214. Der Lehnekenstein bei Bonese.277

[195] Eine Viertelstunde westlich vom Dorfe Bonese, hart an der Markauer Grenze, steht in der Haide ein großer Stein; er ist von Granit und enthält vielen schwarzen Glimmer; er muß da schon viele hundert Jahre gelegen haben, denn er ist ganz grau und mit Moos und Flechten bewachsen. Er ist ohngefähr 5 Fuß hoch und hat gegen die Mitte zu einen Umfang von 12 Fuß, nach oben hin spitzt er sich zu. An der Vorderseite, wo ein Fahrweg dicht vorbeigeht, ist er glatt, an den übrigen Seiten aber ist er rauh und uneben, auch hat er dort mehrere Ritzen und Spalten. Früher hat ein ganzer Kranz von Steinen um ihn herumgestanden, davon sieht man jetzt noch die Spuren. Der Stein heißt der Lehnekenstein (Leichenstein) und von ihm giebt es folgende Sage.

Vor vielen Jahren wohnte in dem Dorfe Bonese eine Bauerfrau, die zwei Kinder hatte, einen Jungen, der hieß Asmus, und ein Mädchen, die Marlene (d.h. Marie Helene) hieß. Der Asmus war schon als Knabe ein Taugenichts und nachher ward er ein großer Bösewicht, der keine größere Freude kannte, als andere Menschen zu quälen. Seine Schwester Marlenchen war dagegen ein gutes und gottesfürchtiges Mädchen, die von Jedermann geliebt wurde. Die jungen Bursche kamen von allen Seiten her und begehrten sie zur Frau. Sie mochte aber keinen von ihnen und schlug alle Anträge aus, denn sie hatte eine stille Liebschaft mit einem Knechte auf dem Nachbardorfe, der ein frommer und fleißiger Mensch war, und nur leider keine Reichthümer hatte. Den hatte sie sehr lieb, wie er sie auch, und sie hatten geschworen, daß sie nicht von einander lassen wollten. Zuletzt kam auch der reiche Schulzensohn aus Markau als Freiersmann. Der ließ sich von Marlenchen nicht abweisen und steckte sich hinter ihre Mutter und Bruder. Diese quälten sie täglich und verlangten von ihr, daß sie den Schulzensohn zum Manne nehmen solle. Sie weinte zwar und klagte, und bat um Gotteswillen, daß man doch nicht so etwas von ihr verlangen solle. Aber die Beiden kehrten sich nicht daran, und betrieben nur desto eiliger das Verlöbniß und Aufgebot. Marlenchen schwor zwar in ihrer Herzensangst, sie werde sich eher umbringen, als daß sie als Braut über die Markauer Grenze gehe, aber man verspottete und verachtete sie nur. Unterdeß kam der Hochzeitstag heran, und war auf den nächsten Dienstag bestimmt. Am Montage vorher des Nachmittags kamen wie gebräuchlich die Brautjungfern zu ihr, putzten sie auf und führten sie dann, so viel sie auch weinte und sich sträubte, mit Gewalt zu dem Wagen, in welchem sie nun, wie das Sitte ist, zu ihrem Bräutigam gefahren werden sollte. Ihre Verwandten und Bekannten begleiteten sie in vielen Wagen, und im hastigen Galop eilten Alle nach Markau zu. Den vordersten Wagen führte der Bruder der Braut, den hintersten der jüngste Bruder des Bräutigams, wie das so Gebrauch ist. An der Markauer Grenze mußten die Wagen halten, und der Bruder des[195] Bräutigams mußte hier der Sitte gemäß die Braut und die Brautjungfern fragen, ob sie nicht noch lieber umkehren wollten. Es war aber gerade die Sonne im Untergehen, als sie an der Grenze ankamen. Wie alle Wagen stillstanden, erhob sich der Bruder des Bräutigams und fragte die Brautjungfern, ob die Braut noch bei ihnen sei. Sie antworteten ihm: ja! Darauf fragte er die Braut: »Wer hat Dich hierher gebracht, Du Braut?« Marlenchen antwortete seufzend, wie es vorgeschrieben war: »Gott und gute Leute!« Jener fragte weiter: »Will die Braut weiter oder will sie umkehren? Jetzt ist es noch Zeit!« Da rief Marlenchen, laut weinend: »Ich will um, ich will wieder um, ich will nach meiner Mutter Haus!« Ihr Bruder Asmus aber, der das hörte, schrie wüthend: »Nein, Du sollst nicht um, Du sollst nach Markau! Fahrt zu, fahrt zu!« Damit schlug er auf seine Pferde und rief den Andern zu, daß sie desgleichen thun sollten. Aber Marlenchen sprang von ihrem Sitze auf und rief: »Ich will lieber zum Steine werden, als daß ich über die Markauer Grenze komme!« Mit diesen Worten stürzte sie sich oben über den Rand des Wagens und wurde auf der Stelle zu einem Steine. In demselben Augenblicke ging die Sonne unter. Um Mitternacht, wenn Vollmond ist, sieht man die bunten Brautbänder noch an dem Steine flimmern.

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Nach Temme S. 39.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 195-196.
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