erhalten, und zum bevorstehenden desto besser zubereiten. Und eine solche Tragödie würde zehnmal schöner seyn, als[329] eine Opera, die den Liebhabern der Musik zu gefallen alles durchgehends musikalisch vorstellen laßt; aber dabey ganz und gar von der Natur abgeht, und die ganze Wahrscheinlichkeit aufhebt.

27. §. Endlich und zuletzt müssen wir noch von den Maschinen und andern Zierrathen der Schaubühne handeln. Durch Maschinen versteht man die Erscheinungen der Götter, die vom Himmel herunter kommen. Weil die Tragödie menschliche, nicht aber göttliche Handlungen nachahmet: so kann auch die Hauptperson niemals eine Gottheit seyn. Weil aber der Held zuweilen in solche Umstände gerathen kann; daß er eines sichtbaren göttlichen Beystandes benöthiget ist: so kann freylich wohl der Poet sich der Maschinen zuweilen bedienen, seiner Fabel dadurch auszuhelfen. Allein er muß freylich wohl zusehen, daß dieses wahrscheinlich heraus komme. Die Erscheinungen der Götter in neuern Zeiten kommen uns sehr unglaublich vor; weil wir selbst dergleichen nie gesehen, und uns nicht einbilden können, daß es vor hundert oder zweyhundert Jahren anders gewesen seyn sollte. Aber aus der alten fabelhaften Zeit, sind wir es längst gewohnt, von Erscheinungen zu hören: und also nimmt es uns nicht Wunder, wenn wir davon lesen. Wenn also Perseus etwa die Andromeda erlösen; oder Diana zum Endymion in die Höle des Berges Latmos kommen; oder die drey Göttinnen dem Paris erscheinen sollten, u.d.gl. so müßten wir schon die Götter auf der Schaubühne für nöthig ansehen, und sie nach ihrer Art kleiden und characterisiren. Aber wer solches allezeit und ohne die größte Notwendigkeit thun wollte; der würde wider die Regel des Horaz handeln:


NEC DEUS INTERSIT, NISI DIGNUS VINDICE NODUS

INCIDERIT.


Es ist nämlich keine Kunst, durch einen unmittelbaren Beystand des Himmels, und durch Wunderwerke, eine Fabel[330] glücklich auszuführen; daher sich auch die berühmtesten Tragödienschreiber unter den Alten dieses Kunststückes selten bedienet haben.

28. §. Eben dahin gehören auch die Zaubereyen, welche man die Maschinen der neuern Zeiten nennen könnte. Sie schicken sich für unsre aufgeklärte Zeiten nicht mehr, weil sie fast niemand mehr glaubt: also enthält sich ein Poet mit gutem Grunde solcher Vorstellungen, die nicht mehr wahrscheinlich sind, und nur in der ernsthaftesten Sache ein Gelächter erwecken würden. Wenn also Gryphius in seinem Leo Armenius den Geist des Patriarchen von Constantinopel, und den höllischen Geist selbst, ja ein Gespenste in Gestalt Michaels; in der Catharina von Georgien die Ewigkeit, etliche Geister der Verstorbenen, die Tugenden, den Tod und die Liebe als Personen aufführet: im Cardenio gleichfalls ein Paar Geister; im Carl Stuart abermal drey Geister, und sodann noch Krieg, Ketzerey, Pest, Tod, Hunger, Zwietracht, Furcht, Eigenmord, die Geister der ermordeten Könige in England u.a.m. vorbringt: so sind gewiß der Erscheinungen zuviel eingemengt. Unter Ausländern hat von neuern Poeten der Cardinal GIOV. DELFINO gleichfalls in seiner CLEOPATRA den Geist des Antonius und die Megära bald in dem I. Auftritte erscheinen lassen. Es sind die Tragödien dieses welschen Dichters 1733. zu Padua herausgekommen. Der ganze Titel heißt: LE TRAGEDIE DI GIOVANNI DELFINO SENATORE VENETIANO, POI PATRIARCA D'AQUILEJA E CARDINALE DI S. CHIESA, CIOÉ LA CLEOPATRA, LA LUCREZIA, IL CRESO, IL MEDORO. Wie lustig Schakespear den Geist Cäsars in seinem Trauerspiele aufgeführet, das sehe man in der deutschen Uebersetzung desselben nach. Wer aber etwas recht lustiges von dieser Art sehen will, der lese den deutschen Polyeuctes von Kormarten, oder den Auszug davon in den Crit. Beyträgen, imgleichen das Trauerspiel Telemach eben daselbst.

29. §. Einen bessern Zierrath geben die Veränderungen der Schaubühne ab, dadurch dieselbe allemal denjenigen Ort[331] vorstellig macht, wo das ganze Stück vorgegangen seyn soll. Dieser muß nun zwar die ganze Tragödie hindurch einerley bleiben: allein in verschiedenen Trauerspielen muß sich bald eine Straße der Stadt, ein königlich Zimmer, ein Feldlager, ein Wald, ein Dorf, ein Garten, u.s.w. vorstellen. Doch dieses geht den Poeten nicht weiter an, als in so weit er sagt, wo der Schauplatz des Stückes gewesen, darnach sich der Theaternmeister nachmals richten muß. Nun weis ich zwar, daß diese Regel vielen zu hart scheint, und daß andre durch die Veränderungen des Schauplatzes der Schwäche ihrer Stücke aushelfen wollen. Allein die Nachahmung der Natur läßt gleichwohl nichts anders zu. Siehe des Abts von Aubignac Ausübung der theatralischen Schaubühne. Hierwider hat Corneille in seinem Cid sehr verstoßen, welches uns desto behutsamer machen muß.

30. §. Eben das ist von den Kleidungen zu sagen. Hier sollen von rechtswegen die Personen nach Beschaffenheit der Stücke, bald in römischer, bald in griechischer, bald in persianischer, bald in spanischer, bald in altdeutscher Tracht auf der Schaubühne erscheinen; und dieselbe so natürlich nachahmen, als es möglich ist. Je näher man es darinn der Vollkommenheit bringet, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, und destomehr wird das Auge der Zuschauer vergnüget. Daher ist es lächerlich, wenn einfältige Comödianten die römischen Bürger in Soldatenkleidern mit Degen an der Seite vorstellen: da sie doch lange weite Kleider von weißer Farbe trugen. Noch seltsamer aber ist es, wenn man z.E. alten griechischen oder römischen Helden im Lager, gar Staatsperrücken und dreyeckigte Hüte mit Federn aufsetzet, und weiße Handschuh anzieht; eine americanische Prinzeßinn mit einem Fischbeinrocke, und eine flüchtende Zaire im Oriente mit einer drey Ellen langen Schleppe; ja endlich einen alten deutschen Herrmann, Segesth u.a.m. wie ihre Todtfeinde die Römer, aber doch mit Perücken, weißen Handschuhen und kleinen Galanteriedegen aufführet, u.d.gl. Hier muß ein verständiger[332] Aufseher der Schaubühne sich in den Alterthümern umgesehen haben; und die Trachten aller Nationen, die er aufzuführen willens ist, in Bildern ausstudiren.

31. §. Endlich kömmt der Vortrag selbst, das ist die Aussprache und die Geberden der spielenden Personen. Hierauf kömmt in der Vorstellung eines Trauerspieles fast alles an. Das beste Stück wird lächerlich, wenn es schlecht und kaltsinnig hergesagt wird: hergegen das elendeste Zeug klingt zuweilen erträglich, wenn eine gute Aussprache ihm zu statten kömmt. Bey den Alten hat es eigene Lehrmeister gegeben, die jungen Comödianten Anleitung dazu gaben, wie sie eine Rolle gut spielen sollten. In Rom haben Roscius und Aesopus sich zu Cicerons Zeiten eine allgemeine Bewunderung erworben: denn diese hatten es in ihrer Kunst so weit gebracht, daß Cicero selbst in ihren Schauplatz gieng, um ihnen im guten Vortrage was abzulernen; hingegen kamen diese wiederum in die öffentlichen Reden Cicerons, in gleicher Absicht. Weil auch in der That ein Redner und Comödiant in diesem Stücke einerley Pflicht haben: so können sich diese auch aus dem Tractate des LE FAUCHER, DE L'ACTION D L'ORATEUR, der unter Conrarts Namen heraus gekommen, auch ins Deutsche übersetzt worden, manche gute Regel nehmen. Riccoboni hat in italienischer Sprache ein langes Lehrgedichte für Comödianten geschrieben, darinn er ihnen Regeln von der guten Aussprache giebt; welches bey seiner Historie des italienischen Theaters befindlich ist. Noch neulich hat er auch im Französischen eine neue Anleitung dazu gegeben, die als ein Anhang bey seinen REFLEX. HISTOR. ET CRITIQUES SUR TOUS LES THEATRES DE L'EUROPE befindlich ist. Auch der Abt von Aubignac hat es, wie in andern Stücken, also auch hierinnen nicht an einer guten Vorschrift fehlen lassen: und unsre Deutschen sind dem gelehrten Herrn von Steinwehr vielen Dank schuldig, daß er ihnen dieses höchstnützliche Buch in unsre Muttersprache übersetzet, und es also dadurch gemeiner und brauchbarer gemachet hat. Horaz hat auch dieses Stücke[333] für so wichtig gehalten, daß er in seiner Dichtkunst eine besondere Regel davon gemacht hat:


MALE SI MANDATA LOQUERIS

AUT DORMITABO, AUT RIDEBO. TRISTIA MOESTUM

VULTUM VERBA DECENT; IRATUM PLENA MINARUM.

LUDENTEM LASCIUA, SEUERUM SERIA DICTU.

FORMAT ENIM NATURA PRIUS NOS INTUS AD OMNEM

FORTUNARUM HABITUM: IUUAT & IMPELLIT AD IRAM,

AUT AD HUMUM MOERORE GRAUI DEDUCIT ET ANGIT.

POST EFFERT ANIMI MOTUS INTERPRETE LINGUA.


32. §. Hierinn steckt nun hauptsächlich die Regel: ein guter Comödiant müsse dasjenige erst bey sich zu empfinden bemüht seyn, was er vorzutragen willens ist; welches in der That das beste Mittel ist, eine lebhafte Aussprache und Stellung zu erlangen. Schlüßlich muß ich erinnern, daß die Auftritte der Scenen in einer Handlung allezeit mit einander verbunden seyn müssen: damit die Bühne nicht eher ganz ledig werde, bis die ganze Handlung aus ist. Es muß also aus der vorigen Scene immer eine Person da bleiben, wenn eine neue kömmt, oder eine abgeht: damit die ganze Handlung einen Zusammenhang habe. Die Alten sowohl, als Corneille und Racine, haben dieses fleißig beobachtet: wenn man nur des erstern erste Stücke ausnimmt. Zum Exempel, sein Cid ist in diesem Stücke sehr fehlerhaft, weil fast immer Personen auftreten und abgehen, ohne zu wissen, warum? daher kömmt es auch, daß die Einheit des Ortes nicht recht beobachtet wird; und darum hat schon Boileau gesagt:


QUE L'ACTION MARCHANT OU LA RAISON LA GUIDE

NE SE PERDE JAMAIS, DANS UNE SCENE VUIDE.


Der einzige Fall ist nur auszunehmen, wenn die Personen, die auf der Bühne stehen, denen, die sie ankommen sehen,[334] ausweichen wollen. Hier hängen nämlich die Auftritte, auch durch eben diese Flucht der ersten, sattsam zusammen. Und so viel mag auch von der Tragödie genug seyn. Wer mehr wissen will, der muß die hin und her angeführten Scribenten, sonderlich den obgedachten Aubignac von Ausübung der theatralischen Dichtkunst, und des P. Brumois THEATRE DES GRECS, nebst des Riccoboni HISTOIRE DU THEATRE ITALIEN, endlich auch die Vorreden lesen, die Corneille und Racine vor ihre Stücke gesetzt haben.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 308-335.
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