8. Das auf dem Kiffhäuser altgewordene Brautpaar.

[441] In Tilleda wohnte ein armer, aber frommer Tagelöhner. Seine Tochter war Braut von einem ebenso dürftigen und redlichen Handwerker. Morgen[441] sollte die Hochzeit sein. Die Gäste waren geladen, aber Niemand hatte daran gedacht, daß im ganzen Hause nur ein Topf, eine Schüssel und zwei Teller waren. »Was machen wir?« hieß es, und Keiner wußte Rath. Endlich sagte der Vater halb im Scherz, halb im Ernst: »Ei, geht auf den Kiffhäuser, vielleicht leihet Euch die Prinzessin Alles!« Das Brautpaar geht wirklich hin; vor einer Oeffnung des Berges steht die Prinzessin. Sie nahen sich ihr mit Knixen und Bücklingen und bringen ihr Anliegen schüchtern vor. Die kaiserliche Hoheit lächelt und befiehlt zu folgen, worüber Hans und Grete außer sich vor Freude sind. Die Prinzessin giebt ihnen nun erst zu essen und dann packt sie ihnen mit ihren eigenen unverwelklichen Händen einen großen Tischkorb voll Teller, Schüsseln, Löffel etc. auf. Die beiden Brautleute bedanken sich schönstens, versprechen, morgen Alles unversehrt zurückzuliefern und auch etwas Reisbrei und Hochzeitskuchen mitzubringen. Wie eilten sie, nach Tilleda zu kommen, so schwer auch der zugedeckte Tischkorb war. Aber wie wurde ihnen, als sie ein ganz neues Tilleda vor sich sahen. An der Stelle, wo ihres Vaters Hütte stehen mußte, fanden sie einen großen Ackerhof. Kein Nachbarhaus war ihnen mehr kenntlich; kein Baum, kein Garten war mehr da, wo sie sonst dergleichen gesehen. Lauter fremde Menschen, die sich um das Brautpaar sammelten und es mit eben der Verwunderung und Neugier ansahen, als dieses die Gaffenden betrachtete. Sie setzten ihren Korb auf die Erde und sahen sich verdutzt und verlegen an. Da kam der Prediger von Tilleda. Grete ging auf ihn zu, klagte, daß sie beide wie verrathen und verkauft unter den Leuten wären, erzählte, daß sie gestern auf den Kiffhäuser gegangen wären und was ihr und ihrem Bräutigam seitdem geschehen sei. Der Herr Pastor nahm darauf das Brautpaar mit in sein Haus, schlug das Kirchenbuch nach und fand darin angemerkt, daß Hans und Grete vor länger als 200 Jahren auf den Kisshäuserberg gegangen und nicht zurückgekehrt waren. Ob sie bei ihrer Rückkehr noch in der Frische der Jugend standen oder auch eisgrau geworden waren, sagt die Geschichte nicht.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 441-442.
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