670. Das kleine Clausthal.784

[630] Bei Clausthal hat früher ein Städtlein gestanden, das hat das kleine Clausthal geheißen und ist sehr wohlhabend gewesen. Aber je reicher die Einwohner geworden sind, desto schlechter und gottloser haben sie sich gemacht. Darüber hat Gott die Stadt untergehen lassen und an der Stelle, wo die Kirche gestanden hat, ist ein Teich entstanden. In der Mitternacht vom Gründonnerstage auf den Charfreitag ist die Kirche an der Stelle zu sehen, wo jetzt der Teich ist; zugleich zeigt sich ein Reh mit seinem Kalbe, das Niemand jagen darf. Noch jetzt heißt jenes Thal das kleine Clausthal.

Nun war am Harze irgendwo ein grausamer Wilddieb, wenn der wußte, daß irgendwo ein Stück Wild stand, so war's auch nicht sicher. Der hatte auch gehört, daß im kleinen Clausthal in der Mitternachtsstunde des Charfreitags ein Reh mit seinem Kalbe sich sehen läßt, das man nicht schießen darf, aber er lachte nur darüber. Einmal kurz vor Ostern ist er in einer lustigen Gesellschaft, da erzählen sich auch die Leute vom kleinen Clausthal, aber wie er denn an nichts geglaubt hat, so lacht er nur darüber und sagt: »Was gilt's? Ich schieße Euch das Reh mit sammt dem Kalbe und wir wollen's am ersten Osterfeiertage verzehren.« Die Leute haben ihm wohl davon abgerathen, aber er läßt sich nichts sagen. Am Charfreitag Abend begiebt er sich nach dem kleinen Clausthal. Wie er vor den Teich kommt, sieht er auf demselben einen hohen dicken Nebel liegen, der geht bis an den Himmel und man hat den Teich nicht sehen können; in dem Nebel aber ist ein Geflüster gewesen, wie wenn Viele mit einander reden, und es schimmern bisweilen wunderliche Gestalten heraus. Auch über den Weg kommen viele Gestalten herübergehuscht, wie luftige Schatten, und alle verschwinden im Nebel über dem Teiche. Aber er hat nichts Arges daraus, er geht vorüber und stellt sich am Ausgang des Thales, da wo jetzt das erste Innerster Pochwerk ist, hinter einen Busch auf die Lauer. Richtig kommt das Reh mit dem Kalbe. Da schießt er das Kalb nieder. Wie er's fallen sieht, geht er darauf los und bindet ihm die Füße zusammen und hängt es über die Schulter, darauf geht er zurück. Wie er dahin kommt, wo jetzt wieder der Teich ist, steht auf der nämlichen Stelle, wo eben noch ein Teich war, eine Kirche, die ist hell erleuchtet und der Gesang erschallt und die Orgel dazwischen. Das ist doch seltsam, denkt er, sollst doch einmal in die Kirche gehen. Er tritt also hinein, da sieht er denn die ganze Kirche voll Menschen, aber sie sehen alle aus, als wenn sie schon Jahrhunderte lang im Grabe gelegen hätten. Die Kleider sind nach einer Mode gewesen, die er nicht kennt. Er grüßt, Keiner dankt ihm, aber Einige nicken, Andere schütteln den Kopf und winken einander zu und weisen mit den Fingern auf ihn hin. Die Lichter auf dem Altar und auf dem Kronleuchter brennen mit blauer Flamme und aus dem Kelche auf dem Altar zuckt eine blaue Flamme heraus. Nachher kommt der Pastor vor den Altar, aber das ist gar keine menschliche Sprache gewesen, es ist, als wenn Wind und Donner die ganze Kirche erfüllt und aus dem Munde geht dem Prediger eine blaue Flamme. Auf einmal kracht's durch die Kirche, als wenn die Erde zu Grunde gehen sollte.[631] Da zeigt der Pastor auf ihn hin und schreit: »Verfluchter Sabbathschänder!« Und die Geister stehen gegen ihn auf und heulen das Wort nach; darüber stürzt er voll Angst und Schrecken zur Kirche hinaus, wie er aber hinausstürzt, schlägt die Thür hinter ihm zu, daß ihm die Fersen abgeschlagen sind. Da fliegt er bis an den Weg und hier bleibt er liegen bis an den Morgen. Wie er zu sich selbst kommt, liegt der Teich ruhig vor ihm da, aber das Rehkalb ist weg, er aber ist todtkrank und kann sich kaum nach Hause schleppen. Wie er neun Tage gelegen hat, hat er die Geschichte erzählt und ist darauf gestorben.

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Nach Harrys Bd. II. S. 11 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 630-632.
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