An den Leser.

[393] Vorrede zu A


Dieses Buch würde keiner Vorrede bedörfen, wenn ich es nicht vor nöthig hielte, den Titel desselben, wieder die Einwürfe derjenigen zu vertheidigen, denen derselbe gleich bey dem ersten Anblicke anstößig scheinen dörfte. Ich besorge, daß solches auf zweyerley Art geschehen werde; darum will ich mich über beydes ausführlich erklären.

Zuerst wird es vielen nicht gefallen, daß ich meine Dicht-Kunst eine Critische Dicht-Kunst nenne: theils weil sie an allem was critisch ist, einen Mißfallen haben; theils, weil sie mirs nicht zutrauen werden, daß ich mich mit sattsamer Fähigkeit dergleichen Werck auszuführen unterstanden. Wenn es Feinde der Critick unter uns giebt, so haben sie entweder keinen rechten Begriff von derselben; oder sie verstehen gar wohl was critisiren heißt, hassen es aber deswegen, weil sie ein böses Gewissen haben, und ihre Schrifften nicht gern in Gefahr setzen wollen, als schlecht erfunden zu werden. Denen ersten kan man leicht begegnen, wenn man ihnen nur zeigt, daß die wahre Critick keine schulfüchsische Buchstäblerey, kein unendlicher Kram von zusammengeschriebenen Druck- und Schreibefehlern, die in den alten Scribenten begangen worden; kein übelverdauetes Bücherlesen; kein wüster Haufe unendlicher Allegationen und fremder Meynungen von einer verderbten Stelle in Hebräischen, Griechischen und Römischen Büchern sey. Leute, so dieses alles thun, und ihr Handwerk in der That verstehen, thun uns gute Dienste, indem sie sich bemühen uns die alten Scribenten so richtig, als es möglich ist, zu liefern. Sie können auch gewissermaßen Critici heissen: aber[394] Critici von der untersten Classe, weil sie nur mit Buchstaben und Sylben umgehen. Die Critick ist eine weit edlere Kunst. Ihr Nähme selber zeiget zur Gnüge, daß sie eine Beurtheilungs-Kunst seyn müsse, welche nothwendig eine Prüfung oder Untersuchung eines Dinges nach seinen gehörigen Grundregeln, zum voraus setzet. Da dieser Begriff aber noch gar zu allgemein ist, so darf man nur mercken, daß die Critick sich nur auf die freyen Künste, das ist auf die Grammatic, Poesie, Redekunst, Historie, Music und Mahlerey erstrecke. Die Geometrie, so bey den Alten auch zu den freyen Künsten gerechnet wurde, ist in neuern Zeiten so wohl als die Baukunst mit gutem Grunde unter die Wissenschaften gezehlet worden: weil man es darinn längst zu einer demonstrativen Gewißheit gebracht hat; die man in jenen noch lange nicht erreichen können. Ein Criticus Ist also dieser Erklärung nach, ein Gelehrter, der die Regeln der freyen Künste philosophisch eingesehen hat, und also im Stande ist, die Schönheiten und Fehler aller vorkommenden Meisterstücke oder Kunstwercke, vernünftig darnach zu prüfen und richtig zu beurtheilen.

Diesen meinen Begriff zu rechtfertigen, will ich mich nur auf den, seiner grossen Einsicht und Gelehrsamkeit halber, berühmten Englischen Grafen von Schaftesbury beruffen, der im I. Th. seiner Characteristicks und zwar in dem Tractate ADVICE TO AN AUTHOR, ausdrücklich eben diese Beschreibung gemacht. Die gantze andre Abtheilung dieses Werckchens handelt weitläuftig davon, und wäre wohl werth, daß sie von allen, die Bücher schreiben wollen, vorher gelesen und wohl erwogen würde. Ich kan aber keine besondre Stelle daraus hersetzen, weil sie gar zu weitläuftig fallen, und mir also den Platz zu andern Dingen, die diese Vorrede in sich halten soll, benehmen würde. Vielleicht giebt uns jemand eine Ubersetzung dieses einzelnen Tractats, oder wenigstens eines Stückes davon; denen dadurch zu dienen, so dieses trefliche Werck in seiner Muttersprache nicht lesen, oder doch seiner nicht habhafft werden können.[395]

Was hat man nun Ursache, vor einer solchen vernünftigen Critick einen Abscheu zu bezeugen, wenn man nur vor sich sicher ist, und nicht fürchten darf, selbst in ihre Untersuchung zu gerathen? Aber das ist es eben, was viele, die sich ins Bücherschreiben mischen, mit der grösten Unruhe besorgen. Der Zoilus, der Momus, oder die Critici sind die Gespenster, die Riesen, die Zauberer, wie Schafftsbury redet, vor welchen sie zittern und beben. Und das ist kein Wunder. Ergreifen nicht die meisten die Feder, ehe sie noch wissen wie man recht schreiben müsse? Giebt man nicht allerley Bücher heraus, ehe man gewust hat, wie sie gemacht werden müssen, und nach was vor Regeln sie sich richten sollten? Daher entsteht nun die Furcht vor den Criticis; wie ihre Vorreden sattsam zeigen. Man weiß, daß dieselben unerbittliche Richter sind. Sie lassen sich nicht durch den äußerlichen Schein eines Werckes blenden; Sie bleiben nicht an der Schale kleben; Sie dringen bis aufs innerste Marck derselben; Sie durchforschen die verborgensten Schlupfwinckel einer Schrifft, sie sey von welcher Art sie wolle. Und da bleibt vor ihren scharfsichtigen Augen nichts verstecket. Werden sie offt Schönheiten gewahr, die andre nicht sehen: So entdecken sie auch offt Fehler wieder die Regeln der freyen Künste, die nicht ein jeder so gleich wahrnimmt, der solch ein Werck ohne eine tiefere philosophische Einsicht in die Natur desselben, nur obenhin angesehen. Da nun in dem letzten Falle die Leser den Criticis viel Danck schuldig sind, welche sie vor solchen gläntzenden Narben, und scheinbaren Unvollkommenheiten der Schrifften gewarnet: So haben im ersten Falle die Scribenten selbst Ursache, sie hochzuschätzen und zu verehren; weil die unsichtbaren Schönheiten ihrer Wercke, durch ihren Dienst mehr und mehr ans Licht gebracht werden. Wenn also diese Letztere ein gut Gewissen haben, daß nehmlich ihre Sachen nach den wahren Kunstregeln ausgearbeitet worden; so werden sie keine Feindschafft gegen die Criticos blicken lassen: Wiedrigen falls aber müssen sie es nicht übel nehmen, wenn diese gerechte Kunstrichter mehr auf[396] die gantze gelehrte Welt, als auf einzelne, und zwar schlechte Schrifftsteller sehen; und zum wenigsten angehende Scribenten vor den Abwegen warnen, darauf sich ihre Vorgänger entweder aus Unachtsamkeit, oder aus andern Ursachen verirret haben.

Nunmehro wäre wohl nichts besser vor mich; als wenn ich mich rühmen könnte, ein solcher Criticus zu seyn, oder wenn ich allbereit bey unsern Deutschen in dem Ansehen stünde. Allein da dieses nicht ist: so hat man freylich Ursache zu fragen: Ob ich denn eben derjenige sey, der sich zum Verfasser einer Critischen Dicht-Kunst hätte aufwerfen müssen? Dieser Frage, so gut als ich kan, zu begegnen, will ich nach dem vernünftigen Anschlage eines geschickten und scharfsinnigen Critici1 unserer Zeit, kürtzlich diejenigen Umstände erzehlen, so mich nach und nach zu diesem Entschlusse, der meinem eigenen Geständnisse nach fast gar zu kühn und verwegen ist, gebracht haben; und also eine kurtze Historie meiner Dicht-Kunst machen, die zu desto besserm Verstande derselben viel beytragen wird.

Wie ich von Jugend auf allezeit ein grosses Vergnügen an Versen gehabt, und selbst durch das Exempel meines eigenen Vaters dazu aufgemuntert worden: also fand sich 1714, gleich im Anfange meiner Academischen Jahre, eine Gelegenheit, ein sogenanntes Collegium Poeticum zu hören. Mein Lehrer war der nunmehro seel. Prof. Rohde zu Königsberg, ein sehr geschickter Mann, der selbst einen artigen Vers schrieb; und das Buch, so er zum Grunde legte, war Menantes allerneuste Art zur galanten Poesie zu gelangen. Als nachmahls der itzige Kön. Preuß. Hofrath und Leib-Medicus, Hr. D. Pietsch die Poetische Profeßion daselbst erhielte, und sonderlich das Gedichte auf den Printz Eugen heraus gab, bekam ich noch einen grössern Trieb zur Poesie: weil sein Exempel dazumahl bey jedermann viel Eindruck machte. Ich hatte nach der Zeit[397] die Ehre mit demselben bekannt zu werden, und seine Censuren über meine Kleinigkeiten, so offt als ich es wünschete, zu hören. Dieser wackere Mann verstattete mir allezeit einen freyen Zutritt, und ihm habe ichs zu dancken, daß ich Canitzen und Horatzen mit Verstande zu lesen angefangen: weil er mir des erstern Satire von der Poesie offt auswendig hersagte, und aus dem andern zuweilen seine Ubersetzungen vorlaß. Unter so vielen Unterredungen, so ich seit 1717 bis 1724 mit demselben gehabt, dachte derselbe denn auch einmahl daß er nicht ungeneigt wäre, eine Anweisung zur Poesie zu schreiben: Nicht zwar auf den Schlag, als die gewöhnlichen Anleitungen wären, daran wir ja keinen Mangel hätten; sondern so, daß darinn der innere Character und das wahre Wesen eines jeden Gedichtes gewiesen würde. Damahls geschah es also, daß ich mir den ersten Begriff von einer Critischen Dicht-Kunst machte: deren Nutzbarkeit ich gar wohl einsahe; aber mirs noch nicht träumen ließ, daß ich mich dereinst an dergleichen Arbeit wagen sollte.

Im Jahr 1724 kam ich nach Leipzig und ward in der unter Hn. Hofraths Menckens Aufsicht stehenden Poetischen, itzo Deutschen Gesellschafft, gewahr; daß man bey Verlesung eines Gedichtes unzehliche Anmerckungen machte, und solche Sachen, Gedancken und Ausdrückungen in Zweifel zog, die ich allezeit vor gut gehalten hatte. Ich fand selber wohl, daß die meisten so ungegründet nicht waren: und ob ich wohl in einigen Stücken auf meiner Meynung blieb, und die Einwürfe so man mir machte, vor ungegründet hielte; so war ich doch nicht im Stande dieselben zu heben, und meine Gewohnheit auf eine überzeugende Art zu vertheidigen. Eben damahls kamen mir die Discurse der Mahler in die Hände, die mich durch so viele Beurtheilungen unsrer Poeten, noch begieriger machten, alles aus dem Grunde zu untersuchen, und wo möglich, zu einer völligen Gewißheit zu kommen, was richtig oder unrichtig gedacht; schön, oder heßlich geschrieben; recht, oder unrecht, ausgeführet worden.[398]

Dazu fand sich nun die schönste Gelegenheit, da ich das Glück hatte, drey Jahre in des obgedachten Hn. Hofraths Hause zu wohnen, und zugleich Erlaubniß bekam, mir dessen treffliche Bibliothek zu Nutze zu machen. Hier lernte ich alle alte Scribenten, alle ausländische Poeten, alle Criticos, und ihre Gegner kennen. Ich müste ein grosses Register machen, wenn ich alle die grössern und kleinern Wercke anzeigen wollte, die ich in der Zeit durchgelesen, bloß in der Absicht mir selbst einen regelmässigen Begriff von der Poesie zu machen; und endlich eine Gewißheit in meinen Urtheilen zu erlangen. Was mir nun Aristoteles, Longin, Horatz, Scaliger, Boileau, Dacier, Bossu, Perrault, Bouhours, Fenelon, St. Evremont, Fontenelle, Callieres, Furetiere, Schafftsbury, Steele, imgleichen Corneille und Racine in den Vorreden zu ihren Tragödien, und a.m. die mir itzo nicht einfallen, vor ein Licht gegeben; das werden diejenigen sich leicht vorstellen, so nur etliche davon gelesen haben. Hierzu sind nachmahls noch des Castelvetro, Muralts und Voltaire Beurtheilungen alter und neuer Poeten, imgleichen des Hn. Bodmers hieher gehörige Schrifften, gekommen, welche mich immer mehr in den alten Ideen befestiget, und meinem Gemüthe eine neue Befriedigung gegeben haben.

Ob mir nun wohl schon im Jahr 1727 von einem grossen Kenner der Poesie, unserm grundgelehrten Herrn D. Mascou zugemuthet wurde, eine Poetische Anweisung nach meinen Begriffen heraus zu geben; so trauete ich mir doch solches nicht zu, nach Würdigkeit ins Werck zu richten. Indessen fand sich das nechste Jahr eine Anzahl guter Freunde, die mich ersuchten, ihnen ein Poetisches Collegium zu lesen. Hier ergriff ich nun die Gelegenheit, mir den ersten Entwurf zu einer Critischen Dicht-Kunst zu machen, und die bisherigen unordentlichen Gedancken und Anmerckungen von der Poesie, in einen systemastischen Zusammenhang zu bringen. Es ist nunmehro ein Jahr, daß ich denselben zum Ende brachte, und seit der Zeit entschloß ich mich diesen[399] meinen Entwurf etwas besser auszuführen, und ein ziemlich vollständiges Werckchen daraus zu machen. Da sich nun bald ein guter Verleger dazu fand, so legte ich wircklich Hand an, und liefere itzo meinem Vaterlande diesen Versuch einer Critischen Dichtkunst: den ich gewiß nicht aus meinem Gehirne angesponnen; sondern aus allen oberwehnten berühmten Scribenten, und überdas, aus den vortheilhafften mündlichen Unterredungen Hn. Costen, unsres Französischen Reformirten Predigers, eines tiefsinnigen Critici; des Hn. Geh. Secretar Königs, und Hrn. Prof. Krausens in Wittenberg, gesammlet und in einige Ordnung gebracht. Diese Arbeit, und die Fehler, so ich etwa in derselben begangen haben möchte, kan ich mir allein zuschreiben; alles übrige gebe ich nicht vor mein eigen aus. Es wird mir also zu keinem Vorwurfe dienen können, wenn man irgend sagen würde: Ich hätte dieses oder jenes nicht von mir selbst; es wäre nichts neues, sondern hier oder daher genommen etc. Ich hatte mir nur vorgesetzt dasjenige, was in so unzehlich vielen Büchern zerstreut ist, in einem einzigen Wercke zusammen zu fassen, und es denen in die Hände zu geben, die entweder selbst Poeten werden, oder doch von Poesien vernünftig wollen urtheilen lernen. Und aus dieser Nachricht wird ein jeder leicht abnehmen; ob ich mir selbst zu viel zugetrauet, da ich es unternommen eine Critische Dicht-Kunst ans Licht zu stellen?

Der andre Einwurf, den ich bey meinem Titelblatte vorher sehe; wird die Worte betreffen, darinn ich sage, daß das Wesen der Poesie überhaupt, und ihrer fürnehmsten Gattungen, in der vernünftigen Nachahmung der Natur bestehe. Ich weiß, wie schwer dieses allen denjenigen eingehet, welche die Versmacher- Kunst und Poesie vor einerley ansehen; die von keinem Prosaischen Gedichte, und von keiner gereimten Prosa was hören wollen: ungeachtet beydes so gemein ist, als was seyn kan. Was mich aber bisher gegen alle Wiedersprüche von dieser Seite in Sicherheit gesetzet hat, ist dieses, daß alle meine Gegner von der Gattung niemahls eine einzige Critische Schrifft[400] der alten oder neuern gelesen. Ich bitte also meine Leser sich nicht zu übereilen, sondern erst das Buch selbst, oder zum wenigsten die ersten sechs Capitel zu lesen, und alles wohl zu überlegen. Ich würde mich bey Verständigen auslachenswürdig gemacht haben, wenn ich die Poesie in der Kunst zu scandiren oder zu reimen gesucht hätte. Franzosen und Italiener thun das erste nicht, und haben doch Poesien die Menge. Die Engelländer schreiben so wohl als die alten Griechen und Römer, gantze Helden-Gedichte ohne Reime: wer will ihnen aber die Poesie absprechen? Alle Romane sind weder um das Sylbenmaßes noch des Reimes wegen, sondern bloß um der Fabel halber zur Poesie zu rechnen. Aristoteles hat auch ausdrücklich gesagt: Die Epopee könne in beyderley Schreibart abgefasset werden und doch ein Gedichte bleiben; hergegen Empedocles sey ein Naturlehrer, aber kein Poet zu nennen, ob er gleich ein grosse Buch in Alexandrinischen Versen geschrieben. Eben dieser grosse Criticus hat ausführlich dargethan, daß ein Poet so wohl als ein Mahler und Bildschnitzer ein Nachahmer der Natur sey; und eine Sache entweder so wie sie ist, oder gewesen; oder wie sie zu seyn scheint, und wie man sagt, daß sie sey: oder endlich wie sie von rechtswegen seyn sollte, abbilde und vorstelle. S. das XXVIste Cap. seiner Poetick. Wer nun die Sache besser zu verstehen denckt, der sey so gut und wiederlege diesen tiefsinnigen Kenner freyer Künste, der gewiß so viel Einsicht in die wahre Dicht- und Rede-Kunst gehabt, als ob er sich sein lebenlang auf nichts anders gelegt hätte. So lange man aber dieß nicht gethan, so erlaube man es mir eben den Weg zu gehen, darauf die gesunde Vernunft alle gute Poeten und Criticos, die vor mir gelebt, zu allen Zeiten und in allen Ländern geleitet hat. Man mercke aber endlich auch, daß es ein anders sey, etwas in metrischer und etwas in poetischer Schreibart abfassen. Vieles ist metrisch genug geschrieben; das ist, es scandirt und reimet gut genug: Aber es ist kein Fünckchen von Poetischem Geiste darinn; und verdient also eine gereimte Prose zu heißen. Vieles[401] hergegen ist sehr poetisch geschrieben, ob es gleich weder Sylbenmaaß noch Reime hat. Von beydem aber ist noch ein poetischer Inhalt, wie eine Person von dem Kleide, so sie trägt, unterschieden. Ein Gedichte kan metrisch und prosaisch, schlecht weg, auch poetisch beschrieben werden: bleibt aber allemahl ein Gedichte: wie dieses alles in dem Wercke selbst ausführlicher vorkommen wird.

Wegen des Dritten Capitels, vom guten Geschmacke eines Poeten, habe ich noch zu erinnern, daß ich nach der Zeit, als es schon gedruckt war, gefunden, daß auch der Hr. von Leibnitz meiner Meynung gewesen. Ich finde nehmlich in den Anmerckungen über des Grafen von Schafftsbury oberwehntes Buch, im RECUEIL DE DIVERSES PIECES, P. 285 folgende Worte: LE DISCOURS SUR LE GOUT, MISC. 3. C. 2 ME PAROIT CONSIDERABLE. LE GOUT DISTINGUÉ DE L'ENTENDEMENT, CONSISTE DANS LES PERCEPTIONS CONFUSES, DONT ON NE SAUROIT ASSEZ RENDRE RAISON. C'EST QUELQUE CHOSE D'APPROCHANT DE L'INSTINCT. LE GOUT EST FORMÉ PAR LE NATUREL & PAR L'USAGE. ET POUR L'AVOIR BON; IL FAUT S'EXERCER À GOUTER LES BONNES CHOSES, QUE LA RAISON & L'EXPERIENCE ONT DEJA AUTORISÉES: EN QUOI LES JEUNES GENS ONT BESOIN DE GUIDES. Wer diese merckwürdige Worte, des grösten Philosophen unsres Vaterlandes und unsrer Zeiten, mit meinem Capitel vom guten Geschmacke zusammen hält; der wird finden, daß selbiges gleichsam nur eine Erklärung und weitläuftige Ausführung davon zu nennen: weil er mit kurtzem eben das sagt, was ich vollständiger erwiesen und gehöriger Weise mit Exempeln erläutert habe. Es ist aber werth daß wir die Stelle des gelehrten Engelländers auch ansehen, ob er vielleicht einer andern Meynung, den Geschmack betreffend, zugethan ist, als der Hr. von Leibnitz. OUR JOINT ENDEAVOUR, heißt es P. 164, THEREFORE, MUST APPEAR THIS: TO SHOW, THAT NOTHING, WHICH IS FOUND CHARMING OR DELIGHTFUL IN THE POLITE WORLD, NOTHING, WHICH IS ADOPTED AS PLEASURE, OR ENTERTAINMENT, OF WHATEVER KIND, CAN[402] ANY WAY BE ACCOUNTED FOR, SUPPORTED, OR ESTABLISH'D WITHOUT THE PRE-ESTABLISHMENT OR SUPPOSITION OF A CERTAIN TASTE. NOW A TASTE OR JUDGEMENT, T'IS SUPPOSD, CAN HARDLY COME READY FORM'D WITH US INTO THE WORLD. WHATEVER PRINCIPLES OR MATERIALS OF THIS KIND WE MAY POSSIBLY BRING WITH US; WHATEVER GOOD FACULTYS, SENSES, OR ANTICIPATING SENSATIONS AND IMAGINATIONS, MAY BE OF NATURE'S GROWTH, AND ARISE PROPERLY, OF THEMSELVES, WITHOUT OUR ART, PROMOTION, OR ASSISTENCE, THE GENERAL IDEA WHICH IS FORM'D OF ALL THIS MANAGEMENT, AND THE CLEAR NOTION WE ATTAIN OF WHAT IS PREFERABLE AD PRINCIPAL IN ALL THESE SUBJECTS OF CHOICE AND ESTIMATION, WILL NOT, AS I IMAGINE, BY ANY PERSON BE TAKEN FOR INNATE. USE, PRACTICE AND CULTURE MUST PRECEDE THE UNDERSTANDING AND WIT OF SUCH AN ADVANCED SIZE AND GROWTH AS THIS. A LEGITIMATE AND JUST TASTE CAN NEITHER BE BEGOTTEN, MADE, CONCEIV'D, OR PRODUC'D, WITHOUT THE ANTECEDENT LABOUR AND PAINS OF CRITICISM.

Diese Stellen, wie mich dünckt, geben deutlich genug zu verstehen, daß der Geschmack nach dieser beyden grossen Männer Meynung, uns nicht angebohren, sondern erlanget werde; daß junge Leute einer Anführung darinn benöthiget sind; daß er ein Urtheil von dem was schön, angenehm, oder heßlich und verdrüßlich ist, sey, insoweit man von diesen Beschaffenheiten eines Dinges nur nach undeutlichen Empfindungen urtheilt; und daß endlich der gute Geschmack sich auf critische Regeln gründe und darnach geprüfet werden müsse: daher es denn unwiedersprechlich folget, daß zwey wiederwärtige Urtheile des Geschmackes, von der Schönheit gewisser Dinge, unmöglich zugleich wahr und richtig seyn können. Wie ich nun diese wenige Zeugnisse höher als hundert andre halte; so will ich auch weder den SPECTATEUR, noch den Herrn Rollin anführen, ob sie gleich auch meiner Meynung sind. Es ist ohnedem unnütze, mit Zeugen etwas auszumachen, was durch Gründe erwiesen werden muß;[403] und man bedient sich derselben in solchem Falle nur gegen die, so noch in dem Vorurtheile des Ansehens stecken, und nicht im Stande sind, die Krafft gründlicher Beweise recht bey sich wircken zu lassen.

Schlüßlich bitte ich alle itzt lebende Deutsche Poeten um Vergebung; daß ich ihre Gedichte in meinem Wercke nicht habe brauchen können. Ich hatte mir die Regel gemacht, gar keinen lebenden Dichter zu tadeln oder zu critisiren: daraus floß nun nothwendig die andre, daß ich auch keinen loben müste; weil sonst diejenigen, so ich übergangen hätte, solches Stillschweigen vor einen Tadel würden gehalten haben. Es war also dieses der sicherste Weg, mich weder einer Schmeicheley, noch des Hasses oder Neides halber, verdächtig zu machen. Die Nachkommen werden schon einem jeden sein Recht wiederfahren lassen; und ich werde deswegen doch einen jeden nach seinen Verdiensten zu verehren wissen, auch bey andrer Gelegenheit mich nicht entziehen, dieselben öffentlich zu rühmen.

Da ich übrigens die Poesie allezeit vor eine Brodtlose Kunst gehalten, so habe ich sie auch nur als ein Neben-Werck getrieben, und nicht mehr Zeit dar auf gewandt, als ich von andern ernsthafftern Verrichtungen erübern können. Sollte ich künftig noch eben so viel Muße behalten: so dencke ich noch eine neue Ausgabe der Wercke Virgilii zu Stande zu bringen, und zwar auf eine bisher ungewöhnliche Art. Man hat, wie bekannt, drey hundert Jahre her sich bemühet, uns den Text dieses Poeten durch Gegeneinanderhaltung der alten Manuscripte so richtig zu liefern, als es möglich gewesen: und daher sind alle die Auflagen mit OBSERVATIONIBUS CRITICIS, LECTIONIBUS VARIANTIBUS, NOTIS VARIORUM, IN VSUM DELPHINI, u.s.w. entstanden; davon alle Buchläden voll sind. Andre die wohl sahen, daß diese Ausgaben mehr vor critische Grübler, als vor gemeine Leser waren, so sich aus der unendlichen Menge ihrer Anmerckungen offt keine einzige zu Nutze machen konnten; gaben die alten Scribenten mit solchen Noten[404] heraus, die den Verstand des Textes erleichterten, und theils die Alterthümer, theils die schwersten Stellen erklärten: dergleichen die Ausgaben Bonds, Minellii, Cellarii, AD MODUM MINELLII, u. dergl. gewesen. Noch andre gaben den bloßen Text, ohne alle Anmerckungen in kleinerm Formate heraus, um dadurch denen zu dienen, die schon mit dem Texte bekannt waren, oder nicht viel auf grosse und theure Bücher wenden wollten, wie die Elzevirischen, und zum theil die Waesbergischen Editionen ausweisen. Mein Vorhaben aber ist endlich einmahl die Schaale der Worte Virgilii, damit man sich so lange aufgehalten, fahren zu lassen, und auf den Kern seiner Gedichte zu gehen. Man hat uns bisher den Virgil in die Hände gegeben, um Wörter und poetische Redensarten daraus zu lernen: um den Inhalt aber, der doch das fürnehmste war, oder um die innere Einrichtung seiner Gedichte nach den Regeln der Dicht-Kunst, hat man sich wenig bekümmert. Dieses soll also meine Arbeit seyn, daß ich I) vor die Eclogen sowohl, als vor die Georgica und die Eneis, Poetisch-critische Einleitungen setzen, und die Natur dieser Gedichte darinn erklären werde, II) will ich auch unter den Text überall diejenigen Anmerckungen setzen, so zu desto besserer Einsicht der Poetischen Kunstgriffe Virgilii dienen, und die Ursachen anzeigen werden, warum er es so, und nicht anders gemacht. III) Werde ich auch nicht unterlassen, die kleinen Fehler anzumercken, so diesem grossen Poeten zuweilen entwischet sind. Die EDITION soll so sauber werden als eine Holländische, und in solchem Formate erscheinen, daß man sie um einen billigen Preis wird geben können.

1

Siehe des berühmten Hn. Prof. Stolles Vorrede zu seiner Historie der Gelahrheit, in der neuern Auflage.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 406.
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