297. Das goldene Zelt zu Magdeburg.362

[243] In Magdeburg giebt es eine Straße, die heißt die Schmiedethorstraße, weil auf dem Flecke, wo sie jetzt angelegt ist, früher der Militärschmiedehof war; auf dieser Straße befindet sich ein Haus, das heißt bis auf den heutigen Tag noch das Goldene Zelt und soll seinen Namen von folgender Begebenheit tragen. Zu Ende des 17. Jahrhunderts hat der Commandant der Festung Magdeburg noch auf der Citadelle gewohnt, und es hat sich zugetragen, daß der jedesmalige Wachtposten am Stadtthore aus der Gegend der rechts unter dem Walle befindlichen Ausfallpforte stets ein dumpfes, wie[243] aus der Tiefe bringendes Geächze gehört hat, so daß selbst bei argem Sturme diese Klagetöne den Wind übertönten. Zwar hat man alle Räume und Winkel des innern Festungsbereichs sorgsam untersucht, man hat zwar das Gewimmer aus der Erde vernommen, allein ein unterirdisches Versteck, wo ein Mensch hätte verborgen sein können, nicht entdecken können. Endlich hat eines Morgens die Magd des Commandanten, welche das ihr während einem den Abend zuvor mit ihrem Liebsten auf dem Walle gemachten Spaziergang verlorengegangene Strumpfband suchte, ganz nahe an der Mauer eine Spalte bemerkt, aus welcher die Hand eines Menschen hervorragte, welche die Finger bewegte. Sie machte sofort Anzeige, und da sich nirgends ein Eingang zu diesem Behältniß, wo sich offenbar ein menschliches Wesen befand, zeigte, riß man die Erde auf und fand in einer Höhlung der Mauer einen bis an den Gürtel im Schlamm und Koth sitzenden, noch lebenden jungen Mann, der aber eine Allen unbekannte Sprache redete. Endlich hat sich ein Jude gefunden, der sie verstand; es war Türkisch und man erfuhr, der Mensch sei der Sohn eines Pascha's, im letzten Türkenkriege gefangen genommen und hier von Jemandem – den Namen und die Ursache wußte man nicht – mit Ketten belastet eingesperrt worden, um Hungers zu sterben. Wer ihn mehrere Jahre am Leben erhalten, berichtet die Sage nicht, wohl aber wird erzählt, die Stadt Magdeburg habe ihm an jener Stelle, wo später der Militärschmiedehof war, ein kostbares Zelt errichten lassen und dort habe er mehrere Jahre hindurch gewohnt, bis ihn sein Vater habe abholen lassen.363

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Nach Relßieg Bd. I. S. 59 etc.

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Ich weiß nicht, ob dies derselbe zehnjährige türkische Knabe war, der im März des Jahres 1688 in der St. Ulrichskirche zu Magdeburg getauft und von 23 Pathen zum Altar begleitet warb, wie Vulpius S. 306 weitläufig beschrieben hat.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 243-244.
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