Des II. Abschnitts VII. Hauptstück.
Von politischen Fabeln, und andern dergleichen Erdichtungen.

[584] 1. §.


Der Schluß des vorigen Hauptstückes giebt mir den Anlaß, auch von dieser weit nützlichern Art von dichtenden Schriftstellern zu handeln. Es ist wahr, daß mancher sie kaum unter die Poeten wird rechnen wollen. Allein, nach der aristotelischen Erklärung der Dichtkunst, kann und muß ich sie mit eben dem Rechte hieher rechnen, womit Huetius die Romane zur Dichtkunst gezogen. Das Alterthum hat uns nur ein einziges Muster von dieser Art hinterlassen, und dieß ist Xenophons Cyropädie. Dieser große Weltweise und Geschichtschreiber wollte der Welt einen guten Begriff, von der Auferziehung eines königlichen Prinzen geben; der zu einem großen Monarchen vorbereitet werden sollte. Um seine Zeit hatte man keinen größern Helden in den Geschichten, als den Stifter der persischen Monarchie Cyrus. Von dessen ersten Jugendjahren hatte man in Griechenland, wenig oder keine Nachrichten. Xenophon bemächtigt sich also dieses Helden, und macht eine Erdichtung, von seiner vermuthlichen Auferziehung; die er aber der Wahrscheinlichkeit nach, so umständlich erzählet, als ob sie wirklich geschehen wäre. Dieß ist nun ein politisches Gedicht, weil es in die Staatskunst einschlägt, und jungen Prinzen die vortrefflichsten Regeln geben kann. Es läßt sich aber, wie ein jeder sieht, in die engen Regeln eines Heldengedichts nicht einschränken: sondern erstrecket sich auf viele Jahre. Kein anderer von den Alten hat diesen Weg, so viel mir wissend ist, betreten.[585]

2. §. Von den Neuern hingegen haben wir fast unzählige solche Werke. Der erste, der in politischen Absichten dergleichen unternommen hat, ist Thomas Morus gewesen. Sein Gedicht heißt Utopia; und enthält eine Beschreibung eines unbekannten Landes, darinn die bürgerlichen Verfassungen der Städte und des Landvolkes, mit besonderer Geschicklichkeit beschrieben werden. Nächst ihm kann Thomas Campanella, der unter dem Titel CIVITAS SOLIS POETICA, einen Begriff von einer philosophischen Republik gab. Es ist sehr sinnreich geschrieben, und verdient allerdings gelesen zu werden. Ihm folgte Franz Baco, Baron von Verulam, mit seiner neuen Atlantis. Auch diese zeiget die Gedanken eines großen Mannes, der überall viele Einsicht in Staatssachen verräth, und allerdings viel Aufmerksamkeit verdienet. Auf eben dieser Spur folgte ein Deutscher, der sich aber unter dem Namen MERCURII BRITANNICI versteckete; und sein Buch MUNDUS ALTER & IDEM nennete, darinn ein unbekanntes Südland beschrieben wird, unter dessen Bilde er bloß unsere Welt satirisch abschildert. Ich habe in dem Biedermann vor mehr als zwanzig Jahren einen Auszug daraus gegeben. Ich weis nicht, ob ich noch Melchior Inchofers, eines gewesenen Jesuiten MONARCHIAM SOLIPSORUM hieher rechnen soll; die gleichfalls das Regiment des Jesuiterordens auf eine satirische Art beschreibt. Man hat dieß Werk auch französisch unter dem Titel LA MONARCHIE DES SOLIPSES, in groß 12. gedruckt; und es ist allerdings werth, daß man es liest. Den Barclajus muß ich endlich nicht vergessen, der uns in seiner Argenis einen wirklich politischen Roman beschrieben hat, dazu bey einigen Ausgaben auch der Schlüssel zu finden ist.

3. §. Ehe ich auf die deutschen Werke dieser Art komme, muß ich einiger französischen erwähnen. Das erste, so mir bekannt ist, heißt Sethos, und enthält eine ägyptische Geschichte eines alten Königes, oder Prinzen, der von seiner Stiefmutter verfolget, und in einer Schlacht gefangen und[586] weggeführet wird; hernach einen Zug zur See um ganz Africa thut, verschiedener wilden Völker Gesetzgeber, ein Erretter der karthaginensischen Fürsten wird; endlich nach Aegypten kömmt, seinen Vater gegen den Aufstand gewisser Rebellen schützet, endlich erkannt wird, seinen Brüdern aber Braut und Reich abtritt, und sich, als ein Eingeweiheter, zu den Priestern begiebt. Dieß ist eine treffliche Fabel, voll edler Bilder der Tugend, und Großmuth; die ungemein viel politische Wahrheiten enthält. Der Abt Plüche, soll der Verfasser davon seyn. Die zweyte ist Ramseys Reise des Cyrus. Ist gleich derselbe ein Engländer, so hat er doch französisch geschrieben, ob er sie gleich hernach auch englisch herausgegeben. Er dichtet auf eine andere Art, wie Cyrus seine Jugend angewandt, daß er ein so großer Held geworden; und läßt ihn alle berühmte Männer seiner Zeiten, in Asien, Aegypten und Griechenland sprechen. Auch dieses ist ein treffliches Buch, das wir auch im Deutschen lesen können. Das dritte ist die Ruhe des Cyrus, eines Ungenannten: der noch eine dritte Art ersonnen hat, wie Cyrus hätte erzogen werden können, um ein großer Mann zu werden. Und ob es gleich sehr wohl geschrieben ist: so ist es doch den obigen beyden nicht gleich zu schätzen. Herr Prof. Bärmann in Wittenberg hat es sehr schön ins Deutsche übersetzet. Ich würde noch den Neoptolemus und Memnon hieher zählen, wenn sie nicht Heldengedichten weit ähnlicher wären, und also besser zum Telemach gehöreten: der aber auch reich an politischen Materien und Lehren ist. Den ersten hat Herr M. Pantke sehr schön in deutsche Verse gekleidet. Die Geschichte der Severamben aber, die Reisen des Masse, und den englischen Philosoph, Cleveland kann man mit besserm Rechte hieher rechnen.

4. §. Hätte ich nicht oben schon Reineken den Fuchs billig unter die scherzhaften Heldengedichte zählen müssen: so würde er diesen Namen einer politischen Fabel vollkommen verdienen. Eben das könnte gewisser maßen vom Froschmäuseler[587] gelten. Allein es fehlt uns an andern solchen Büchern nicht. Im 1585sten Jahre kam zu Dresden ein solches Stück heraus, von den losen Füchsen dieser Welt in 4. Bald darauf, nämlich 1592. kam heraus Reichstag, oder Versammlung der Bauren, gehalten zu Friedberg im Rychthal, darinnen die gemeine Klage itziger Welt gehöret wird etc. in 8. der Verfasser davon wird Vtz Eckstein genannt, und hatte 65 Jahre früher gelebet. In ungebundener Rede haben wir vom 1625sten Jahre den Eselkönig, eine wunderseltzame Erzehlung, wie nemlich die Monarchei vnnd Gubernement vber die vierfüßige Thier, geändert, das Königreich vmbgefallen, vnd die Krone auff einen Esel gerathen; welchergestalt derselbe regieret, vnd wunderbarer weyse, mit gefahr leibs vnd lebens bald wider vmb das Königreich kommen etc. durch Adolph Rosen von Creutzheim, in 4. Auf eben die Art kam 1638. heraus Legation, oder Abschickung der Esel in PARNASSUM, durch Randolphum von Dießburg. Unter den Eseln werden hier die Unterthanen, sonderlich die Landleute verstanden, die sich über die Härtigkeit der Fürsten beklagen. Dahin gehöret auch Relation von den Liebesneigungen der allerschönsten Princessin Europa; sodann von den wunderbaren Begegnissen Ihrer mit weyland Keyser Carl dem Großen erzeugten fürstl. jungen Herrn etc. abgelegt in dem Parnasso von MERCURIO PLATONISSANTE, in 12. Endlich würde auch der politische Lauf der Welt und Spiel des Glücks, zum Spiegel menschliches Lebens, in der wunderwürdigen Lebensbeschreibung Tychanders hieher gehören, der von Hieron. Dürern 1685. ans Licht gestellet worden.

5. §. Von neuern noch eins und das andere zu erwähnen: so muß ich zuförderst Swifts Reise nach Caklogallinien, sowohl als Gullivers Reisen nach Liliput und Brobdingnac, hieher rechnen: Erdichtungen, die gewiß voll politischer Gedanken und Anmerkungen sind. Hernach hat bey uns Amadäus von Creutzberg das Land der Zufriedenheit, oder die Insel der Glückseligkeit beschrieben; und darinn seinen[588] Begriff von einer platonischen Republik gegeben. In Dännemark hat Herr von Holberg seines Klimms unterirdische Reisen auf diese Art beschrieben, daß er viel politische Betrachtungen über die Fehler der Staaten, unter verdeckten Bildern zu verstehen gegeben. Und wo bleibt Menoza, der asiatische Prinz, der auf seinen Reisen durch ganz Europa gute Christen suchet; aber überall die Gebrechen und guten Eigenschaften der Regierungen anmerket. Der Verfasser dieses überaus nützlichen Buches soll der sel. Rath Gramm, gewesen seyn: welches auch seinem vernünftigen Inhalte nach, gar wohl möglich ist. Noch ein französisches Gedicht von dieser Art fällt mir ein, welches der große Leibnitz gemacht hat. Es steht in Herrn Kortholts kleiner Sammlung französischer Briefe dieses Sterns erster Größe: und handelt von einer politischen Wahrheit, die man vor dem Successionskriege, im Anfange dieses Jahrhunderts den Holländern begreiflich machen wollen: indem man ihnen die vormalige schädliche Sicherheit, der in dem Harlemersee überschwemmten Städte und Dörfer poetisch abgeschildert.

6. §. Wer auch nur etliche von allen diesen Fabeln gelesen hat, der wird wohl sehen, daß sie gar nicht nach einerley Regeln gemachet worden. Die Dichtungskraft ihrer Urheber hat sich alle mögliche Freyheiten genommen, bald so, bald anders zu wirken. Bald hat sie sich an die glaublichen Fabeln gehalten, und lauter menschliche Personen gebraucht: bald hat sie sich in das äsopische Feld gewaget, und allerley Thiere aufgeführet; bald gar neue Geschöpfe hervor gebracht, wie Klimm und Gulliver. Die Wichtigkeit der Absichten ist auch nicht allemal gleich; weil sie bisweilen auf ganze Reiche und Länder, bisweilen auf kleinere Provinzen und Städte, bisweilen auch nur auf besondere Gesellschaften der Menschen abzielen. Von diesen letzten fallen mir noch ein Paar ein, die beyde von spanischem Ursprunge sind. Jenes ist des Gracians Criticon; dieses aber des Saavedra Republik der Gelehrten, die uns neulich ein hiesiger berühmter Gelehrter[589] deutsch ans Licht gestellet. Wie das erste etwas allgemeiner ist, und sehr viele Stände des Lebens betrifft: also geht dieses letztere nur die einzigen Gelehrten an; indem es uns die Fehler der gelehrten Welt in einer artigen Erdichtung vor Augen malet. Man beobachtet endlich auch weder in Ansehung der Zeit, noch der Handlung eine Einheit: so daß diese Art von Fabeln, billig die allerungebundenste heißen kann.

7. §. So wenig also diese Erdichtungen den Regeln unterworfen zu seyn scheinen: so gewiß ist es doch, daß eine darunter schöner ist, als die andere. Ohne Zweifel aber kömmt die vorzügliche Schönheit der einen, von der Beobachtung gewisser Regeln her, die in der andern übertreten worden. Die I.) davon ist überhaupt, die Wahrscheinlichkeit in der Erdichtung. Bey derselben nun kömmt alles auf die Beobachtung der Charactere der Personen, der Zeiten, und der Oerter an. Das will Horaz, wenn er schreibt:


FICTA VOLUPTATIS CAUSSA, SINT PROXIMA VERIS,

NEC QUODCUNQUE VOLET POSCAT SIBI FABULA CREDI.


In diesem Stücke ziehe ich die Reisen des Cyrus, der Ruhe des Cyrus ungemein vor. Denn jene beobachten die Sitten und andere Umstände der Zeiten dieses Helden viel genauer, als diese: wenn sie z.E. den Cyrus eine Maler- und Bildhauerakademie, eine Societät der Wissenschaften und freyen Künste, stiften, ja Schauspiele von tragischer und komischer Art emporbringen läßt. Wie schicket sich das auf jene alte Zeiten? da alle solche Dinge noch nicht gebohren, oder doch in der Wiege waren. Eben das tadle ich an Gullivers Pferdelande, die er Houyhms nennet. Denn er legt diesen Thieren solche Dinge bey, die sie mit ihren Hufen unmöglich bewerkstelligen können. Klimms Baummenschen sind hierinn ungleich wahrscheinlicher. Man glaubt aber nicht, wie schwer es hier sey, die Regel des Horaz


[590] – – SERVETUR AD IMUM

QUALIS AB INCEPTO PROCESSERIT, & SIBI CONSTET

FABULA.


zu beobachten.

8. §. Die II. Hauptregel, die man noch geben kann, ist diese, daß man durch alle seine Fabeln Wahrheit und Tugend zu befördern suchen, Lastern und Thorheiten aber zu steuern bemühet seyn muß. Ein Dichter muß ein Weltweiser seyn, der die Glückseligkeit der Menschen zu bauen trachtet, soviel er kann. Alle seine Erdichtungen muß er also zu Mitteln zu dieser edlen Absicht brauchen; nicht aber aus Leichtsinnigkeit oder Unverstand das Gegentheil bemerken. Der berufene Mandeville hätte also mit seiner Fabel von den Bienen, die doch auch politisch ist, wohl zu Hause bleiben können: weil sie bloß die Verderbniß der Sitten zu befördern suchet. Und wieviel böse Brüder hat er nicht hierinn gehabt? Die Partey einer erleuchteten Religion nehmen, der Unschuld und Tugend das Wort reden, die Erkenntniß, sonderlich der sittlichen Wahrheiten befördern; und die Ruhe des gemeinen Wesens zu erhalten suchen; das sind Merkmaale, welche schätzbare Fabeln von thörichten unterscheiden. Man prüfe hiernach die obigen: so wird man selbst sehen, was verwerflich und löblich ist. Es ist erstaunlich, daß ein heidnischer Xenophon, es hierinn vielen heutigen Scribenten zuvorgethan; die sich doch für viel erleuchteter halten, und es nach dem größern Lichte, das itzo herrschet, auch leicht hätten seyn können. Daß endlich III. auch die Schreibart dieser Fabeln gut seyn müsse, brauche ich wohl nicht zu erinnern; weil es sich von sich selbst versteht. Doch darf sie deswegen so gefirnißt nicht seyn, als des Barclajus seine in der Argenis: die, wenn sie natürlicher wäre, weit mehr Leser finden würde.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 584-591.
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