414. Der ungehoben gebliebene Schatz zu Nordhausen.501

[354] Zu Anfange des vorigen Jahrhunderts lag ein junger Mensch in Nordhausen des Nachts auf seinem Bette in seiner Kammer, deren Fenster nach Abend zu gingen, und konnte nicht schlafen. Da hörte er auf einmal eine Stimme, die ihn bei seinem Vornamen rief; allein er antwortete nicht, weil ihm selbige unbekannt war. Da nun keine Antwort erfolgte, so rief der Geist noch ein anderes und drittes Mal, worauf jener denn endlich zu antworten bewogen ward und fragte: »Was soll ich?« Der angerufene Geist erwiederte nun: »Komm heraus und gehe mit mir in den obersten Keller, da steht ein Schatz, den sollst Du heben und davon studiren.« Der Schüler wendete dagegen ein: »Ich komme nicht, es ist jetzt Mitternacht, dunkel und ich fürchte mich.« Der Geist sprach ferner, es solle ihm Niemand etwas thun, er solle nur kommen und mitgehen, der Schatz stehe in dem vordersten[354] Keller und es liege auf ihm eine goldene mit Diamanten besetzte Kugel. Als nun der Schüler sich dennoch mitzugehen weigerte, so fuhr der Geist also fort und sprach: »Siehe, so gewiß sich die feurige Kugel in dem Fenster bewegt, so gewiß soll Dir nichts weiter geschehen.« Indem er nun nach dem auf den Hof gehenden Fenster sah, wurde er mit Verwundern gewahr, daß sich von außen her eine sehr hell spielende, mit feurigen Diamanten besetzte Kugel vor einer zerbrochenen viereckigen Fensterscheibe nicht nur von freien Stücken herumdrehte, sondern auch feurige Strahlen von sich gab, dergestalt, daß durch diese glänzende Kugel die ganze Kammer so hell ward, als wenn ein Licht darin gebrannt hätte. Diese Helligkeit dauerte eine ziemliche Weile. Nachdem nun den Schüler bei einer solchen Betrachtung Furcht erfaßt, so hüllete er sich in sein Bett und sah sich nicht weiter nach der bewußten Kugel um, hörte aber den Geist nochmals vor dem Kammerfenster die Worte rufen: »Komm und gehe mit, oder es wird Dich solches gereuen.« Als er sich aber nicht entschließen konnte mitzugehen und nach einer kleinen Weile seine Augen nach dem Fenster richtete, war die Kugel weg, mithin weiter nichts zu hören. Was es aber für ein Geist gewesen, wofür er sich ausgegeben und was für eine Gestalt er gehabt, konnte der junge Mensch nicht sagen, denn er hatte ihn nur gehört, nicht gesehen.

In demselben Hause ist aber einer Frauensperson in der Küche eine weißgekleidete gespenstige Frau von langer Statur, einen weißen Schleier auf dem Kopfe tragend, von sehr blasser Gestalt und, wie es ihr geschienen, mit langen gelben Zähnen im Munde, in den Vormittagsstunden gegen 10 Uhr, als sie eben in besagtem Hause allein gewesen, erschienen und hat ihr angezeigt, sie solle mit ihr in den Keller gehen und einen verborgenen Schatz, welcher schon dort stehe und ihrer warte, heben. Weil sie nun über solche unerwartete Erscheinung und zugleich erfolgte Anrede gar sehr erschrocken ist und nichts zu antworten wußte, hat der Geist weiter zu ihr gesagt, sie solle sich nicht entsetzen, sondern nur getrost mitgehen, es solle ihr nichts Widriges begegnen, er wolle ihr auch den nunmehr eröffneten Schatz, bei welchem zwar ein schwarzer Hund liege, der aber nicht bellen, sondern stille liegen bleiben würde, bis auf die vorderste Treppe des besagten Kellers tragen helfen, dann könne sie ihn selbst vollends hinauftragen etc. Die Furcht war aber bei der Frau so groß, daß sie dem unbekannten Geiste nicht trauen wollte, sondern ihm seinen Antrag rund abschlug, worauf er ungehalten ward und mit folgenden Worten gegen sie herausbrach: »Dies wird Dich zu seiner Zeit gereuen, denn der Schatz ist Dir bescheert!« Da nun die gespenstige Frau diese Worte noch geredet, hat unverhofft einer ihrer Dienstleute an die Hausthüre geklopft, worauf der Geist mit einem ängstlichen Seufzer von ihr gewichen, sie aber dem Anklopfenden die Thüre geöffnet, nach wenigen Tagen jedoch in eine heftige Krankheit verfallen ist, welche etliche Wochen gewährt hat.

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Nach Sieckel S. 19 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 354-355.
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