640. Die Sage vom Lügenstein.753

[597] Auf dem Domplatze zu Halberstadt liegt ein runder Fels von ziemlich beträchtlichem Umfang, der vermuthlich früher ein heidnischer Opferaltar war, dann aber auch bei Volksversammlungen der alten Sachsen darzu gedient haben mag, die Männer, die von dem Volke deutlicher gesehen werden mußten, z.B. die zu erwählenden Anführer, ihm vorzustellen. Darauf scheint der alte Name »Legge-Stein«, d.h. Schau-Stein, hinzudeuten. Die Umwandlung dieses Namens in Lügenstein erzeugte durch Wortforschung folgende Sage.

Der erste Bischof von Halberstadt, Hildegrim, beabsichtigte in dieser Stadt einen Dom zu erbauen und hatte dazu die Erlaubniß des Kaisers Ludwig des Frommen erhalten. Er berief also einen geschickten Baumeister, der ihm einen gar schönen Plan von seinem beabsichtigten Bauwerke entwerfen mußte, und als er ihn gutgeheißen hatte, so ließ dieser aus ganz Deutschland um hohen Lohn die geschicktesten Gesellen kommen, um mit ihnen schnell den aufgetragenen Bau zu vollenden. Ehe er aber den Grundstein legte, da hielt er eine feurige Rede an sie und forderte sie auf, mit ihm ein Haus zu bauen, wo die durstenden Seelen aus dem Born der ewigen Wahrheit gelabt werden sollten. Dies hörte der Teufel und weil er die schwunghafte Rede nicht verstand, sondern glaubte, es solle hier ein großes Wirthshaus angelegt werden, von dem er dachte, daß es seinem Reiche manchen Unterthan zuführen werde, so beschloß er, den Bau mit aller Kraft zu fördern. Er schaffte also mit gewaltiger Macht große Felsmassen zum Baue herbei, formte sie wie andere und legte selbst Hand ans Werk, um die Mauern rascher zu erheben.

Wenn die Gesellen Morgens zum Bauplatz kamen, sahen sie sich verwundert an, denn sie staunten über das, was sie am gestrigen Tage geschaffen zu haben glaubten, der Meister aber belobte sie ob ihres Fleißes und hieß sie nicht in ihrem Eifer erlahmen, sondern emsig fortarbeiten, damit sie bald die hohe Kuppel schließen könnten. Der Böse aber lachte heimlich[597] darüber, er wußte besser, wer der fleißige Bauarbeiter war. Als nun aber die Mauern emporstiegen und nach und nach vollendet wurden, als man die hohen Säulen fest aufgebaut und das Gewölbe auf die wohlberechneten Stützpunkte legte, da merkte der Böse endlich, daß er sich getäuscht und er am Bau eines Gotteshauses und nicht an dem eines Wirthshauses geholfen hatte. Er beschloß also in grimmiger Wuth das Werk wieder zu vernichten und es sammt den Arbeitern zu zerschmettern. Und am folgenden Morgen, als die Sonne ihre ersten Strahlen durch die hohen Fensteröffnungen hinter dem Hauptchore warf und der Baumeister mitten unter seinen, die fleißigen Hände regenden Gesellen stand, da erblickten sie auf einmal hoch oben in der Luft den Teufel mit einem ungeheuern Felssteine in den Krallen über der sich wölbenden Kuppel schweben und hörten denselben mit fürchterlicher Stimme rufen: »Jetzt will ich Euch Alle unter dem Schutte dieses Riesenbaues begraben, weil meine Mühe dabei nicht belohnt worden ist, denn ich half Euch nächtlich mit thätiger Hand, weil ich ein Wirthshaus zu schaffen wähnte!«

Alle Arbeiter erblaßten, denn sie meinten, ihr letztes Stündlein sei gekommen, nur ein einziger kecker Gesell rief beherzt in die Höhe: »Fürst der Hölle, halte den Stein fest und höre, was wir Dir bieten. Wir wollen uns vergleichen und heute noch anfangen, hart am Dome ein Wirthshaus zu bauen, damit auch Du Deinen Willen bekömmst!« – »Gut«, rief der Teufel, »damit bin ich einverstanden, aber haltet Wort, sonst wird dies große Werk niemals vollendet werden. Zur Erinnerung unseres Vertrags schleudere ich diesen Stein hier auf den Platz, damit er Euch täglich an Euer Versprechen mahne.« Mit lautem Gekrach stürzte der Fels auf den breiten Platz vor der Kirche, wo er noch heute zu sehen ist. Noch sieht man an dem Steine die Höhlung, die der glühende Daumen seiner Hand beim Tragen eingedrückt.

Bald erhob sich neben dem Dome ein Häuschen mit mächtigen Kellern, der Domkeller genannt, und dadurch war nun dem Teufel sein Wille geschehen. Der Dombau aber ward nun ungestört vollendet und am 9. November 859 ward die Kirche vom Bischof Hildegrim II. unter Begleitung vieler Bischöfe und Priester eingeweiht.

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Weitläufig erzählt von Ziehnert Bd. II. S. 181 etc. und Sagen aus der Vorzeit des Harzes S. 257 etc., kürzer bei Otmar S. 27 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 597-598.
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