154. Die Fußeisen in der Kapelle von Sanct Marien zu Stendal.211

[142] Zu der Zeit, als das Licht der Reformation noch nicht Deutschland erleuchtete, lebte in Stendal ein sehr frommes Paar, welches von Gott reich mit Glücksgütern gesegnet war, so daß sie mit ihrem Geld und Gut nicht wußten wohin. Sie hatten aber ein einziges Töchterlein, welches sie zeitig in die Schule des Nonnenklosters daselbst schickten, um es zu einer frommen Jungfrau zu erziehen. Nun trug es sich aber zu, daß die Pest in Stendal einzog und die beiden Eltern hinwegraffte; darüber wollte sich das Mädchen gar nicht wieder beruhigen, sie that ein Gelübde, Zeit ihres Lebens in Trauerkleidern zu gehen und sich nie zu vermählen. Ihre einzige Beschäftigung aber bestand im Beten und Fasten und ihre einzige Lust im Almosengeben und Krankenpflegen, worauf sie namentlich alle ihre Einkünfte verwendete. Da sie aber immer noch nicht genug in der Frömmigkeit zu thun glaubte, so beschloß sie neben der Kirche von St. Marien eine Kapelle zu bauen, worin sie wie einst die Prophetin Hanna in der heil. Schrift Tag und Nacht dem Herrn mit Beten und Fasten dienen könne. Das that sie denn auch, und jene Kapelle, welche gegen Süden halb an den Thurm, halb an die Kirche gebaut und namentlich in den Fensterhöhlen und Capitälern mit zierlichen Ornamenten und einem mit feinem Schnitzwerk versehenen Altar geziert ist, steht noch bis auf den heutigen Tag. Die Wände derselben sind mit vergoldeten Grabsteinen der Familien Lüdecke und Lautenbach – einer derselben gehörte die Jungfrau an – bekleidet und an der Mauer gegen Morgen zu sieht man sehr schwere eiserne Reifen mit plumpen Gelenken ohne Seitenöffnung an einem Ringe hängen. Dies sind die Fußeisen, welche der unglücklichen Jungfrau angelegt werden mußten, als sie, unvermögend ihr Gelübde[142] zu erfüllen, welches sie nach Vollendung der Kapelle gethan hatte – sie wollte nämlich wie Jesus 40 Tage und 40 Nächte fasten – aus Körperschwäche in Wahnsinn verfiel und sich zu Tode raste. Sie starb noch ehe jene 40 Tage um waren, und liegt in der genannten Kapelle begraben.

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Nach Weihe, Bd. II. S. 97.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 142-143.
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