Das IX. Capitel.
Von der Epopee oder dem Heldengedichte.

1. §.


Nunmehro kommen wir an das rechte Hauptwerk und Meisterstück der ganzen Poesie, ich meyne an die Epopee oder an das Heldengedichte. Homer ist der allererste, der dergleichen Werk unternommen, und mit solchem Glücke, oder vielmehr mit solcher Geschicklichkeit ausgeführet hat; daß er bis auf den heutigen Tag den Beyfall aller Verständigen verdienet hat, und allen seinen Nachfolgern zum Muster vorgeleget wird. So groß die Menge der Poeten unter Griechen und Lateinern, Italienern, Franzosen, Engelländern und Deutschen gewesen: so klein ist nichts destoweniger die Anzahl derer geblieben, die sich gewagt haben, ein solches Heldengedichte zu schreiben. Und unter zehn oder zwölfen, die etwa innerhalb drey tausend Jahren solches versuchet haben, ist es kaum fünfen oder sechsen damit gelungen: woraus denn die Schwierigkeit eines so wichtigen poetischen Werkes sattsam erhellen kann.

2. §. Homer ist also der Vater und der erste Erfinder dieses Gedichtes, und folglich ein recht großer Geist, ein Mann, von besonderer Fähigkeit gewesen. Seine Ilias und Odyssee haben sich nicht nur den Beyfall von ganz Griechenland, sondern auch die Hochachtung und Bewunderung des tiefsinnigsten unter allen Weltweisen, Aristotels, erworben. Dieses letztere ist bey mir von weit größerm Gewichte, als das erste: denn das scharfsichtige critische Auge eines Kunstverständigen sieht auf das innerste Wesen einer Sache; da hergegen der unverständige Pöbel, die Helden, Gesetzgeber und Prinzen, ja auch die Menge der Halbgelehrten dergleichen Werk nur obenhin ansieht, und weder alle Schönheiten, noch alle[279] Fehler desselben wahrzunehmen, im Stande ist. Man hat sich also nicht an das Lob, oder an den Tadel eines jeden halbigten Richters zu kehren, wenn von den Verdiensten Homers die Frage ist. Viele haben ihn ohne Einsicht gepriesen, damit sie nur dafür angesehen würden, als ob sie ihn verstanden hätten: viele haben ihn auch ohne Grund getadelt, damit sie nur das Ansehen hätten, als verstünden sie besser, was zur Poesie gehört, als andre, die den Homer vertheidigten und lobten. In Frankreich hat man im Anfange dieses Jahrhunderts einen großen Federkrieg darüber gehabt, wo sich Perrault, Fontenelle und De la Motte für die Neuern: Boileau aber, Calliere, Racine, Fenelon, Furetiere und die Frau Dacier, nebst ihrem Manne, für die Alten erkläret, und sie in vielen Stücken verfochten haben. Man kann von diesem ganzen Streite mit Vergnügen nachlesen, was Furetiere in seiner NOUVELLE ALLEGORIQUE, OU HISTOIRE DES DERNIERES TROUBLES ARRIVEZ AU ROYAUME D'ELOQUENCE, und DES CALLIERES, in seiner HISTOIRE POETIQUE DE LA GUERRE NOUVELLEMENT DECLARÉE ENTRE LES ANCIENS & LES MODERNES, imgleichen Perrault selbst in seiner PARALLELE DES ANCIENS & DES MODERNES davon geschrieben haben. Man sehe auch des Herrn Fontenelle Gedanken von den Alten und Neuern, und meine Anmerkungen darüber, die bey seinen Gesprächen von mehr als einer Welt, befindlich sind, so, wie sie Deutsch heraus gekommen

sind.

3. §. Die Ilias Homers hat zu ihrer Hauptabsicht, den Zorn zu besingen, der zwischen dem Achilles, und dem Heerführer der ganzen griechischen Armee, Agamemnon, im Lager vor Troja vorgefallen; und so wohl für die Belagerer, als für die Belagerten sehr traurige Wirkungen nach sich gezogen. Der Poet sagt gleich im Anfange des Gedichtes, daß dieses sein Vorhaben sey: und da die Ausführung mit seinem Vortrage vollkommen übereinstimmt; so muß man sich wundern, daß die Kunstrichter noch lange an seiner Absicht haben zweifeln können. Es enthält also diese Ilias in vier und zwanzig Büchern[280] eine Fabel, die etwa sieben und vierzig Tage in ihrem Umfange begreift; und also nur ein sehr kleines Stück des zehnjährigen trojanischen Krieges ausmacht. Der Poet erzählt uns darinn auf eine sehr edle Art, was zu der Uneinigkeit des Achilles mit dem Agamemnon Gelegenheit gegeben; nämlich eine schöne Sklavinn, die Agamemnon dem Achilles mit Gewalt hätte wegnehmen lassen. Ferner, wie oft die Griechen zurück geschlagen worden, und wie viel wackere Helden sie darüber eingebüsset; als sie sich unterstanden, auch ohne den Achilles die Stadt anzugreifen. Endlich, wie Achilles selbst durch den Verlust seines liebsten Freundes Patroklus, welchen Hektor erschlagen hatte, dergestalt entrüstet worden, daß er, diesen Tod zu rächen, sich wieder mit den Seinen versöhnet, und den besten trojanischen Helden, den Hektor, in einem einzelnen Gefechte erlegt, seinem todten Freunde aber ein prächtiges Leichenbegängniß angestellet habe.

4. §. Diese ganze Fabel nun begreift nicht mehr, als eine Zeit von sieben und vierzig Tagen, oder anderthalb Monaten in sich, in welcher alles das vorgegangen, was zum Zorne des Helden, den der Poet besingen wollte, gehörete. Man sieht aber wohl, mit was für einer Geschicklichkeit Homer seine Fabel zum Lobe Achills eingerichtet hat. Seine Abwesenheit und Enthaltung aus der Armee macht das ganze griechische Heer ohnmächtig, und seine Wiederkunft bringt auch den Sieg wieder. Wenn er also gleich die größte Zeit müßig sitzet, und der Poet nichts von ihm erzählen kann: so gereichet doch alles, was geschieht, zu seinem Lobe; weil alles unglücklich geht, und die Ursache keine andere ist, als, weil er nicht mit fechten will. Die Uneinigkeit der griechischen Helden zieht also in ihrem Lager lauter Unglück nach sich; die Vereinigung aber, die zuletzt erfolgt, bringt einen erwünschten Erfolg, nämlich den Sieg über die Trojaner zuwege. Wer kann bey dem allen noch zweifeln, ob auch Homer in seinem ganzen Gedichte diese moralische Wahrheit habe zum Grunde legen wollen: die Mishälligkeit ist verderblich; die Eintracht[281] aber überaus zuträglich? Und dieses ist die Zergliederung des ersten homerischen Heldengedichtes; so wie sie von den scharfsinnigsten Kunstrichtern, nämlich dem Aristoteles, Pater le Bossu und Dacier vorlängst gemacht worden.

5. §. Aus der Odyssee hat uns Aristoteles selbst folgenden kurzen Auszug gemacht: Ulysses, der mit vor Troja gewesen, wird auf seiner Rückreise vom Neptun verfolget, welcher ihn durch Sturmwinde und Ungewitter aller seiner Gefährten beraubet, so, daß er endlich ganz allein in mancherley Gefährlichkeiten herum schweifen, und eine lange Zeit von Hause abwesend seyn muß. Indessen ist in seinem Ithaka alles in Unordnung. Die Liebhaber seiner Gemahlinn verprassen alle ihr Vermögen, und stehen seinem Sohne Telemach selbst nach dem Leben: bis er endlich in armseliger Gestalt nach Hause kömmt, etliche betrügt, seine Feinde ermordet, und sein Reich wieder in Ordnung bringet. Diese Fabel begreift also das Lob des klugen und standhaften Ulysses in sich; wie abermal der Poet im Anfange selbst angezeiget hat, wenn er nach Horazens Uebersetzung, die Muse so anruft:


DIC MIHI MUSA VIRUM, CAPTAE POST TEMPORA TROJAE,

QUI MORES HOMINUM MULTORUM VIDIT & VRBES.


6. §. Die Odyssee begreift eine Zeit von neun und funfzig Tagen oder beynahe zween Monathen in sich, und dauret also etwas länger, als jene; weil der Zorn Achills, als ein Affect, unmöglich so lange dauren konnte, als eine Reise. Doch ist die Absicht des Poeten, nicht nur den Helden zu loben, sondern eben unter diesen Erzählungen seine moralische Lehren zu verstecken. Er will den Griechen beybringen: daß die Abwesenheit eines Hausvaters oder Regenten üble Folgen nach sich ziehe: seine Gegenwart aber sehr ersprießlich sey. Damit nun diese Abwesenheit nicht dem Ulysses zum Vorwurfe gereichen könnte: so hat er ihn in solche Umstände gesetzt, daß er wider seinen[282] Willen abwesend seyn muß. Er hatte, als das Haupt seiner Armee, vor Troja ziehen müssen: und als er nach geendigtem Kriege eben zurücke wollte, so konnte er nicht; weil ihm Neptun zuwider war, und bald Circe, bald Calypso, bald der König Antinous ihn aufhielten, daß er nicht nach Hause konnte, so sehr ihn auch darnach verlangte. Indem aber der Poet theils den Helden, durch die lange Erfahrung zu einer vollkommenen Klugheit gelangen; theils seine Penelope und den jungen Telemach so viele Proben ihrer Tugend ausstehen; theils die Gefährten Ulyssens sowohl, als die Buhler der Königinn durch ihre eigene Schuld umkommen läßt: so wird sein Gedichte für hohe und niedrige erbaulich, und man kann mit Horazen sagen, Homer sey ein Scribent,


QUI, QUID SIT PULCRUM, QUID TURPE, QUID VTILE, QUID NON,

PLENIUS & MELIUS CHRYSIPPO & CRANTORE DICIT.


LIB. I. EP. 2.


7. §. In Homers Fußtapfen haben zwar unter den Griechen verschiedene andre treten wollen: ihre Schriften aber sind, weil sie die Kunst nicht verstanden haben, alle verlohren gegangen. Aristoteles hat uns in seiner Dichtkunst das Andenken etlicher solcher Gedichte aufbehalten; indem er ihre Fehler angemerket, da wir sonst nichts von ihnen wissen würden. Unter andern gedenkt er einer kleinen Ilias, darinn jemand den ganzen trojanischen Krieg beschrieben; und die, ungeachtet dieses so weitläuftigen Vorhabens, doch gegen des Homers Gedichte, nur eine kleine Ilias genennet worden. Ohne Zweifel hat es diesem Verfasser an dem rechten Begriffe, von einer guten epischen, das ist, moralischallegorischen Fabel gefehlt: daher er sich denn gleich ein gar zu großes Werk unternommen, welches in einem einzigen Gedichte unmöglich nach Würden ausgeführt werden konnte. Die übrigen Fehler dieses, und andrer übel gerathenen griechischen Heldengedichte, muß man im Aristoteles selbst nachsuchen.[283]


8. §. Unter den Römern hat Virgil das Herz gehabt, sich an die Epopee zu wagen; und die Geschicklichkeit besessen, dem Homer so vernünftig nachzuahmen, daß er ihn in vielen Stücken übertroffen hat. Seine Absicht mochte wohl gewesen seyn, dem Augustus, als dem Stifter eines neuen Reichs, die Eigenschaften eines großen Helden und Regenten vorzubilden, und dadurch die grausame Gemüthsart ein wenig zu dämpfen, die der Kaiser in seinen ersten Jahren spüren ließ. Er nimmt also die gemeine Sage der Römer für bekannt an, daß Aeneas nach Italien gekommen sey, und bauet seine ganze Fabel darauf. Diesen konnte er nunmehr als den Stifter der römischen Monarchie vorstellig machen, und ihn so abschildern, wie er selbst wollte, damit er nur seine moralische Wahrheit dadurch ausführen könnte: Ein Stifter neuer Reiche müsse gottesfürchtig, tugendhaft, sanftmüthig, standhaft und tapfer seyn. So hat er uns nun seinen Aeneas auf der See, in Sicilien, Africa und in Italien abgebildet. Er ist überall ein frommer und gnädiger; aber dabey unerschrockener Held. Turnus ist gegen ihn ein trotziger Starrkopf; Mezentius aber ein gottloser ehrvergessener Bösewicht zu nennen. Will man also die Aeneis ein Lobgedicht des Aeneas nennen, so war es doch nur ein erdichteter Aeneas, der mehr zeigte, wie ein Regent seyn soll; als wie einer wirklich gewesen war: und dadurch wird seine Fabel moralisch und lehrreich; weil Augustus und alle übrige Großen der Welt ihre Pflichten daraus abnehmen konnten.

9. §. Unter den Römern haben sich noch Statius und Lucanus in der epischen Poesie versuchen wollen; aber mit sehr ungleichem Fortgange: und das zwar wiederum aus Unwissenheit der Regeln, die sie doch in Aristoteles Poetik und im Homer und Virgil, als ihren Vorgängern, leichtlich hätten finden können. Statius nimmt sich nicht vor, eine moralische Fabel, sondern einen ganzen Lebenslauf des Achilles zu besingen: ohne eine weitere Absicht, als diese: daß er seinen Helden durch die Erzählung seiner Thaten loben will. Er[284] sammlet derowegen aus den alten Scribenten alles zusammen, was von dem Achilles jemals gesagt worden, und ordnet es nach der Zeitrechnung; beschreibt es auch in einer so schwülstigen Schreibart, daß man erstaunet, wenn man seinen rasselnden Dunst gegen das gelinde Feuer Virgils hält.


MAGNANIMUM AEACIDAM, FORMIDATAMQUE TONANTI

PROGENIEM, ET VETITTAM PATRIO SUCCEDERE COELO,

DIUA REFER: QAMQUAM ACTA VIRI MULTUM INCLYTA CANTU

MAEONIO, SED PLURA VACANT. NOS IRE PER OMNEM,

SIC AMOR EST, HEROA VELIS.


10. §. Es ist also mit dem Innhalte dieses vermeynten Heldengedichtes eben so beschaffen; als wenn jemand einen Lebenslauf von der Maus schreiben wollte, der in den äsopischen Fabeln, so oft gedacht wird. Dieser könnte auch die Muse anrufen, ihm alle die Thaten dieses berühmten Thieres kund zu thun. Aesopus hätte zwar hier und da etwas berühret; aber er hätte Lust, alles aufs vollständigste zu beschreiben, und also etwas Vollkommeners zu Stande zu bringen. Le Bossu hat eine solche lange Kette von Fabeln zusammen gesetzt, und den Helden derselben, aus der Homeri Batrachomyomachie, Meridarpax genennet, welche man auf der 80. und folg. S. nachlesen kann. So wenig aber ein solch zusammen gestümpeltes Werk der Batrachomyomachie Homers oder unserm Froschmäuseler, oder nur der geringsten äsopischen Fabel vorzuziehen seyn würde: Eben so wenig ist Statius mit seiner Achilleis, dem Virgil oder Homer an die Seite zu setzen.

11. §. Ein gleiches kann man vom Lucan sagen. Sein pharsalischer Krieg ist eine wahrhafte Historie, von einer unlängst vorgefallenen Schlacht, zwischen dem Cäsar und Pompejus. Er erzählt dieselbe in der gehörigen Zeitordnung, und vertritt also die Stelle eines Geschichtschreibers, nicht aber eines Poeten. Hier ist gar keine allgemeine moralische Fabel[285] zum Grunde gelegt: folglich ist auch seine Pharsale kein Gedichte, sondern eine in hochtrabenden Versen beschriebene Historie; die zwar in der That viel schöne Gedanken in sich hält, auch zuweilen in einigen Stellen die Natur gut genug nachahmet, z.E. wenn er den Cato in den lybischen Wüsteneyen vom Orakel Hammons reden läßt; allein überhaupt den Namen einer Epopee niemals wird behaupten können. Eben das könnte auch von dem Silius Italicus, der den punischen Krieg in Versen beschrieben hat, gewiesen werden, wenn es der Mühe verlohnte, daß man sich dabey aufhielte.

12. §. Nachdem die Gelehrsamkeit in Europa, sonderlich im Occidente, unter die Bank gerathen war, und die Völker gegen das dreyzehende oder vierzehende Jahrhundert etwas zur Ruhe kamen, ward eine neue Art von Fabeln erfunden, die den Heldengedichten sehr nahe kam. Dieses waren die Ritterbücher, z.E. vom Amadis in Frankreich, vom großen Roland, vom Sonnenritter, von den vier Haymonskindern, von den Rittern von der runden Tafel, von den sieben weisen Meistern, vom Kaiser Pontianus, von der schönen Melusine, von der schönen Magellone u.a.m. deren Titel und Namen noch hier und da vorkommen. Die Gelegenheit dazu mögen wohl theils die alten Kriege Carls des Großen, theils die Kreuzzüge nach dem gelobten Lande gegeben haben, die damals mit so großem Eifer gegen die Saracenen unternommen wurden. Alle jungen Prinzen, Grafen und Edle setzten sich auf, und zogen auf Abentheuer aus, schwärmeten etliche Jahre in der Welt herum, und wenn sie eine Weile ihre Lust gebüsset hatten, kamen sie nach Hause, und logen große Plätze von ihren Thaten her. Da hatten sie feurige Drachen, und dort große Riesen erlegt; hier ganze Länder, dort keusche Prinzeßinnen errettet u.s.w. Die Unverständigen hörten diesen so wohl versuchten Rittersleuten, als neuen Evangelisten zu; und die eine Gabe zum Schreiben hatten, kamen auf die Gedanken, ganze Bücher von solchen wunderlichen Abentheuren zu verfertigen. Da gieng es nun an ein Schwärmen. Räuber und[286] Mörder, irrende Ritter, ungeheure Riesen, verkleidete Prinzeßinnen, Wüsteneyen, Wälder, Höhen, Berge, Mord und Todtschlag, Drachen, Teufel, Erscheinungen, Hexenmeister und Zauberschlösser; das alles, sage ich, kostete ihnen nichts: daher verschwendeten die Herren Poeten diese Zierrathe in ihren Gedichten ohne Maaß und Ziel; und wer seine Fabeln am besten damit ausstaffiren konnte, das war der beste Dichter.

13. §. Es ist unnöthig zu sagen, daß auch in Deutschland dieser Geschmack der Ritterbücher eingerissen gewesen: denn ein jeder besinnt sich wenigstens auf den gehörnten Ritter Siegfried; des Herkules und Herkuliscus und Arminius itzo nicht zu gedenken, die vielleicht zu einer bessern Classe gehören. So viel ist gewiß, daß der Ritter Theuerdank ein solch Buch ist, welches Melchior Pfinzing, ein Probst zu St. Alban in Nürnberg, dem Kaiser Maximilian zu Ehren verfertiget hat. Die deutsche Gesellschaft besitzt davon die erste Ausgabe, die zu Nürnberg 1517. im größesten Formate von lauter geschnittenen Holztafeln abgedruckt worden, und Kaiser Carln dem V. als Könige von Spanien, zugeschrieben ist. Denn obwohl ein gelehrter Mann in Altdorf in diesem vor mehr als 200. Jahren geschriebenen Werke die Spuren von den Regeln eines Heldengedichtes finden wollen; wie aus seiner besondern Dissertation über dieses Buch erhellet: so sehe ich doch nicht ab, daß der gute Verfasser desselben dieses im Sinne gehabt; wie eben dieser geschickte Scribent bald darauf selber gesteht. Wir lassen also unsern Theuerdank unter der Zahl der Heldenbücher, die dem barbarischen Geschmacke unsrer Vorfahren; nicht aber den Regeln eines vernünftigen Heldengedichtes gemäß sind. In Spanien, ja in ganz Europa hat der berühmte Spanier Cervantes durch seinen Don Quixote, Ritter von Mancha, den irrenden Rittern einen gewaltigen Stoß gegeben. Und da sich also dieselben in Frankreich, durch des Herrn von Urfe Asträa, in eine Schäfergestalt verwandelten; da auch Scudery und andre ihren Cyrus, ihre Clelia und unzähliche[287] andre von der Gattung, in so vielen Bänden ans Licht stelleten, darinnen sie alles mit verliebten Thorheiten erfüllten: so kam Boileau, und machte ein Gespräche, nach Art Lucians, darinn er das lächerliche Wesen dieser Romane entdeckete; wozu denn auch Corneille durch seinen BERGER EXTRAVAGANT, den bey uns A. Gryphius übersetzt hat, das seine beytrug. Wir Deutschen haben auch etliche Fuder solcher Liebesfabeln aufzuweisen, die nicht ein Haar besser sind, als die der französische Satyricus ausgelachet hat: darunter denn Arminius, Herkules, Octavia und Aramena die obersten Plätze verdienen. Man sehe hierüber den dritten Theil der Maler in dem Gespräche der Todten, das eines Theils nach dem obigen des Boileau, sehr artig nachgeahmet ist; imgleichen die critischen Beyträge in dem Artikel von der Banise.

14. §. Nichts ist bey dem allen mehr zu bewundern, als daß Tasso diesen gothischen Geschmack der Ritterbücher mit den griechischen Regeln eines Heldengedichtes zu verbinden gesucht. Sein befreytes Jerusalem ist in der That eine Vermischung zweyer so widriger Dinge; und es ist leicht zu begreifen, wie er darauf gefallen ist. Er beschreibt den siegreichen und glücklichen Kreuzzug der christlichen Armee im Oriente; die gleichsam ganz und gar aus lauter solchen irrenden Rittern bestanden. Da war es nun kein Wunder, daß auch alle die gewöhnlichen Zierrathe der Heldenbücher, kriegerische verkleidete Prinzeßinnen, Zauberschlösser, Hexenmeister, Liebesgeschichte und Abentheuer die Menge darinnen vorkamen. Indessen hat er die Fabel selbst, so ziemlich nach den Regeln Aristotels eingerichtet, weil er nichts als die Eroberung Jerusalems zur Haupthandlung hat, und alles, was dazu gehörte, ausführlich erzählet; den klugen und tapfern Gottfried aber zu gleicher Zeit sehr er hebt.

15. §. Nur mit der Moral sieht es ein wenig seltsam aus; und nichts ist wunderlicher, als wenn Tasso selbst in der Vorrede uns erklären will, was seine ganze Fabel für einen allegorischen Verstand habe. Sein ganze Gedichte soll das menschliche[288] Leben abbilden. Das ganze christliche Kriegsheer bedeutet den Menschen im männlichen Alter; und zwar die Heerführer die Seele, und die Soldaten den Leib. Die Stadt Jerusalem, die zwischen Bergen und Felsen liegt, und die so schwer zu erobern ist, soll die bürgerliche Glückseligkeit bedeuten, die auf dem hohen Gipfel der Tugend erstlich zu erlangen steht. Gottfried, der oberste Befehlshaber der Armee, stellet den Verstand des Menschen vor. Rinaldo und Tancredo bedeuten die untern Seelenkräfte. Die Uneinigkeiten unter den andern Helden bedeuten den Streit zwischen den Begierden des Menschen: die Hexenmeister, Ismeno und Armida, die Versuchungen des Teufels, u.s.w. Solche Geheimnisse hätte nun wohl kein Mensch in dem befreyten Jerusalem gesuchet, wenn sie uns der Poet nicht selbst erkläret hätte. Das Wunderlichste dabey ist, daß der Poet sein Gedichte schon fertig gehabt, als er an diese künstliche Allegorie gedacht, und daß er sie also mehr hineingezwungen, als das Gedichte ihr zu gefallen gemacht hat. Allein, da dieses ein Ueberrest des übeln Geschmacks ist, der zu seiner Zeit unter vielen noch herrschete: so wollen wir diesen Fehler am Tasso übersehen; zumal seine Vorrede gerade das allerschlechteste ist, was an seinem ganzen Gedichte vorkömmt.

16. §. Meine Absicht und der Raum leiden es nicht, von den portugiesischen und spanischen Heldengedichten zu handeln. Voltaire hat dem Camoens die Ehre gethan, seine Lusiade, und dem Alonzo seine Araucana unter die Zahl der Heldengedichte zu zählen. Allein nach unserer Beschreibung und den Regeln der Kunstrichter schickt sich dieser Name für ihre Werke nicht: denn sie sind nur poetisch abgefaßte Historien; aber keine epische Fabeln, die unter den Allegorien einer Handlung moralische Wahrheiten lehren. Voltaire hat es indessen für gut befunden, zum Heldengedichte weiter nichts, als die poetische Erzählung einer merkwürdigen That oder Handlung zu erfordern: das übrige möchte aussehen wie es wollte. Vermuthlich hat ihn seine Henriade dazu verleitet, die er allem Ansehen[289] nach eher geschrieben; als er die Regeln des Heldengedichtes recht inne gehabt. Denn sie ist auch nur die Erzählung einer wahren Historie, mit einigen darzu gedichteten und untermischten Fabeln. Wäre aber dieses zu einer Epopee genug, so sehe ich nicht, warum wir Deutschen nicht auch schon an Bergonens und Areteen Liebes- und Heldengeschichten, dergleichen aufzuweisen hätten, welche ein preußischer Edelmann, Otto Friedrich von der Gröben, im Jahr 1700. in einem starken Quartbande herausgegeben. Dieses lange Gedichte beschreibt des Verfassers eigene Reisen ins gelobte Land: so wie Alonzo seinen eigenen Feldzug wider ein amerikanisches Volk besungen hat. Es sind Fabeln genug darzwischen gedichtet, indem seine Aretee und ihr Bruder Sfortunian, dadurch er allegorisch die Tugend und das Unglück anzeigen wollen, eine sehr artige Verwirrung in der Geschichte machen. Und ich könnte dergestalt meinem Vaterlande die Ehre beylegen, daß es den ersten epischen Dichter in Deutschland hervorgebracht hätte: wenn es nicht vernünftiger wäre, bey den Regeln und Mustern der Alten zu bleiben.

17. §. Ich übergehe hier auch mit Fleiß den Milton und Chapelain, davon jener in Engelland sein verlornes Paradieß besungen; dieser in Frankreich sein Mägdchen von Orleans in einem Heldengedichte beschrieben hat. Ohne Zweifel hat dieser letztere die Regeln der Epopee besser als jener beobachtet: gleichwohl aber ist er, wegen der schlechten Verse, die er gemacht, von ganz Frankreich, den Perrault ausgenommen, mit seiner so vieljährigen Arbeit nur ausgelacht worden. Man hat, wie bekannt ist, den Vers auf ihn gemacht:


ILLA CAPELLANI DUDUM EXSPECTATA PUELLA,

POST TANTA IN LUCEM TEMPORA PRODIT ANUS.


Mit weit besserm Rechte ist Fenelon mit seinem Telemach hieher zu rechnen, den Neukirch bey uns in Verse übersetzet hat. Man kann von uns Deutschen von dem habspurgischen[290] Ottobert und von Postels Wittekind eben das sagen. Diese Fabeln an sich, oder die Gedichte selbst sind besser gerathen, als ihre rauhe und garstige Verse: daher sich sehr wenige überwinden können, solche verdrießliche Werke zu lesen. Siehe davon die critischen Beyträge nach. Milton hat hingegen in Engeland durch den Beyfall einiger Critikverständigen, als Roscomons, Addisons und Steeles, die Hochachtung seiner ganzen Nation erlanget, und ist noch neulich ins Französische übersetzt heraus gekommen. Wir haben ihn längst in unsrer Sprache, und zwar in eben solchen fünffüßigen, ungereimten Versen übersetzt gehabt, ob wohl sich diese Ausgabe schon etwas rar gemacht hat. Noch neulich hat man uns in der Schweiz eine neue deutsche Uebersetzung in ungebundner Rede davon geliefert; die aber von großer Härte ist, und ihrem Grundtexte keine völlige Gnüge thut, außer daß sie das ungeheure, rauhe und widrige des Originals in seiner völligen Größe ausdrückt. Man sehe hiervon den Auszug im I.B. der critischen Beyträge und das erste Stück des Dichterkrieges im I. Bande der Belustigungen des Verstandes und Witzes nach. Wir haben auch sonst von allen alten Gedichten, bis auf den Tasso, Ariost und Marin Uebersetzungen; die aber nach Beschaffenheit der Zeiten besser oder schlechter gerathen sind.

18. §. Es ist Zeit, von dem historischcritischen Theile dieses Hauptstückes auf den dogmatischen zu kommen, und demjenigen, der die innere Einrichtung der alten Heldengedichte recht einsehen, oder gar selbst ein neues verfertigen will, einige Anleitung dazu zu geben. Was Vollkommenes aber läßt sich von einem so großen Werke in wenigen Blättern nicht sagen. Man muß Aristotels Poetik mit Daciers Noten, und den Pater le Bossu selbst lesen, wenn man alles ausführlich wissen will. Ich werde mich begnügen, nur einen kurzen Auszug aus ihren Büchern zu machen.

19. §. Was eine epische Fabel sey, das ist in dem vierten Capitel des ersten Theils dieser Dichtkunst allbereit gewiesen,[291] und bisher unvermerkt wiederholet worden. Ein Heldengedicht überhaupt beschreibt man: Es sey die poetische Nachahmung einer berühmten Handlung, die so wichtig ist, daß sie ein ganzes Volk, ja wo möglich, mehr als eins angeht. Diese Nachahmung geschieht in einer wohlklingenden poetischen Schreibart, darinn der Verfasser theils selbst erzählet, was vorgegangen; theils aber seine Helden, so oft es sich thun läßt, selbst redend einführet. Und die Absicht dieser ganzen Nachahmung ist die sinnliche Vorstellung einer wichtigen moralischen Wahrheit, die aus der ganzen Fabel auch mittelmäßigen Lesern in die Augen leuchtet. Daß es nun mit den drey obgedachten Heldengedichten der Alten diese Bewandniß habe, das ist aus dem obigen schon abzunehmen: ich will also nur stückweise diejenigen Hauptpuncte durchgehen, die bey einem Heldengedichte zu beobachten sind. Es sind deren sechse; I. die Fabel, II. die Handlung, III. die Erzählung, IV. die Gemüthsbeschaffenheit der Personen, V. die Maschinen oder der Beystand der Gottheiten, VI. die Gedanken nebst der Schreibart.

20. §. Was die Fabel anlangt, so wissen wir bereits, daß selbige anfangs ganz allein erdacht werden muß, um eine moralische Wahrheit zu erläutern. Z.E. Ich wollte lehren, die Uneinigkeit sey sehr schädlich. Dieses auszuführen, dichte ich, daß etliche Personen sich mit einander verbunden gehabt, ein gemeinschaftliches Gut zu suchen; wegen einer vorgefallenen Mishälligkeit aber hätten sie sich getrennet, und hätten sich also ihrem Feinde selbst in die Hände geliefert, der sie einzeln gar leichtlich zu Grunde zu richten vermocht. Dieses ist die allgemeine Fabel, die der Natur nachahmet, allegorisch ist, und eine moralische Wahrheit in sich schließt. Homer, der ein Heldengedichte daraus zu machen willens war, that nichts mehr dabey, als daß er den Personen Namen gab, und zwar solche, die in Griechenland berühmt waren, und das ganze Land aufmerksam machen konnten. Denn er wollte nicht, wie ein Philosoph, in der Schule, von Tugenden und Lastern[292] predigen; sondern seinem ganzen Vaterlande, allen seinen Mitbürgern, ein nützliches Buch in die Hände geben, daraus sie die Kunst lernen könnten, ihre gemeinschaftliche Wohlfahrt zu befördern. Die kleinen griechischen Staaten waren sehr uneins; und das rieb sie auf. Die nackte Wahrheit dorfte er ihnen nicht sagen; darum verkleidet er sie in eine Fabel. Der trojanische Krieg war noch in frischem Andenken, und hier fand er einen Agamemnon und Achilles, die miteinander uneins geworden: es sey nun, daß der Ruf solches bis auf seine Zeiten gebracht; oder, daß er es nur wahrscheinlicher Weise erdichtet hat. Er hebt an:


Singe mir, Göttinn, ein Lied vom Zorne des Helden Achilles,

Welcher dem griechischen Heere verderblich und schädlich geworden,

Und so viel Geister der Helden ins Reich des Pluto gestürzet,

Aber sie selbst den Hunden und Vögeln zur Speise gegeben.

So geschah Jupiters Rath, seit dem Agamemnon, der König,

Sich mit Achillen entzweyt. etc.


21. §. Um nun diese Wahrheit, als seine Absicht, recht begreiflich zu machen, mußte er zeigen, daß alles vorgefallene Unglück aus der Zwietracht entstanden wäre; und dieses gieng nicht besser an, als wenn er alle griechische Bundsgenossen anfänglich in der Zertrennung als unglücklich: hernach aber in der Vereinigung als glücklich und sieghaft vorstellete. Dieses thut er nun, indem er erzählet, daß die Griechen, in Abwesenheit des erzürnten Achilles, allezeit mit Verlust von den Trojanern zurück geschlagen worden; nach der Versöhnung dieses Helden aber, große Vortheile über ihre belagerte Feinde befochten hätten. Aber auch das war noch nicht genug. Er mußte uns auch die Ursachen der Uneinigkeit, und die Ursachen der erfolgten Aussöhnung, auf eine verständliche und wahrscheinliche Art entdecken, und also seine Fabel vollständig[293] machen. Daher erzählet er, wie der Zorn Achills über einer schönen Sklavin, die ihm Agamemnon mit Gewalt nehmen lassen, entstanden sey: und wie endlich der Tod des Patroklus den erzürnten Helden wieder bewogen habe, sich mit den Seinigen zu vereinigen, und dieses Blut seines Freun des an dem Hektor zu rächen. Nunmehro fehlet im Anfange nur die Ursache, warum doch Agamemnon den Achilles auf eine so empfindliche Art beleidiget? Er hatte nämlich die schöne Tochter des Priesters Apollons, die ihm zu theil geworden war, zurück geben müssen, weil die Pest im Lager auf keine andere Art zu stillen war; und darauf hätte er keine andere Beyschläferinn haben gewollt, als die dem Achilles zugehörete, weil dieser auf die Wiedergebung der Chryseis am heftigsten gedrungen hatte.

22. §. Das heißt nun eine vollständige oder ganze Fabel machen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende hat; so daß nichts daran fehlet. Es ist aber nichts Ueberflüssiges darinn. Homer hat nicht den Anfang des trojanischen Krieges, vielweniger die Entführung der Helena, und noch vielweniger die Geburt dieser Prinzeßinn aus den Eyern der Leda erzählet: weswegen ihn Horaz mit Grunde gelobt hat. Dieses alles gehörte nicht zum Zorne Achills; ob es gleich auch vorhergegangen war, und zum voraus gesetzt werden mußte. Der Poet sieht diese Begebenheiten für was bekanntes an, wobey er sich nicht aufzuhalten Ursache hat, und geht auf seinen Zweck zu. Nichts destoweniger hat er nicht unterlassen, seine Hauptfabel mit verschiedenen kleinen Zwischenfabeln zu verlängern, die aber auch zum Verstande der hauptsächlichsten nöthig waren. Alle diese haben wiederum ihre besondere Nutzbarkeit, weil sie neue moralische Wahrheiten in sich fassen; und dadurch den Leser unterrichten. Z.E. Wenn Patroklus die Rüstung des Achilles anzieht, und seine Waffen ergreift: so fliehen die Trojaner schon vor ihm; weil sie glauben, es sey der rechte Achilles. Patroklus sollte damit zufrieden gewesen seyn; allein, er dringet gar zu scharf auf den Hektor ein, und[294] nöthiget also denselben, es gewahr zu werden, daß er nicht der wahrhafte Achilles sey; bis er endlich gar das Leben darüber verlieret, und also die Strafe seines Trotzes empfindet.

23. §. Die Fabeln der Heldengedichte werden in pathetische und moralische eingetheilet. In jenen herrschet ein Affect, wie in der Ilias, und also können sie nicht so lange dauren. In der andern geht alles ruhiger her, also mögen sie auch etwas länger währen, wie die Odyssee und Aeneis. Denn die Dauer einer epischen Fabel hat keine so genau abgemessene Zeit als das Trauerspiel. Das macht, sie ist nur eine Erzählung, und wird nicht vorgestellet, sondern gelesen; welches alles in Schauspielen weit anders ist. Sonst werden sie auch in gemeine und verworrene getheilet. Von jenen giebt wiederum die Ilias ein Exempel, wo alles ohne Verstellung und Entdeckung der Personen vorgeht; die Zwischenfabel vom Patroklus ausgenommen. Aber von einer Verwirrung giebt wiederum die Odyssee ein Exempel, wo nicht nur eine Verstellung mit dem Ulysses geschieht, sondern auch ein Glückswechsel sowohl mit dem Ulysses, als mit den Buhlern seiner Gemahlinn vorgeht, indem seine Entdeckung zu gleicher Zeit geschieht, als man ihm den Bogen zu spannen giebt, und ein gewisses Merkmaal an ihm findet, daß er Ulysses sey. Doch hiervon muß in dem Capitel von der Comödie weitläuftiger gehandelt werden. Nach diesen Mustern nun muß ein jeder Poet, der ein Heldengedichte machen will, seine Fabel auch einrichten: das ist, er muß Wahrheit und Gedichte, Poesie und Philosophie, Nutzen und Lust mit einander zu vermischen wissen.

24. §. Zum andern müssen wir auch die Materie eines Heldengedichts, das ist, die Handlung betrachten. Die Morale ist nur die Absicht des Poeten, die er seinen Leser errathen läßt: das, was er deutlich heraus saget, ist die Heldenthat, die er hat loben wollen: z.E. die Rache des Achilles, die Rückkunft des Ulysses, die Ankunft des Aeneas in Italien. Aristoteles sagt ausdrücklich, es sey Μιμησις πραξεως, eine Nachahmung einer Handlung, und Horaz spricht:[295]


RES GESTAE, REGUMQUE DUCUMQUE & TRISTIA BELLA,

QUO SCRIBI POSSENT NUMERO, MONSTRAUIT HOMERUS.


Eine Handlung setzt allezeit jemanden voraus, der sie verrichtet: und das sind hier ausdrücklich die Großen der Welt, Könige und Fürsten, Helden und Kriegsobersten; ein Achilles und Agamemnon, ein Ulysses und Aeneas. Nach der obigen Regel, muß der Poet seine Handlung eher wissen, als den, der sie gethan: denn jene muß allein ausgedacht, und nur unter einem bekannten und berühmten Namen versteckt werden. Die Natur der Fabeln bringt solches mit sich, wie im IV. Capitel von den dreyen Arten der poetischen Nachahmung gewiesen worden. Aesopus sagt uns viel vom Wolfe, vom Schafe, vom Hunde, u.s.w. Nicht, als wenn er uns die Historien dieser Thiere bekannt machen wollte; sondern weil er uns unter ihren Bildern und Namen, gewisse allegorische Handlungen erzählen, und dadurch unterrichten will. Also ist denn die Handlung in einer Fabel wichtiger, als die Person, die sie unternimmt und ausführet.

25. §. Daher hat man denn allezeit diejenigen Dichter mit Grunde verdammet, welche nicht eine Handlung, sondern eine Person zur Materie ihrer Gedichte genommen haben. Aristoteles tadelt diejenigen, die eine THESEIS, HERACLEIS, und dergleichen gemacht, darinn sie den Theseus, Herkules, u.a.m. geschrieben hatten. Des Statius Achilleis gehört eben dahin, wie oben gedacht worden, weil er nicht eine Handlung des Achilles, sondern den ganzen Achilles darinn besungen hat. Wenn gleich die Odyssee vom Ulysses, und die Aeneis vom Aeneas den Namen hat: so zeigt doch der Inhalt zur Gnüge; daß es nicht Lebensläufe dieser Helden seyn sollen. Giebt doch auch Aesopus z.E. seiner Fabel den Namen: der Löwe und die Maus; ob er gleich nur eine einzige Handlung von diesen Thieren erzählt.

26. §. Es giebt aber diese Lehre von der Handlung auch diese Regel, was zu einem solchen Gedichte gehöret, und was[296] nicht dazu gehöret. Alles, was nöthig ist, dieselbe recht zu begreifen, ihre Möglichkeit und ihre Wirkungen aus ihren Ursachen einzusehen, das muß mit in die Fabel kommen: alles übrige aber muß heraus bleiben. So bekömmt denn ein Gedicht seine gehörige Größe. Ein Stümper würde alles hineinflicken, was er im Vorrathe hätte, und demselben eine gewisse Schönheit zu geben schiene, wie Horaz sagt:


PURPUREUS LATE QUI SPLENDEAT VNUS & ALTER

ASSUITUR PANNUS.


Allein das thut kein Meister. Aesopus würde auslachenswürdig seyn, wenn er von dem Wolfe, der eine Heerde in währender Uneinigkeit ihrer Hirten zerstreute, erzählet hätte: daß er sich einmal einen Dorn in den Fuß getreten hätte, und nach vielen Schmerzen allererst geheilet worden wäre. Das gehörte ja gar nicht zu der Handlung des Wolfes. Aber wenn etwa der Wolf in der Fabel von den Hunden ergriffen werden sollte; und wegen eines lahmen Fußes ihnen nicht hätte entgehen können: alsdann hätte Aesopus dergleichen Umstand gar wohl mit in die Fabel ziehen können. So hat es Homer mit dem Fusse des Ulysses gemacht, daran ihn seine Amme erkannt. Er erzählt, daß dieser Held einmal auf dem Berge Parnaß daran verletzet worden: aber warum? weil eben die Narbe dazu diente, daß man ihn daran erkannte, nachdem er so lange abwesend gewesen war. Eben so verhält sichs auch mit der verstellten Narrheit des Ulysses; wie Aristoteles solches selbst angemerkt und gebilliget hat.

27. §. Solche Kleinigkeiten nun, die von ohngefähr in einem Heldengedichte berühret werden, sind nicht die Materie eines Heldengedichtes selbst; sondern nur Nebendinge: die aber sehr genau mit etwas nothwendigem zusammen hängen, so, daß aus dem einen das andre nothwenig erfolgen muß. Ganz anders ist es mit den Zwischenfabeln beschaffen: diese müssen zwar mit der Hauptsache auch zusammen hängen, aber nicht[297] so nothwendiger Weise. Der Poet hätte sie auch auslassen und andre an die Stelle setzen können. Z.E. die Fabel von der Circe oder Calypso in der Odyssee, hängt sehr wohl mit dem ganzen Gedichte zusammen; aber sie waren beyde nicht unentbehrlich. Ueberhaupt mußte zwar Ulysses, in seiner Abwesenheit von Hause irgendwo seyn: aber deswegen nicht gerade bey der Circe. Voltaire hat in seiner Henriade ein solch Episodium gemacht, als er Heinrich den IV. nach Engelland reisen läßt. Und im Virgil ist die ganze Geschicht von der Dido für nichts anders anzusehen. Aber wie schon sonst gedacht worden, so ist dieses eine fehlerhafte Zwischenfabel: weil es so unmöglich ist, daß diese beyde Personen einander hätten sprechen können; als wenn Voltaire Henrich den IV. die Königinn Anna hätte besuchen lassen, die damals noch nicht gebohren war. Was von dem Knoten einer Fabel, und zwar theils von der Verwickelung, theils von der Auflösung desselben zu sagen ist, das erspare ich ins folgende Capitel von Tragödien: weil es sich daselbst bequemer wird abhandeln lassen; ungeachtet es auch in den Heldengedichten, eben so wohl als dort, statt findet.

28. §. Das dritte, was wir an einem Heldengedichte zu betrachten haben, ist die Erzählung oder die Art, wie der Poet seine Fabel vorträgt. Man kann vergangene Sachen auf zweyerley Art zu verstehen geben. Einmal erzählt man schlechterdings mit eigenen Worten, was dieser und jener gethan oder gesagt, und begnügt sich, alles der Wahrheit gemäß, ordentlich, deutlich und zierlich vorzutragen. Und so machen es die Historienschreiber. Die Poesie aber ist mit dieser einfältigen Erzählung nicht zufrieden. Man weis, daß eine gar zu einträchtige Rede endlich die Leute einschläfert: daher sucht sie ihren Vortrag lebhafter zu machen, und die Einbildung ihrer Leser zu erhitzen. Sie weckt derowegen die Verstorbenen gleichsam auf, malt sie so deutlich ab, als wenn sie uns noch vor Augen stünden, ja läßt sie reden und handeln, wie sie bey ihrem Leben würden gethan haben. Dieses ist nun die poetische[298] Art zu erzählen, die sonderlich in epischen Gedichten statt findet. Man sehe, was Plato im dritten Buche von der Republik, den Sokrates davon hat sagen lassen: denn dieser hat die Kunst Homers in seinem Erzählen vollkommen eingesehen. Sie heißen aber gleichwohl epische Gedichte, ob sie der Poet gleich so dramatisch, das ist, so wirksam machet, als es ihm möglich ist: weil doch allezeit der Poet darzwischen erzählet, und nur zuweilen an die Stelle seiner Personen tritt, und in ihrem Namen alles sagt. Und dadurch wird das epische Gedichte vom dramatischen unterschieden, als wo der Poet in seinem eigenen Namen gar nichts sagt; sondern alles von den aufgeführten Personen sagen und handeln läßt.

29. §. Ehe der Poet aber seine Erzählung anfängt, gehen einige Stücke vorher, die man folglich auch muß kennen lernen. Das erste ist der Name des Gedichtes; das andre der Vortrag seines Hauptsatzes, davon es handeln soll; das dritte aber die Anruffung der Musen. Einige möchten zwar noch die Zueignung des Gedichtes an einen Mecänaten zum vierten Stücke machen wollen; weil etwa Boileau in seinem Lutrin, Tasso in seinem Gottfried, und selbst Virgil in seinen Büchern vom Feldbaue dergleichen gethan. Allein Homer hat dergleichen nicht gemacht, Virgil in seiner Aeneis auch nicht: und also ist dieses kein unentbehrliches Stück eines Heldengedichtes. Wir wollen jene drey nach der Ordnung betrachten.

30. §. Weil das Heldengedichte eine Fabel ist; so taufet es ein Poet nicht anders, als Aesopus die Seinigen getaufet hat. Er nennet sie aber allezeit nach dem Namen der Thiere, die darinn vorkommen: z.E. der Wolf und das Schaaf; die Stadtmaus und Feldmaus u.d.gl. Eben so machte es Homer mit seiner Odyssee, und Virgil mit seiner Aeneis. Jene hat vom Ulysses, und diese vom Aeneas ihren Namen: der Unterscheid besteht nur darinn, daß dort zwey, auch wohl gar drey Namen, das ist, alle darinn vorkommende Personen genennet werden; hier aber nur eine einzige, und zwar die hauptsächlichste genennet wird. Das geht aber nicht anders an, weil dort so wenige,[299] hierinn aber so viele vorkommen, die man unmöglich alle nennen konnte. Hat aber Homer seine Ilias nicht eine Achilleis von der Hauptperson, sondern eine Ilias von dem Orte genennt: so ist sonder Zweifel die Ursache, daß Achilles fast in dem ganzen Gedichte müßig ist; und also von ihm sehr wenig zu erzählen vorfällt. Es sind aber neben ihm der Helden, die ihm an Würde noch überlegen sind, und denen er von rechtswegen gehorchen sollte, so viele, daß man ihn fast darunter verlieren könnte. Nach seiner Aussöhnung wird er allererst wirksam und thätig; da aber das Gedichte bald zum Ende ist. Homer hat also mit Recht ein Bedenken getragen, den Namen eines Helden über sein Gedicht zu setzen, von dem am wenigsten darinn vorkömmt, und von dem nicht viel erzählet werden konnte: weil er nur dessen Zorn und Enthaltung vom Streite, nicht aber seine Tapferkeit besingen wollte. Tasso ist dem erstern Exempel gefolgt, weil er sein Gedicht nach dem Heerführer der Armee, Gottfried von Bouillon, Gottfried nennt. Voltaire hat es auch so gemacht: denn da die erste Auflage LA LIGUE hieß, so hat er die andre lieber HENRIADE nennen wollen. Der PUCELLE D'ORLEANS, und unsers Ottoberts und Wittekinds voritzo nicht zu gedenken.

31. §. Der Vortrag ist nichts anders, als eine kurzgefaßte Anzeigung von demjenigen, was der Poet zu erzählen, willens ist. Da nun die Handlung der Fabel dasjenige ist, was die Materie oder den Innhalt des Gedichtes ausmacht; so muß er auch dieselbe namhaft machen. So machts Homer: er sagt: ich besinge den Zorn Achills, der so verderblich für die Griechen gewesen. Nun scheint zwar der Zorn keine Handlung, sondern eine Leidenschaft gewesen zu seyn: allein Achilles zürnte aus Rachgier, weil er wohl wußte, daß man ohne ihn nichts ausrichten würde. Und also war seine Leidenschaft von so großer Wirkung, als die eifrigste Handlung. In der Odyssee sagt der Poet zwar, er wolle von einem Manne singen: allein er setzt gleich hinzu, daß es ein solcher sey, der sehr viel erlitten habe, als er in sein Land zurücke kehren wollen. Virgil hat es nicht[300] viel anders gemacht, und also darf man sich dabey nicht aufhalten. Man merke nur, daß dieser Vortrag auf keine pralerische und hochtrabende Art geschehen muß. Horaz verbiethet solches ausdrücklich:


NEC SIC INCIPIES, VT SCRIPTOR CYCLICUS OLIM:

FORTUNAM PRIAMI CANTABO ET NOBILE BELLUM!

QUID DIGNUM TANTO FERET HIC PROMISSOR HIATU?

PARTURIUNT MONTES, NASCETUR RIDICULUS MUS.


Er lobt dagegen den Homer, daß er seinen Vortrag in der Odyssee so bescheiden gemacht, als es möglich gewesen. Lucan ist in diesem Stücke auch zu tadeln, weil er einen überaus schwülstigen Anfang zu seiner Pharsale gemacht hat. Und was würde Horaz gesagt haben, wenn er des Statius Achilleis hätte lesen sollen, deren Anfang schon im vorigen angeführet worden? Virgil hergegen ist in die Fußtapfen Homers getreten, und hat kein so großes Geschrey gemacht.

32. §. Nun folgt endlich die Anrufung der Musen, oder sonst einer Gottheit. Homer hat dieselbe gleich mit seinem Vortrage vermischet, Virgil aber besonders gemacht. Jener sagt nicht, daß er die Thaten seiner Helden erzählen wolle; sondern er bittet die Muse, solches zu thun. Dieser verspricht es zwar für sich zu thun, bittet aber die Musen bald, ihn solches zu lehren. Dem sey nun, wie ihm wolle, die Anruffung muß nicht vergessen werden: weil in einem solchen Gedichte Dinge vorkommen, die der Dichter wahrscheinlicher Weise, ohne die Eingebung einer Gottheit, nicht wissen könnte. Er setzt sich auch dergestalt durch seine Gottesfurcht bey seinem Leser in ein gutes Ansehen; ja er bringt ihn in eine Verwunderung, und macht ihn begierig, dergleichen hohe Sachen zu vernehmen. Was für Fehler hiebey pflegen begangen zu werden, das ist im fünften Capitel des ersten Theils schon ausführlich erinnert worden. Ich eile zur Erzählung selbst.[301]

33. §. Diese ist der eigentliche Körper des ganzen Gedichtes; und muß also ganz besondre Eigenschaf ten haben. Fürs erste muß die Erzählung einer epischen Fabel angenehm seyn: denn sie muß gleichsam den Zucker abgeben, der die vorkommenden Wahrheiten versüsset. Wir wissen, daß alles angenehm ist, was gewisse Schönheiten an sich hat: folglich muß die Erzählung eines Heldengedichts alle Schönheiten der poetischen Schreibart an sich haben, davon im ersten Theile schon gehandelt worden. Es können aber auch die Personen und Sachen angenehm seyn, von welchen man etwas erzählt: jene gefallen uns alsdann, wenn sie gewisse Charactere haben, und so zu reden leben. Alles muß in einem Heldengedichte Sitten haben, sagt Aristoteles; das ist, es muß eine gewisse Gemüthsart zeigen. Der Poet macht es wie die Maler, die ihren Figuren dadurch ein großes Leben zu ertheilen wissen. Die Sachen an sich müssen wunderbar und merkwürdig seyn; davon auch schon im fünften Capitel gehandelt worden. Eine Erzählung, der alle diese Stücke fehlen, ist kalt und verdrüßlich. II. Muß die Erzählung wahrscheinlich seyn. Oft ist die Wahrheit selbst unwahrscheinlich; und oft ist hergegen die Unwahrheit, ja selbst das Unmöglich sehr wahrscheinlich. Der Poet will mit seiner Fabel Glauben finden: also muß er lieber wahrscheinliche Dinge erzählen, gesetzt, daß sie nicht wahr wären; als die Wahrheit sagen, wenn man sie nicht glauben würde. Doch auch davon habe ich schon im sechsten Capitel gehandelt. III. Muß die poetische Erzählung wunderbar seyn. Die allergemeinsten Sachen sind die wahrscheinlichsten; allein diese erwecken keine Bewunderung: das Außerordentliche und Ungewöhnliche thut es weit besser. Das Unmöglich hingegen, oder was wir zum wenigsten allezeit dafür gehalten haben, kann solches gar nicht thun; man mag es uns so schön erzählen, als man will. Es ist also eine große Kunst, das Wahrscheinliche mit dem Wunderbaren geschickt zu verbinden. IV. Muß die epische Erzählung auch beweglich seyn. Eine schläfrige Historie hat keine Anmuth: die lebhafte Schreibart[302] des Poeten, voller Figuren und Affecten, die bezaubert und entzücket den Leser dergestalt; daß Horaz die Poeten, welche die Kunst verstehen, mit den Hexenmeistern vergleicht, die ihn erschrecken, besänftigen und aufbringen können. Und in der That wollen die menschlichen Affecten ohne Unterlaß gerührt seyn: denn eine angenehme Unruhe ist besser, als eine gar zu einträchtige Stille, worinn nichts veränderliches vorkömmt. Endlich muß V. die Erzählung auch dramatisch oder wirksam seyn; das ist, es müssen viel redende Personen eingeführt werden. So oft es dem Poeten möglich ist, muß er einen andern seine Rolle spielen lassen; und sich dadurch der Tragödie, so viel als ihm möglich ist, zu nähern suchen: wie dieses abermal Plato in der oben angezogenen Stelle sehr schön angemerket hat.

34. §. Es darf aber der Poet in seinen Erzählungen nicht immer der Zeitordnung folgen; sondern auch zuweilen mitten in einer Begebenheit etwas nachholen, was lange zuvor geschehen ist: wie es Virgil mit der Eroberung der Stadt Troja gemacht hat. Die Länge der Erzählung in einem Heldengedichte kann nicht größer seyn, als ein halbes Jahr. Homers Ilias dauret nicht länger als 47. Tage, wie Aristoteles selbst angemerket hat. Seine Odyssee währet nur 58. Tage, wie der Pater le Bossu solches nachgezählet hat: und also bedörfen beyde Gedichte noch nicht einmal zwey Monate zu ihrer Dauer. Vom Virgil hat man sonst gemeiniglich dafür gehalten, sein Gedichte daurete ein Jahr und etliche Monate. Allein eben dieser geschickte Kunstrichter hat es sehr wahrscheinlich erwiesen, daß auch die Aeneis nur einen Sommer und einen Herbst in sich begreife; in welcher Zeit Aeneas aus Sicilien nach Africa, von da wieder zurück nach Sicilien, endlich aber nach Italien geschiffet, und durch den Sieg über den Turnus zur Ruhe gekommen. Man muß ihn selbst deswegen nachschlagen, um davon überführet zu werden.

35. §. Zum V. kommen wir auf die Charactere der Personen in einem Heldengedichte, die von den Alten die Sitten genennet[303] werden. Man versteht aber nichts anders dadurch, als die ganze Gemüthsart eines Menschen, seine natürliche Neigungen, seine angenommene Gewohnheit, und alles, was daraus entsteht; das sind seine Unternehmungen und Handlungen. Man theilt diese Charactere in gute und schlimme ein; weil sie theils tugendhaft, theils lasterhaft sind: zuweilen scheinet es auch, als ob es eine gleichgültige oder mittlere Art derselben gäbe, die weder gut noch böse sind. Hier muß ein Poet die Morale verstehen, daß er die Tugend vom Laster, und wiederum die Scheintugend von der wahren zu unterscheiden wisse. Man muß hier auch die bloßen Eigenschaften der Menschen, z.E. die Wissenschaft, Klugheit, Erfahrung, Beredsamkeit, Stärke, Unerschrockenheit u.s.w. mit wahren Tugenden nicht vermischen. Jene kann sowohl ein Lasterhafter als ein Tugendharter besitzen; denn sie ändern eigentlich das Herz nicht. Gewisse Tugenden oder Laster zeigen sich nur in gewissen Gelegenheiten; als z.E. die Gnade, das Mitleiden, die Liebe, die Rachgier: andere aber leuchten überall hervor; wie des Achilles Gewaltthätigkeit, des Ulysses Verschlagenheit, des Aeneas Frömmigkeit. Und diese letztere Gemüthsarten sind eigentlich dasjenige, was man Charactere nennet.

36. §. Alles trägt zur Gemüthsart eines Menschen etwas bey; die Natur und ihr Urheber, das Land, da man gebohren ist, die Aeltern und Vorfahren, das Geschlecht und Alter, das Vermögen und der Stand, die Auferziehung, die Zeiten, darinn man lebt, die Glücks- und Unglücksfälle, die Personen, mit denen man umgeht, u.a.m. Dieses alles, sage ich, hilft die Neigungen und Sitten der Menschen bilden. Wenn also ein Poet die Gemüthsart seiner Helden wahrscheinlich machen will: so muß er aus dergleichen Ursachen dem Leser begreiflich machen, wie und warum dieser oder jener Held diesen und keinen andern Character gehabt? So hat es Virgil mit dem Aeneas gemacht, wie Bossu nach der Länge erweiset. Wie aber dieses bey den Hauptpersonen nöthig ist; also versteht sichs, daß es nicht bey allen übrigen angeht, die gleichwohl auch ihre[304] Charactere haben müssen: wie die Exempel der Dido, des Turnus, des Mezentius u.d.gl. erweisen. Wenn aber eine Person einmal diesen oder jenen Character bekommen hat, so muß sie dabey bleiben, und niemals dawider handeln.

37. §. Dieses ist nun die große Kunst, die uns Horaz so sorgfältig eingeschärfet hat:


INTERERIT MULTUM, DAUUSNE LOQUATUR AN HEROS,

MATURUSNE SENEX, AN ADHUC FLORENTE IUNENTA

FERUIDUS; AN MATRONA POTENS, AN SEDULA NUTRIX;

MERCATORNE VAGUS, CULTORNE VIRENTIS AGELLI;

COLCHUS AN ASSYRIUS; THEBIS NUTRITUS, AN ARGIS.

AUT FAMAM SEQUERE, AUT SIBI CONUENIENTIA FINGE.


Und hernach lehrt er ausdrücklich, wie man einen Achilles, einen Ixion, einen Orestes, eine Medea, eine Ino und eine Io, characterisiren solle. Daher kann man denn aus dem einmal bekannten Charactere einer Person sogleich wissen, was sie in diesen oder jenen Umständen thun oder lassen werde. Z.E. Aeneas wird uns in dem ersten Buche als sehr gottesfürchtig vorgestellt: und hernach reizt ihn Dido, wider den Befehl Jupiters, in Africa zu bleiben. Hier denkt man nun gleich, daß der fromme Held solches nicht thun werde: und siehe, er thut es auch wirklich nicht; welches eben die Schönheit wohlbeobachteter Charactere ist. Ja dieser fromme Character herrschet im ganzen Gedichte, in allen Umständen, die ihm begegnen. Er selbst bequemet sich nie der Gemüthsart eines andern; sondern geht unverrückt seinen Weg fort: alle andere Personen hergegen müssen sich oft nach ihm richten, und dieses ist der Vorzug, den die Hauptperson einer Fabel vor allen andern Nebenpersonen haben muß; daß nämlich das ganze Gedicht sich nach seiner Art richten, nicht aber hin und her ausschweifen müsse. Claudian in seinem RAPTU PROSERPINAE hat diese Regel ganz und gar nicht beobachtet: weil er bald die schrecklichsten, bald die angenehmsten Dinge von der Welt, durcheinander gemischet hat.[305]

38. §. Zum VI. kommen wir auf die Erscheinungen und den Beystand der Götter, welche Dinge man auf der Schaubühne Maschinen zu nennen pflegt. Weil in dem Heldengedichte alles wunderbar klingen soll, so müssen nicht nur gewöhnliche Personen; sondern auch ungewöhnliche darinnen aufgeführt werden. Dieses sind nun die Gottheiten und Geister, die der Poet allegorischer Weise dichten, und ihnen eben sowohl, als den Menschen, gewisse Charactere geben muß. So muß bey den Alten Jupiter die Allmacht, Minerva die Weisheit, das Verhängniß aber den unveränderlichen Willen Gottes vorstellen u.s.w. Im zehnten Buche der Aeneis stellt Virgil in einem Götterrathe auch die Juno, als die Gerechtigkeit, und die Venus, als die liebreiche Barmherzigkeit Gottes vor. Sind diese heidnische Gottheiten bisweilen einander zuwider; so bequemet sich hierinn der Poet unsern schwachen Begriffen, die sich auch auf die göttlichen Eigenschaften zuweilen als widerwärtig vorstellen. Wollen wir einen Beweis davon, so dörfen wir nur die Furien betrachten, die Jupiter dem Turnus zuschickt. Was glaubten nun die klugen Römer von den Furien? Cicero hat es in einer öffentlichen Rede wider den Piso gesagt: nämlich so viel als nichts.1 Kann man nun die Götter Homers nicht allezeit auf diese allegorische Art, wegen ihrer Charactere entschuldigen: so kann man doch die Fehler, die er begangen haben möchte, leicht auf die Grobheit seiner Zeiten schieben. Virgil hat schon gesundere Begriffe von der Gottheit haben können, und daher sind auch seine Charactere von den göttlichen Personen viel besser eingerichtet.

39. §. Ein Poet muß aber die Götter nicht ohne Noth in seine Fabeln mischen, wie Horaz ausdrücklich erinnert hat.


NEC DEUS INTERSIT, NISI DIGNUS VINDICE NODUS INCIDERIT.[306]


Homer könnte hier leicht der Sache zu viel gethan haben, weil seine Götter überall mit dabey sind. Tasso, Marino und Milton haben die Engel und Teufel, in ihren Gedichten, anstatt der alten Götter eingeführt. Hat nun Boileau jenen in seiner Dichtkunst deswegen getadelt, so dörfen wir diesen auch nicht schonen, zumal da er es auf eine so unvernünftige Weise gethan hat. In der That ist es weit besser, allegorische Gottheiten zu dichten: als zum Exempel die Zwietracht, die Politik, die Gottesfurcht und dergleichen, die Boileau in dem Lutrin eingeführet hat; derer zu geschweigen, die im Voltaire auf eben die Art vorkommen. Im übrigen gilt hier eben das, was oben von den menschlichen Charactern gesagt worden.

40. §. Endlich und zum VII. kommen wir auf den poetischen Ausdruck, oder auf die Schreibart eines Heldengedichtes. Wir wissen, daß die Schreibart überhaupt nur ein Vortrag unserer Gedanken ist; und folglich gehen wir hier auch auf die Art zu denken, die in einem Heldengedichte statt findet. Viele bilden sich ein, die Schönheit der Epopee bestehe in schönen Worten und Redensarten, in künstlichen Gedanken, in vielen Gegensätzen, in langen Beschreibungen, in vielen Gleichnissen und hohen Metaphoren, die nicht ein jeder verstehen kann. Ein Gedichte derowegen, das so aussieht, wie Lucan oder Claudian, das dünkt ihnen ein Meisterstück zu seyn: Virgil kömmt ihnen hergegen ganz wässerigt und frostig vor. Und wenn man sie fragt, warum sie jene Poeten so lieben? so verweisen sie uns auf etliche hochtrabende, aber nach ihrer Meynung scharfsinnige Stellen, die sie bewundern. Schreiben sie nun selber etwas, so suchen sie auch, in einzelnen Zeilen, lauter solche gesammlete Blumen und Edelgesteine anzubringen. Ueberall ist was künstliches, was gleißendes, was blendendes: nur überhaupt taugt das ganze Gedicht nichts.

41. §. Das ist nun nicht die Schreibart, die sich für ein Heldengedichte schickt. Der Poet erzählt eine Fabel, seine Leser zu lehren und zu bessern: er muß sich also theils in ihren Verstand, theils in ihren Willen schicken. Jenen zu unterrichten,[307] muß er sich einer ungezwungenen, aber doch reinen, deutlichen und zierlichen Art zu erzählen bedienen: wie wir in dem Capitel von der Schreibart gewiesen haben. Den Willen aber zu gewinnen und die Affecten zu rühren, muß er die pathetische Schreibart gebrauchen, wenn er nämlich Leute, die im Affecte sind, redend einführet. Der Poet muß sich selber vergessen, und nur auf seine Fabel, auf seine Personen und Handlungen, auf ihre Wahrscheinlichkeit und anmuthige Nutzbarkeit sehen. Er muß es sich nicht anders merken lassen, daß er viel Witz und Scharfsinnigkeit besitzet; als dadurch, daß er seine Leser in der Aufmerksamkeit erhält, sie von einer Begebenheit auf die andere, von einem Wunder aufs andre, von einer Gemüthsbewegung auf die andre leitet; sie bald nach Troja, bald nach Africa, bald in den Himmel, bald in die Hölle führet. Wer das kann, der wird für das Lob der Scharfsinnigkeit nicht sorgen dürfen. Wer aber nur auf die Spitzfündigkeit in Worten und Redensarten, auf künstliche Einfälle und anderes Flittergold sieht, der weichet von der Einfalt der Natur ab, darinn ihm Homer und Virgil in ihrer Schreibart vorgegangen sind. Hierinn ist sonderlich Marino nebst andern von dem Schlage zu tadeln. Tasso selbst, der doch unter seinen Landesleuten noch am vernünftigsten schreibt, ist von dem Voltaire, wegen seiner italienischen Künsteleyen in der Schreibart, mit Grunde getadelt worden. Und was wird man also von den übrigen sagen, die lauter AMPULLAS und SESQUIPEDALIA VERBA zusammen geraffet und ihre Gedichte damit ausstaffiret haben? Wer ausführlichere Regeln von dem allen verlanget, der muß den oft angezogenen Tractat vom LE BOSSU nachschlagen.


1

NOLITE PUTARE, VT IN SCENA VIDETIS, HOMINES SCELERATOS IMPULSU DEORUM TERRERI FURIARUM TAEDIS ARDENTTBUS. SUA QUEMQUE FRAUS, SUUM SCELUS, SUA AUDACIA DE SANITATE ET MENTE DETURBAT. HAE SUNT IMPIORUM FURIAE, HAE FLAMMAE, HAE FACES.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 308.
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