777. Das hungernde Mädchen zu Unna.897

[728] Als im Jahre 1573 der Herzog Wilhelm von Jülich seine Tochter Maria Eleonora dem Herzog Albert Wilhelm in Preußen in Person zuführte, erfuhr der Begleiter desselben, der Doctor Jacob Wier, daß zu Unna ein Mädchen, Namens Barbara Kremer, seit einem ganzen Jahre weder gegessen noch getrunken habe, aber gleichwohl noch fortlebe. Bei der Rückkehr ließ der genannte Wier das 10 Jahre alte Mädchen mit ihrer zum dritten Male verheiratheten Mutter zu sich kommen und erkundigte sich bei dieser nach dem Zusammenhang der Sache. Dieselbe erzählte diesem, ihre Tochter sei vom 2. Februar bis 12. Mai heftig erkrankt, habe sich auch in dieser Zeit nur von etwas Wein, Bier und Milch genährt, vom 12. Mai bis 24. October aber gar nichts mehr genossen, kein Wasser gelassen und keinen Stuhlgang gehabt. Der Doctor zweifelte an der Wahrheit der Sache, konnte aber gegen das Zeugniß der Wahrheit, welches der Rath der Stadt Unna der Mutter ausgestellt hatte, nichts machen. Am nächsten April kam jedoch das Mädchen mit ihrer Schwester Else nach Cleve und bat unter Empfehlung des Raths zu Unna, daß ihr der Herzog ein Zeugniß über dieses unfreiwillige Fasten ausstellen solle, damit sie damit herumreisen und sich für Geld sehen lasse könne. Obgleich nun Jedermann in Cleve an das Wunder glaubte, so that dies doch der Doctor Wier nicht und brachte es bei dem Herzog dahin, daß dieser befahl, Wier solle das Mädchen drei Wochen in sein Haus nehmen und beobachten. Zwar widersetzte sich der Vater des Mädchens, allein er konnte es dennoch nicht erlangen, daß ihm[728] das Mädchen wieder mitgegeben wurde, nur soviel setzte er durch, daß die Schwester ebenfalls mit in das Haus des Doctors kommen durfte. Hier kam jedoch die Wahrheit bald an den Tag, die Frau des Doctors erwischte sie, als sie heimlich Wein trank und auch das Gesinde kam dahinter, wie ihr ihre Schwester Lebensmittel zusteckte. Da sie aber gleichwohl immer noch beharrlich leugnete, so sperrte sie der Doctor bald gänzlich so ab, daß ihre Schwester ihr absolut nichts mehr bringen konnte, und nach einigen Tagen war sie dann genöthigt, selbst um Speise und Trank zu bitten. Schließlich gestand sie denn auch, sie sei von ihren Eltern zu dem bisherigen Betruge verleitet worden und habe oft Schläge bekommen, wenn sie sich bei diesem Handel nicht vorsichtig genug aufgeführt habe. Sobald also der Doctor den Betrug vollständig ermittelt hatte, erzählte er dem Herzog den Verlauf der Sache, bat aber zugleich, man möge mit dem Mädchen und ihren Eltern gnädig verfahren. Dies geschah auch, der Herzog ließ am 13. Mai 1574 beide Mädchen auf seine Kosten zurück nach Unna bringen, mit einem Schreiben an den dasigen Rath, worin diesem seine Leichtgläubigkeit verwiesen und gewarnt ward, künftig vorsichtiger zu sein. Da nun aber von diesem Mädchen und ihrem Fasten früher eine gedruckte Beschreibung erschienen war, so ward der Rath angewiesen, dieselbe öffentlich auf dem Markte verbrennen zu lassen. Als indeß besagte Barbara nach Unna gekommen war, hat sie gleichwohl die Leute zu überreden gesucht, sie habe zwar vorher einige Monate gefastet, allein durch die kräftigen Arzneien, welche ihr der Doctor gegeben, sei sie wieder in ihren gegenwärtigen gesunden Zustand versetzt worden, und doch hatte sie Wier nur ein einziges Mal (ihre Schwester aber zwei Mal) mit gemeinem Oel, in welches er des Geruchs wegen einen Tropfen Spiköl gegossen, eingerieben.

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S. Von Steinen St. XIII. S. 1145 etc. Ueber andere Beispiele von langem Hungern s. Erich, Jülichsche Chronik Bl. 259. S. Majolus, Dies Canical. T. I. Coll. IV. Hamelmann, Braunschweigische Chronik p. 168. Leibnitz, Script. Rer. Brunsvic. T. II. p. 1066.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 728-729.
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