152. Der Quadersteig in Sanct Marien zu Stendal.209

[141] Die St. Marienkirche zu Stendal zeichnet sich durch ihr wunderschönes Geläute aus, sie hat nämlich 8 Glocken, von denen die älteste vom Jahre 1440 ist. Nun lebte damals, als die Kirche erbaut ward und zum ersten Male zum Gottesdienste geläutet wurde, daselbst eine reiche Jungfrau, die aber eben so frommen als heiteren Gemüthes war. Dieselbe besuchte jeden Tag die Kirche, allein eines Tages sah sie, wie eine Leiche in einem Sarge in die Kirche gebracht und in dem Gange nach der Mitternachtsseite der Kirche zu unter Grabgebeten und Sterbegesängen in die darunter befindliche Gruft hinabgelassen ward. Da dachte die Jungfrau, es sei doch sonderbar, daß die Todten, die nicht mehr hören und sehen könnten, in die Kirche kommen sollten, und sie beschloß eine Stiftung zu machen, daß wenigstens auf dem Wege, den sie von ihrem Hause aus bis zu ihrem Kirchstuhl zu durchwandeln habe, d.h. vom kleinen Altar bis zum Taufstein unter der Orgel Niemand mehr begraben werden solle. Sie erbat sich also von dem Stadtrath die Erlaubniß, den genannten Gang der Kirche mit schönen Quadern auf ihre Kosten pflastern zu lassen, mit der einzigen Bedingung, daß dort kein breiterer Stein – und darunter verstand sie die Leichensteine für reiche Leute, denn die Armen wurden so wie so hier nicht begraben – die einzelnen Quadersteine verdrängen solle. Auf diese Bedingung ist auch der Magistrat eingegangen, und als sie selbst nach einiger Zeit starb, ist sie auf dem gemeinsamen Friedhof begraben worden, und bis diese Stunde ruht kein Todtengebein unter dem Quadersteig der Marienkirche.

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Nach Weihe, Bd. II. S. 75 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 141.
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