732. Das Stück vom Mantel der Jungfrau Maria im Dom zu Paderborn.849

[691] Als die heil. Jungfrau mit ihrem Kindlein nach Aegypten floh, da hatte sie eine gar beschwerliche lange Fahrt; über Berge und Thäler, durch Schluchten und Felder ging die Reise Tag und Nacht, denn die ordentliche Heerstraße wagten sie nicht zu ziehen, aus Furcht, von den Trabanten des Herodes gefangen zu werden. Nun war aber nicht blos der Weg rauh und dornig, sondern auch das Wetter sehr schlimm und stürmisch, und so kam es denn, daß ihr ärmliches Kleid mürber und mürber von der Reise ward und daß, wo sie an einer Hecke oder einem Dornbusch anstreifte, Stücke und Fetzen desselben hängen blieben; zuletzt konnte sie sich mit den Ueberresten desselben kaum noch verhüllen und so saß sie denn eines Tages unter einer Palme, weinte bitterlich und wollte schier verzweifeln. Da trat auf einmal ein alter Mann zu ihr und fragte die Heilige, warum sie so jammere, und als er ihre Noth vernommen, da zog er seinen Mantel von den Schultern und hing ihn der heil. Jungfrau über. Da sah ihn diese mit einem himmlischen Blick an und rief: »Der Herr wird Dir und Deinen spätesten Nachkommen lohnen, was Du mir thatest!« Damit stand sie auf und setzte ihre Reise nach Aegypten weiter fort.

Nach Verlauf von mehr als tausend Jahren trug es sich zu, daß zu den Zeiten der Kreuzzüge ein Ritter aus dem Paderborner Lande, Hans von Dringenberg genannt, auch nach Palästina zog, um gegen die Sarazenen zu fechten. Allein der Sieg war nie auf der Seite, wo er kämpfte. So geschah es einst, daß, als diejenige Schaar von Kreuzfahrern, zu welcher er gehörte, gerade eine feste Stadt belagerte, er bei einem Ausfall der Ungläubigen[691] von einem Pfeile getroffen vom Pferde stürzte und von den Seinen für todt liegen gelassen wurde. Die Feinde theilten diese Meinung, zogen ihn nackt aus und ließen ihn so in einer Blutlache liegen. Gleichwohl kam er doch nach einiger Zeit zu sich, er öffnete die Augen und sah eine hohe leuchtende Frauengestalt, ein Kind auf dem Arme, von jubelnden Engeln umgeben, vor sich stehen. Nachdem er sich überzeugt, daß er nicht träume, sah er doch endlich bald, daß die heil. Jungfrau vor ihm stehe, und nach wenig Augenblicken sprach dieselbe also zu ihm: »Einst, als ich auf Erden wandelte, war ich in großer Noth, ich hatte nicht soviel, meine Blöße zu decken, da kam ein Mann zu mir, der hüllte mich aus Mitleid in seinen eigenen warmen Mantel und ich verhieß ihm, es solle dies seinen spätesten Nachkommen vergolten werden. Du bist einer von diesen, ich bin daher gekommen Dir zu helfen.« Mit diesen Worten nahm sie ihren sternbesäeten Mantel ab und hing ihn über des Ritters blutige Schulter. Darauf verschwand sie, ehe noch der Ritter ein Wort erwidern konnte. Er aber fühlte sich wunderbar gestärkt, raffte sich auf und gelangte auch wieder in's christliche Lager. Von dem Tage an focht er aber immer in dem Sternenmantel und stets war das Glück und der Sieg mit ihm. Später kehrte er glücklich in seine Heimath zurück und legte den kostbaren Mantel im Dome nieder. Jeder, der den Dom betrat, suchte sich ein Stückchen von demselben abzuschneiden und so ist es gekommen, daß nur noch sehr wenig von demselben übrig ist, allein dieses Stück wird jetzt mit der größten Sorgfalt aufbewahrt.

849

S. Seiler S. 65 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 691-692.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagenbuch des Preußischen Staats
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band