153. Der Launenwinkel zu Stendal.210

[141] Von der Zeit an, wo Albrecht der Bär das Thor der kleinen Straße, die man seitdem die Wendenstraße nannte, vermauern ließ, ist jene Stätte für jeden Bewohner von Stendal stets ein Ort des Grauens gewesen. Zwar war dieselbe im Sommer bei Tage gar anmuthig, denn sie war mit verschiedenem Gebüsch und Strauchwerk besetzt und man hörte dort wie im Wald die Nachtigallen singen, allein Abends sollte es dort nicht geheuer sein und die Volkssage erzählte, es gingen daselbst in der Nacht die Geister der Erschlagenen um; daher ward jener Platz namentlich von Kindern möglichst gemieden. Da trug es sich zu, daß eine in dieser Gasse wohnende Bürgerfamilie das Weihnachtsfest beging; die Kinder erhielten natürlich nach der[141] alten Sitte Geschenke, allein eines, ein zwölfjähriges Mädchen, war so unzufrieden mit ihrem Theile, daß sie laut zu schreien und zu wehklagen anfing. Die Eltern ließen es sich anfangs ruhig gefallen, als sie aber sich gar nicht beruhigen und zureden ließ, da nahmen sie dieselbe beim Arm und führten sie zur Thüre hinaus ins Freie und brachten sie in jenen arg berüchtigten Winkel in der Nähe des zugemauerten Thores, ließen sie dort stehen und gingen ins Haus zurück. Das Mädchen aber fing noch ärger an zu schreien, so daß ihre Stimme den Sturmwind übertönte, und versprach laut Besserung. Das erbarmte die Eltern, sie eilten sie hereinzuholen, und siehe von Stund an war das Mädchen ganz anders geworden, man sah keine Launen und Unarten mehr an ihr. Seit dieser Zeit nannte man nun jenen Winkel den Launenwinkel, und die Sage erzählt, daß von dieser Zeit an derselbe vielfach zu gleichem Zwecke besucht ward. Zeigte sich ein Kind launenhaft, war ein Jüngling unzufrieden mit seinem Schicksale, war in der Ehe ein Theil mit dem andern uneinig geworden, flugs ging er in den Launenwinkel, und siehe, vorbei war jegliche Mißstimmung. Seit mehreren Jahren ist nun aber die Mauer sammt dem Thore zum größten Theil abgebrochen und der Launenwinkel ist nur noch auf einen sehr kleinen Raum beschränkt; nichts desto weniger hat er aber immer noch seinen alten Namen behalten, ob man wohl jetzt seine geheime Kraft nicht mehr versuchen mag.

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Nach Weihe, Bd. II. S. 89 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 141-142.
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