551. Eruna oder Aurine die weiße Jungfer.644

[500] Eine Viertelstunde von Stolberg liegt der Klosterkopf, wo früher ein Kloster gestanden hat. Auf der Stelle, wo es war, befindet sich jetzt eine[500] Eiche. Von dieser Stelle soll die weiße Jungfer ausgehen. Ein Mann fand dort des Nachts um 12 frischen Pferdemist, der sich in Gold verwandelt haben würde, wenn er etwas darauf geworfen hätte. Die Jungfer geht durch die Wälder bis zu dem Holzkopf, der der Taubentritt heißt. Ein Knabe von sieben Jahren soll sie einst erlösen und bekömmt dann zwölf Tonnen Goldes dafür, die am Klosterkopf verborgen sind. Sie sieht groß und hager aus, hat gelbe lange Zähne und große lange Finger. An der Seite hat sie ein großes Bund Schlüssel hängen. So zeigt sie sich besonders im Stolberger Engelgäßchen. Einst erschien sie vor ohngefähr jetzt 20 Jahren einer Jungfrau, Namens Sophie Reinz, welche mit einer Frau Holz las. Dieselbe bezeichnete dann in der Bildergallerie des Stolbergischen Schlosses diejenige Dame der Familie, welche ihr erschienen war. Gewiß aber ist es, daß das Mädchen bald darauf starb. Unter dem Klosterkopfe fließt ein kleines Wasser, nahe an demselben ist eine kleine Erhöhung, auf dieser steht ein Kreuz von rothem Sandstein, etwa 2 Fuß hoch. Unter dem Kreuze geht ein Gang herein, den die Mönche angelegt hatten und der nach diesem Kloster führte. In diesen Gang wurden oft auf wunderbare Weise Jungfrauen hineingezogen, die dann niemals wieder an's Tageslicht gekommen sind. Zum Andenken an das Verschwinden der letzten Jungfrau soll das Kreuz gesetzt sein.

Auf dem Auerberge (der jetzigen Josephshöhe) war schon früher ein alter Thurm, da kommt eine Gräfin von Stolberg mit einer Tochter in Wochen. Weil diese nicht auf dem Schlosse geboren war, gehörte sie nach einem Gesetze nicht zur gräflichen Familie. Sie erhielt den Namen Aurine, wurde ins Kloster geschickt und Aebtissin im Kloster Gröningen auf dem Klosterkopfe vor der Stolbergischen Straße: Kaltes Thal. Aurine war aber streng und habsüchtig, entzog Vieles der Armuth und vergrub 12 Tonnen Goldes. Eines Abends wurden mehrere Mädchen geraubt, namentlich die Tochter eines Bäckers, ferner eine Braut aus dem Apel'schen Geschlechte. Es klopfte Abends am Polterabende ans Haus, sie ging hinaus und kam nie wieder. Es ist das Haus, auf dessen Stelle jetzt die Mädchenschule steht. Das dritte Mädchen wohnte in der Stubengasse (am Wasser), Niemand wußte, wo diese Mädchen waren. Da fügte es sich, daß an einem schönen Sommerabende ein Handwerksbursche von Breitenstein nach Stolberg wanderte; da sah er eine Leiche vom Kloster Gröningen hertragen, hörte auch das Geläute der Klosterglocken. Andächtig zog er seinen Hut vom Kopfe und ging der Leiche nach bis dahin, wo sie eingesetzt wurde. Auffallend war ihm, daß zwar zwölf Mönche die Leiche trugen, sie aber nicht auf dem Kloster begruben, sondern weit davon auf dem Fahrwege. Später wurde nachgegraben und es war die zuerst gestohlene Bäckerstochter mit einem kleinen Kinde, beide waren aber lebendig begraben. Da wurde das Kloster zerstört und die Aurine verflucht. Sie ist die weiße Jungfer. Im Schlosse zu Stolberg ist das Porträt dieser Eruna in weißem leinenen Gewande noch heute zu sehen.

Am Markte zu Stolberg im Kaufmann Kerst'schen Hause wohnte ein Steiger, der suchte Silber, konnte aber nichts finden. Da erschien ihm zuletzt eine weiße Jungfer und fragte, was er da suche. Er sagte es. Sie sprach, wenn er sie erlösen und ihr nicht vorhalten wolle, daß sie ein Geist[501] gewesen sei, so wolle sie ihn heirathen. Er willigte ein. Sie hielt einen silbernen Nagel in der Hand und sagte: wo sie den silbernen Nagel einschlüge, solle er auch einschlagen. Sie schlug den Nagel ein unter dem Auerberge, und der Schacht heißt noch »der silberne Nagel«, ein Wegweiser weist dahin am Wege nach dem Auerberge (Josephshöhe). Einst verunwilligte sich der Steiger mit seiner Frau und sagte: »O Du erbärmlicher Erdenkloß, Dich habe ich erst erlöst!« Seitdem gerieth der silberne Nagel in Verfall. Andere erzählen, die Jungfrau vom silbernen Nagel heiße Georgine. Ihr Nagel war 6-7 Zoll lang, die Silberader 7-8 Fuß stark. Sie stürzte sich zuletzt in den Schacht und man fand keine Erze mehr. Oft sahen die Bergleute den Berg- oder Erdgeist, welcher diese Georgine war, aber nur wie einen Schein, dann war sie wieder verschwunden. Als Fremde einst auf ihre Kosten das Bergwerk wieder aufnehmen wollten, hörten Stolbergische Arbeiter eine wundervolle Musik in der Tiefe. Sie gingen der Musik nach und fanden zwei tanzende Personen, die weiß gekleidet waren, und noch eine Mannsperson. Da sie sie aber genau ansehen wollten, verschwanden sie in einer Ecke, wo die starke Erzader wiedergefunden ward. Dies wurde einem Stolberger Offizianten gemeldet, der sprach: »O Ihr Thoren, was wollt Ihr Fremden diese Erze lassen? laßt sie stehen für Stolberg.« Sie mußten diesen Gang wieder verschütten, nun finden sie aber keine Erze wieder. Man sagt aber, der silberne Nagel gebe seine Schätze nicht eher wieder her, als bis ein Rosenstock von 7 Ellen und ein weißer Sperling auf dem Schlosse zu finden sein werde.

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S. Pröhle S. 157. 162.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 500-502.
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