Das II. Capitel.
Von Cantaten.

1. §.


Die Cantaten sind eine neue Erfindung der Italiener, davon die Alten nichts gewußt haben: es hat aber gleichergestalt die Musik Gelegenheit dazu gegeben, und sie sind anstatt der Oden eingeführet worden. Weil nämlich in Liedern von einerley Strophen auch dieselbe Melodie beybehalten werden mußte: so ward man gewahr, daß sich dieselbe nicht zu allen Versen gleich gut schickte. Der erste Vers einer Ode war z.E. traurig, und gegen das Ende legte sich dieser Affect, ja veränderte sich wohl gar in eine Freude. Hatte sich nun die Gesangweise zum Anfange gut geschickt: so schickte sie sich zum Ausgange desto schlechter. Denn wie klingt es, wenn ein lustiger Text nach einer traurigen Melodie gesungen wird? War aber die Musik weder traurig noch lustig; so schickte sie sich weder zum Anfange noch zum Ende recht: weil sie keins von beyden in der gehörigen Schönheit vorstellete, und keine Gemüthsbewegung recht lebhaft ausdrückete. Nun hätten die Poeten diesem Fehler zwar abhelfen können, wenn sie in einem Liede nur einen Affect von Anfang bis zum Ende hätten herrschen lassen, wie es auch billig seyn sollte. Allein, da sie es nicht thaten; so gerieth man auf die Gedanken, die Lieder nicht mehr so gar einträchtig zu machen, keine solche ähnliche Strophen mehr zu beobachten; sondern Zeilen von ungleicher Länge, auf eine ungebundene Art[59] durch einander laufen zu lassen, und alsdann die Musik durchgehends, nach dem Inhalte des Gedichtes, zu bequemen. Dadurch hoffte man jenen Uebelstand der Oden gewiß zu vermeiden, und jede Zeile eines solchen Gesanges, dem darinn herrschenden Affecte gemäß, auszudrücken; jedem Worte nach seinem rechten Sinne den gehörigen Ton und Nachdruck geben zu können.

2. §. Die Sache war nicht schwer ins Werk zu richten: Denn die Poeten bekamen mehr Freyheit, und die Componisten fanden tausendfache Gelegenheit, ihre Künste und musikalische Einfälle recht hören zu lassen. Sie bemüheten sich auch nunmehro, fast alle Sylben eines solchen Liedes, durch die Verschiedenheit des Klanges, auszudrücken, und alle mögliche Abwechselungen darinn zu versuchen. Sie giengen aber allmählich gar zu weit darinnen. Es war ihnen nicht mehr genug, daß sie eine Redensart auf einerley Art in die Musik setzten. Sie trauten sich selber so viel nicht zu, daß sie gleich die beste Art der Töne gefunden hätten: darum wiederholten sie manches Wort zwey, zehn, auch wohl zwanzig male, und zwar immer mit neuen Veränderungen. Sonderlich hielten sie sich bey gewissen Stellen verbunden, solches zu thun, wo sich ihre Kunstgriffe recht anbringen ließen. Wo nur die geringste Spur eines Affects, oder sonst eine Stelle vorkam, die sich einigermaßen durch das Singen und Spielen nachahmen ließ: da machten sie sich rechtschaffen lustig, und hielten sich oft bey einer Zeile länger auf, als man vorhin bey ganzen Oden gethan hatte. Jemehr die Musik dabey gewann, desto mehr verlohr die Poesie dabey. Bekam das Ohr dabey viel zu hören, so hatte der Verstand desto weniger dabey zu gedenken. Doch, da nicht alle Zeilen in einem solchen Gedichte bequem fielen, ihre Schnörkel anzubringen: so ließen sie dieselben nur so oben hin wegsingen, ja fast ohne alle Begleitung der Instrumente gleichsam herbethen; damit sich also Sänger und Spielleute indessen, zu der nächstfolgenden künstlichern Stelle desto besser vorbereiten könnten. Diesen[60] letztern gab man den Namen der Arien, oder Melodien; jene aber, die mehr geredet, als gesungen wurden, nannte man Recitative. Wenn aber eine mittlere Art vorfiel, die man weder so bunt und zierlich, als die Arien singen; noch so kaltsinnig, als die Recitative wollte herlesen lassen, so ward dieselbe ein Arioso genennet.

3. §. Wie die gemeinsten Arten der Lieder durchgehends von einem und demselben Sänger abgesungen werden, wenn nämlich nur eine Person darinn redet: so müssen auch wohl Cantaten, darinn kein Gespräche vieler Personen vorkömmt, nur von einer Stimme gesungen werden; es wäre denn, daß ein Baß, oder alle übrige Stimmen, den Discant desto angenehmer zu machen, sich durch und durch zugleich hören ließen, wie in Liedern, die man choraliter singet, zu geschehen pflegt. Allein hier müßte es auch wahrscheinlich seyn, daß der Text als ein Tutti, wie es die Welschen nennen; von vielen zugleich gesungen werden könnte: widrigenfalls wäre es ungereimt. Wie nun diese Regel von guten Componisten allemal beobachtet worden: also hat man sie auch vielmals ausden Augen gesetzt. Um die Mannigfaltigkeit vieler Stimmen in einer Cantate hören zu lassen, läßt man einen Vers, ein einzig Lied, das eigentlich nur eine Person singen sollte, von drey, vier, fünf Sängern, die einander ablösen, absingen: gerade, als wenn aus einem Halse alle die verschiedenen Stimmen kommen könnten. Ich tadle hiermit die Componisten nicht, die uns gern durch vielerley Annehmlichkeit zugleich belustigen wollen. Sie sollten aber nur zu Duetten, das ist, zu Cantaten, von zwey Personen, die sich mit einander besprechen, zwo Stimmen; zu dreyen, welches denn ein TRIO heißt, drey Sänger u.s.w. nehmen, und also die Wahrscheinlichkeit beobachten. Sie sollten auch einer Mannsperson, die singend aufgeführet wird, eine männliche Baß- und Tenorstimme geben, z.E. dem Neide, dem Zorne, dem Stolze, den vier Jahrszeiten u.d.gl. den Alt und Discant aber für weibliche Personen, z.E. der Liebe, der Schönheit, der Tugend, der[61] Vernunft, der Gottesfurcht, u.d.gl. behalten. Allein, wie oft dawider verstoßen wird, darf ich nicht erwähnen; denn es liegt allenthalben am Tage.

4. §. Sowohl von Arien, als Recitativen, haben uns viele, als zum Exempel Menantes in seiner theatralischen Poesie, ungleichen in der galanten Poesie, die er nur ans licht gestellet; eine Menge von Regeln gegeben, und wer weis, was für Geheimnisse daraus gemacht, die niemand verstünde, als der ein großer Kenner der Musik wäre. Alle laufen da hinaus, daß der Poet ein Sklave des Componisten seyn, und nicht denken oder sagen müsse, wie oder was er wolle; sondern so, daß der Musikus seine Einfälle dabey recht könne hören lassen. Dahin gehöret unter andern hauptsächlich die Regel: daß man die ersten Zeilen der Arien mit solchen Worten anfüllen müsse, dabey sich der Componist eine halbe Stunde aufhalten könne; wenn er irgend das Lachen, Weinen, Jauchzen, Aechzen, Klagen, Heulen, Zittern, Fliehen, Eilen, Rasen, Poltern, oder sonst ein Wort von dergleichen Art auszudrücken sucht. Dahin gehört ferner, daß man die ersten Zeilen einer Arie, so viel möglich ist, so einrichten müsse, daß sie am Ende derselben wiederholet werden können, und also eine Art von Ringelreimen daraus entstehe. Dahin gehörts endlich, daß die Recitative, theils aus kurzen Zeilen bestehen, theils an sich selbst sehr kurz seyn sollen; damit man von dem schläfrigen Wesen derselben nicht gar zu sehr verdrüßlich gemacht werde, u.d.m. Alle diese Regeln haben die Herren Componisten den Poeten vorgeschrieben, und diese haben sich dieselben, ich weis nicht, warum? vorschreiben lassen, ja sie wohl gar angebethet. Allein, wie wäre es, wenn ein Poet seinem Componisten auch einmal, nach Anleitung der Vernunft sagte, wie man seine Cantaten setzen sollte: es möchte nun dieses mit den Regeln und Exempeln ihrer so großen, aber oft sehr unnatürlichen italienischen Meister, übereinkommen oder nicht?

5. §. Wenn man die Cantaten, als eine Art von Liedern oder Oden ansieht, davon ich im vorigen die Regeln gegeben habe;[62] wie man sie denn ansehen muß: so versteht sichs von sich selbst, daß sie nicht aus kaltsinnigem, schläfrigem und schlechtem Zeuge bestehen müssen. Sie müssen einen gewissen Affect ausdrücken, oder voll erhabener und feuriger Gedanken, prächtiger oder zärtlicher Ausdrückungen seyn; kurz, sie müssen einen solchen Inhalt haben, der dem Componisten Gelegenheit zu guten Einfällen geben wird. Der Poet muß sich freylich auch bemühen, das munterste, sinnreichste und beweglichste in die Arien, das übrige aber, nämlich Erzählungen, Vernunftschlüsse, Sittenlehren, u.d.gl. ins Recitativ zu bringen. Er wird nach Beschaffenheit der Sachen auch mehr als eine Person darinn redend aufführen; damit der Wechsel vieler Stimmen destomehr Mannigfaltigkeit in dem Gesange hervorbringe. Er muß freylich auch seine Recitative nicht ganze Seiten lang machen, sondern bald wieder was muntres und scharfsinniges mit einzumischen bemühet seyn, welches eine Arie, oder doch ein Arioso abgeben kann. Alles dieses lehrt einen Poeten die gesunde Vernunft, nebst den Regeln der Dichtkunst; und man darf, solches zu wissen, eben selbst kein Musikmeister seyn. Man darf höchstens nur einige Cantaten mit Aufmerksamkeit gehöret, oder die dazu gehörigen Noten durchgesehen haben: so wird man schon bemerken, was gut oder übel klinget; wiewohl man oftmals den schönen Affect der Texte bedauren muß, der unter den Händen schlechter Componisten, alle seine Kraft verliert; indessen, daß sie sich bey schlechtern Stellen aufhalten.

6. §. Allein man wird es auch von seinem Componisten mit Grunde fordern, daß er nicht, durch eine verschwendete musikalische Kunst das Werk der Poesie unsichtbar mache, oder so verstecke, daß man nichts davon vernehmen kann. Dieses geschieht hauptsächlich, wenn sie durch unzählige Wiederholungen einer Zeile, halbe Stunden lang zubringen; einzelne Wörter so zerren und ausdehnen, daß der Sänger zehnmal darüber Athem holen muß, und endlich von den Zuhörern, seiner unendlichen Triller wegen, nicht verstanden[63] werden kann. Ferner kann ein Poet fordern, daß er eine gewisse Gleichheit in der Melodie einer Arie beybehalte, und nicht die erste Hälfte gar zu kunstlich, die andre aber gar zu schlecht wegsetze; daß er endlich die Recitative nicht so gar schläfrig herbethen lasse, als ob sie gleichsam keines musikalischen Zierrathes, keiner Begleitung von Instrumenten werth wären. Alle diese Regeln sind in der Natur so wohl gegründet; daß ich nicht wüßte, wie man ihrer hätte verfehlen können: wenn es den Italienern voriger Zeiten nicht mehrentheils schwer gefallen wäre, das natürlich Schöne vor dem gekünstelten zu empfinden, und in ihren Sachen nachzuahmen. Allein es giebt unter unsern deutschen Componisten schon Leute, die durch ihren eigenen vernünftigen Geschmack wieder auf das wahre und natürlich Schöne in der Musik gerathen sind, welches man eine geraume Zeit her mehrentheils verlohren hatte.

7. §. Ich kann hier den berühmten Herrn Capellmeister Hurlebusch nennen, der unserm Vaterlande gewiß Ehre machet. Dieser hat in sehr vielen Proben gewiesen, daß meine Forderungen in der Musik keine Chimären eines Menschen sind, der was unmögliches, oder ungereimtes begehret. Unter andern schönen Sachen, die mir von ihm vorgekommen, kann ich die Cantate, TU PARTI IDOLO MIO, DA ME TU PARTI ETC. anführen, darinn selbiger in allen Stücken meinem Verlangen ein Gnügen gethan hat. Er hat sich darinn aller der Fehler enthalten, die bey andern Componisten so gemein sind. Die Wiederholungen sind sparsam, nämlich nicht über dreymal; die Recitative sind voller Melodie, und es ist kein einziges Wort darinn gezerret; sondern alles wird hintereinander verständlich weggesungen. Eben dahin rechne ich seine Cantate, TU PARTI AMATO TIRSI, O DIO! imgleichen eine andere: MIRA QUEL AUGELLIN, COME VEZZOSO, ETC. ferner die CON DOLCE AURATE STRALE ETC. Endlich die DEH! SEN DOLCE TORMENTO ETC. Alle diese, und viele andere mehr, sind von eben der Art, und so beschaffen, wie ich sie oft gewünschet, aber nirgends gefunden hatte, ehe[64] mir seine Sachen bekannt geworden. Doch muß ich noch zu desto mehrerer Gewißheit seines guten Geschmacks auch die Cantate rühmen, die er mit Instrumenten gesetzt, und eben auf die Art, als die obigen, eingerichtet hat. Sie hebt an: FILLI, PIETA TU NIEGHI ETC.

8. §. Eben dergleichen kann ich auch von dem berühmten Händel rühmen. Seine Cantata, SAREI TROPPO FELICE, S'IO POTESSI DAR LEGGE ETC. ist eben sowohl nach den obigen Regeln gesetzet, als die vorigen: und in seiner Lucretia ist er gewiß in wenigen Stücken davon abgewichen. Auch Herr Graun, der itzo in der berlinischen Capelle die Ehre der deutschen Musik auf einen so hohen Gipfel bringet, daß wir allen Ausländern damit trotzen können; so, wie wir sie bisher mit unserm sächsischen Capellmeister Hasse, neidisch gemacht haben, hat an der Cantate, BELLA, TI LASCIO, O DIO! ETC. ein solches Meisterstück gemacht, wenn ich das einzige Wort RITORNERA in der andern Arie ausnehme, als welches gar zu lang ausgedehnet worden. Von Liebhabern, die von der Musik nur ein Nebenwerk machen, muß ich hier nothwendig den Herrn Secret. Gräfen, dessen schon im vorigen Capitel gedacht worden, seiner überaus angenehmen und natürlichen Composition halber, loben, die er in verschiedenen Cantaten, und auch an meinem Orpheus erwiesen hat. Bey dem allen bedaure ich nur, daß unsre deutschen Componisten, sich so gern an italienische Texte halten. Wie? Ist es denn ihre eigene Muttersprache nicht werth, daß sie in eine schöne Musik gesetzt wird? Und soll denn das Vorurtheil ewig dauren, daß man lieber unverständliche Silben, von Sängern, die insgemein kein italienisch können, verstümmeln, als durch Worte, die Sänger und Zuhörer verstehen, die völlige Stärke des Componisten, im Ausdrucke der Gedanken, kenntlich machen will?

9. §. Nachdem ich nun das Gute gelobt habe, so wird mir auch frey stehen, das Schlechte zu tadeln und zu verwerfen. Nichts ist mir lächerlicher, als wenn ich gewisse italienische Cantaten unter die Noten gesetzt sehe, oder singen höre. Sind[65] sie etwa verliebt, so wird der Sänger gewiß vor Liebe sterben wollen: und der Componist wird das liebe MORIR dreyßig, vierzig Tacte durch, so zermartern und zerstümmeln, daß einem übel davon werden möchte. Ja, sagt man, das ist eben schön. Der Musikus drückt dadurch aus, wie sehr sich das arme verliebte Herz quälen muß, ehe es stirbt. Gut! es zeigt aber auch an, daß es demselben noch kein Ernst mit dem Sterben sey; wenn es sich mit so viel künstlichen musikalischen Schnörkeln bemüht, seine Worte auf die Folterbank zu spannen. Wie es in diesem Affecte geht, so geht es mit allen andern. Ja, bey so vielen andern Wörtern macht man eben solche unendliche Coloraturen und Laufwerke, daran sich oft die beste Castratenkehle müde singet. Z.E. in einer gewissen Cantate, die Heinichen gesetzt hat, und so anfängt: LA DOVE IN GREMBO AL COLLE ETC. wo von dem Fliegen der Vögel durch die Luft eine Arie vorkömmt, da sind die Wörter AUGELLETTI, VOLATE, VOLO, und ARIA, so künstlich mit steigenden und fallenden Tönen gesetzt, und so vielfältig verändert, daß der Sänger zum wenigsten sechsmal Athem holen muß, ehe er ein einziges Wort absingen kann. Das soll aber den Flug der Vögel in der Luft vorstellen, der nämlich auch bald steiget, bald fällt. Wie natürlich es aber herauskömmt, das lasse ich einen jeden selbst urtheilen, der es singen höret, und den Text versteht. Mir kömmt es immer vor, daß man vor aller Kunst in den meisten italienischen Musiken den Text gar verliert; weil das Ohr zwar ein ewiges ha, ha, ha, ho, ho, ho, hertrillern höret, der Verstand aber gar nichts zu denken bekömmt.

10. §. Ich will mit dem allen eine vernünftige Wiederholung gewisser nachdrücklicher Wörter, so wenig, als die Nachahmung ihrer Natur, durch die Töne verwerfen, dafern solches nur angeht. Beydes ist nicht nur erlaubt, sondern auch schön; wenn es nur mäßig geschieht. Man wiederhole aber nur im Singen kein Wort, welches nicht der Poet auch im Texte ohne Uebelstand hätte wiederholen können. Das Singen ist doch weiter nichts, als ein angenehmes und nachdrückliches Lesen eines[66] Verses, welches also der Natur und dem Inhalte desselben gemäß seyn muß. Nun aber würde wohl kein Mensch, der mir einen Vers vorläse, gesetzt, daß der größte Affect darinn steckte, denselben mehr als zwey, höchstens dreymal wiederholen. Mehrmals muß er also auch nicht hinter einander gesungen werden, wenn es mich rühren, und also natürlich herauskommen soll. Ein guter Leser eines Gedichtes wird freylich das Weinen kläglich, das Lachen lustig u.s.f. ein jedes Wort nach seiner Bedeutung, mit einer guten Stimme auszusprechen wissen; sich aber auch dabey vor allem lächerlichen Zwange in acht nehmen. So muß es ein Musikus auch machen, und sich vor allen Ausschweifungen/hüten, die seinen Gesang dem natürlichen Ausdrucke der Gedanken, der unter vernünftigen Leuten gewöhnlich ist, unähnlich machen könnten. Man lese hier nach, was der critische Musikus, der in Hamburg herausgekommen, für vernünftige Regeln davon vorgeschrieben hat.

11. §. Eine Cantate muß sich ordentlicher Weise mit einer Arie anheben und schließen; damit sie theils im Anfange mit einer guten Art ins Gehör falle, theils auch zuletzt noch einen guten Eindruck mache: doch findet man im italienischen viele, die gleich von Anfang ein Recitativ haben. Die kürzesten darunter, haben nur ein einzig Recitativ in der Mitte; und bestehen also nur aus dreyen Theilen. Gemeiniglich aber hat eine Cantate drey Arien, und zwey Recitative, und die längsten sollen nicht mehr als vier oder fünf Arien haben. Diese können nun jambisch, trochäisch oder daktylisch seyn, nachdem es der Poet für gut befindet: das Recitativ aber anders als jambisch zu machen, das ist nicht gewöhnlich. Nur merke sich der Poet, daß er bey der Versart, womit er eine Arie anfängt, bis ans Ende bleibe; auch nicht kurze und lange Zeilen durcheinander menge, wenn er dem Componisten gefallen will. Selbst die Zeilen im Recitativ an Länge sehr ungleich, d.i. etliche von zwey, etliche von zwölf Sylben zu machen, das ist nicht angenehm. Die Reime gar zu weit von einander zu werfen, das[67] heißt eben so viel, als gar keine zu machen: und man thäte nach dem Muster der Welschen besser, sie gar nicht zu reimen; aber desto besser zu scandiren, welches die Italiener fast gar nicht thun. Weibliche mit weiblichen, und männliche mit männlichen Reimen zu vermischen, das klingt auch nicht gut; ob es gleich viele thun. Die Länge eines Recitativs kann man zwar nicht bestimmen: aber je kürzer es fällt, und je kürzer die Perioden darinnen sind, desto besser ist es, weil es insgemein so schlecht gesetzt wird, daß man es bald überdrüßig werden muß.

12. §. Wenn man anstatt des Recitativs entweder biblische Sprüche, auch wohl Verse aus geistlichen Liedern zwischen die Arien setzet, so heißt man ein solch Stück ein Oratorium: welches ohne Zweifel vom Bethen den Namen hat, weil dergleichen geistliche Gedichte zu Kirchenstücken gebraucht werden. Redet ein Paar mit einander, so nennen es die Musici ein Duetto; kommen drey Personen in der Poesie, und folglich im Gesange drey Stimmen vor, so nennet man es ein TRIO. Redeten aber noch mehrere mit einander, so, daß es auch desto länger würde, so müßte es eine Serenata heißen, und könnte zu fürstlichen Tafel- und Abendmusiken, imgleichen bey großen musikalischen Concerten gebraucht werden. Käme aber außer den Unterredungen auch eine Handlung darinne vor, die sich von lebendigen Personen ordentlich spielen oder aufführen ließe; so könnte es ein Drama heißen.

13. §. Denn auch hier muß man merken, daß es epische und dramatische Cantaten, Serenaten, oder wie mans nennen will, geben könne. Wenn der Poet selbst darinn redet, so ist es episch verfasset, obgleich hier und da auch andere Personen redend eingeführet werden. Ein schönes Exempel giebt des Herrn von Hagedorn Fabel: Vom schweren Dienst der Eitelkeit etc. die Herr Secr. Gräfe auf eine ganz neue aber unvergleichliche Art gesetzt hat. Läßt aber der Poet durchgehends andere Personen reden und handeln, so, daß er selbst nichts darzwischen sagt, sondern so zu reden, unsichtbar ist: so entsteht ein kleines theatralisches Stück daraus, welches von[68] dem griechischen δρᾶν, handeln, thun, ein Drama genennt wird. Singen nun die auftretenden Personen ihre Rollen ab; so ist ein solch Drama gleichfalls eine kleine Oper oder Operette, die etwa so lange als ein Aufzug einer großen Oper dauret, und nach Gelegenheit drey, vier oder fünf Auftritte hat. Wie die innere Einrichtung eines solchen dramatischen Stückes seyn müsse, das läßt sich erst in dem Capitel von theatralischen Spielen zeigen. Denn ungeachtet solche Dramata selten auf die Schaubühne kommen, sondern nur mehrentheils in Zimmern gesungen werden; ohne daß die Sänger in gehörigem Habite erscheinen, und wirklich das vorstellen, was sie singen: so müssen sie doch aufs genaueste so eingerichtet werden, daß sie gespielet werden könnten. Wie viele Poeten es in diesem Stücke versehen, wenn sie weder die Einigkeit der Zeit, noch der Handlung, noch des Ortes beobachten, das lehrt die Erfahrung: zu geschweigen, daß sie oft solche Sachen hineinbringen, die sich gar nicht würden vorstellen lassen.

14. §. Anstatt meiner Exempel, hätte ich gern aus unsern alten Dichtern, welche hergesetzet. Allein, in dem vorigen Jahrhunderte, hat man von dieser Art beynahe nichts gewußt; weil Dichter und Poeten sich an Oden begnüget haben. In dem itzigen Jahrhunderte, hat man zwar Cantaten genug gemacht, und gedrucket, aber fast immer auf besondere Personen und Gelegenheiten, die unsern Componisten zu nichts gedienet haben; außer was etwa geistliche Kirchenstücke gewesen sind. So hat man z.E. die Paßion auf verschiedene Art gesetzt, darunter aber Pietschens Ausdrücke viel zu schwülstig und hochtrabend sind, als daß sie sich zur Musik schickten. Wie es nun bey diesem Mangel an deutschen, moralischen und verliebten Cantaten zu wünschen ist, daß Dichter, die eine natürliche, fließende und bewegliche Schreibart in ihrer Gewalt haben, sich der Musik zu gut, auf diese Art der Gedichte mehr als bisher legen mögen: also habe ich mich genöthiget gesehen, zu der menantischen galanten Poesie meine Zuflucht zu nehmen, darinn verschiedene gute Stücke von dieser Art[69] vorkommen; die es auch, wohl werth wären, daß sie von guten Componisten gesetzt, und von guten Stimmen, in Concerten und andern Gesellschaften abgesungen würden. Dieses würde uns wenigstens von dem unverständlichen Geheule, italienischer Texte befreyen, die von den meisten deutschen Sängern, eben weil sie kein Welsch können, so zermartert werden, daß auch diejenigen Zuhörer, die italienisch können, keine Sylbe davon verstehen. Es würde auch bey deutschen Texten eine affectuösere Art zu singen bey uns aufkommen, wenn der Sänger selbst wüßte, was er singet. Denn wie will er den Worten mit der gehörigen Art ihr Recht thun, wenn er wie ein Papagey, oder wie eine Schwalbe, lauter unverstandene Sylben hergurgelt, oder abzwitschert?


Moralische Cantaten, aus Menantes galanten Poesien.

I. Cantate.


Hoffnung, süßer Trost des Lebens,

Der den bittern Schmerz versüßt.

Alle Sorgen sind vergebens;

Aber wo noch Hoffnung ist,

Ach! da muß auch Wermuthwein

Süßer noch, als Nectar seyn.


So geht es auf der Welt!

Wo alles schlecht genug bestellt.

Wir sehn nicht lauter helle Tage,

Ein jeder hat fast seine Plage.

Doch, weil die Hoffnung ihre Blicke,

Auch mitten in der Nacht,

Betrübten Herzen schenkt;[70]

So lacht der Trost, daß uns das falsche Glücke

Nicht übermäßig kränkt.


Unverhofft

Trägt sichs zu,

Daß die angenehmste Ruh

Aus der Unruh und Verdruß

Uns gewünscht, entsprießen muß.

Denn das Glücke wechselt oft,

Unverhofft.


Drum lasse man den Muth nicht fallen.

Ein fester Muth

Ist unser bestes Gut.

Ein Fels, ein Thurm,

An dem muß aller Sturm

In Widerwärtigkeit zurücke prallen;

Drum lasse man den Muth nicht fallen.


Wer verzaget, giebt sich bloß,

Daß ihn auch der schwächste Stoß

Stürzen kann.

Blöde seyn, ist Weiberart;

Doch, wer keine Kräfte spart,

Ist ein Mann.


Wohlan!

So steh ich, als ein Mann,

Wenn alle Wetter krachen.

Die Hoffnung wird mir doch den Himmel heiter machen.


Laß es donnern, laß es wettern,

Laß das Unglück rasend seyn.

Nichts soll meinen Trost zerschmettern,

Hoffnung läßt mich sicher ein.[71]

So mag es denn hageln, so mag es nur blitzen:

Ich hoffe durch Hoffnung in Ruhe zu sitzen.


II. Cantate.


Verdammter Neid!

Was hab ich dir gethan?

Daß ich zu keiner Zeit

In meiner Einfalt bleiben,

Und für mich leben kann?

Verdammter Neid!

Was hab ich dir gethan?


Du mußt dich an mir reiben,

Und darfst dich nicht entblöden,

Mir alles Böse nachzureden?

Wenn ich die Hände gleich in Unschuld täglich wasche;

So klebt dir doch noch mancher Makel dran,

Der dir in deinen Augen,

Die Galle rege machen kann.

Du Spinne! mußt auch Gift aus Rosen saugen?


Doch immerhin! ich will mich wenig kränken!

Weil doch

Dich dein verteufelt Gift,

Zu eigner Pein, am allermeisten trifft.

Der Himmel wird mir noch

Gewünschte Ruh und sichern Frieden schenken.


Unschuld muß doch immer leiden,

Und von Lästrern lassen neiden;

Doch sie ist sich selbst ein Trost.

Wenn ein Neider sich erboßt,[72]

Und die falschen Zungen stechen,

Wird sie selbst der Himmel rächen.


III. Cantate.


Sanftmuth, Langmuth, Freundlichkeit,

Sind die Waffen,

Die uns auf den ärgsten Streit

Sieg und Frieden können schaffen.

Welcher diesen Küraß trägt,

Dem wird recht der Heldentitel

Von der Tugend beygelegt.


Es geht nicht immer frölich zu.

Oft tritt uns einer auf den Fuß,

Man muß

Den Schmerz verbeissen.

Tritt er uns auf die Schuh,

So laß es gut und unempfunden heißen.

Zwar mancher macht ein Wetter draus,

Und sinnt auf Kugeln, Schwerdt und Pfeile:

Doch endlich treffen ihn noch selber Donnerkeile.


Blitz und Schwerdt in Händen tragen,

Und damit den Feind nicht schlagen,

Ist ein Werk, das göttlich heißt,

Wenn ein Mensch sich so erweist,

Ach dem wird mit Lorberkronen

Der Himmel die Großmuth auf ewigbelohnen


Wohl dem, der alles kann zum Besten kehren!

Der kleinste Regen wird dem größten Feuer wehren.

Kein muntres Roß läßt sich mit Schlägen zwingen,

Mit Streicheln wird mans eh zu rechte bringen,[73]

Auf Eßig giebt man Oel,

Und Wasser unter starken Wein.

So müssen auch auf harte Worte

Gelinde Reden seyn.

Die Sanftmuth kann auch Honigkuchen

In eines Löwen Rachen suchen.


Hart auf hart thut niemals gut.

Auf den dichten Marmorstein

Müssen stumpfe Sägen seyn,

Bis er von einander fällt.

So machte die politsche Welt.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 57-74.
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