798. Die Sage von dem Fräulein von Rodenschild.921

[750] Einst in der Osternacht lag zu Holte auf dem Schlosse das junge Fräulein von Rodenschild schlaflos auf ihrem Lager; da hörte sie die Glocke zwölf schlagen und gleichzeitig ertönte unten im Schloßhofe, wie es noch jetzt an manchen Orten in Westphalen Sitte ist, frommer Gesang, mit welchem das Hausgesinde den Eintritt des großen Christenfestes begrüßte. Ergriffen von den feierlichen Töne eilte sie an's Fenster, öffnete es und schaute in den Schloßhof hinab, wo die Knechte und Mägde sich aufgestellt hatten, um ihr Lied ertönen zu lassen. Da sah sie, daß sich die Blicke Aller nach dem Balkon auf der entgegengesetzten Seite wendeten und mit Entsetzen sah sie ein Phantom, ganz so gestaltet wie sie selbst, mit ihren Gesichtszügen, im weißen Gewande, eine Lampe in der Hand die Treppe herabsteigen, durch die Reihen der ihr ängstlich Platz machenden Diener schreiten, langsam die Treppe hinaufschreiten und in die Burg treten. Sie folgte der Gestalt wie gebannt mit den Augen und sah sie durch die Scheiben mit dem Lichte in den großen Rittersaal treten. Da konnte sie sich nicht mehr halten, sie mußte wissen, wer den frechen Spuk wage, und eilte im geflügelten Lauf Treppe auf Treppe[750] ab, durch Gänge und Hallen immer der Erscheinung nach, bis sie dieselbe endlich an der Pforte des Schloßarchivs einholte, und ihr Auge legte sie an eine Spalte der verschlossenen Pforte, weil sie drinnen ein Rauschen unter den alten Scripturen hörte. Dasselbe that genau auch ihre Doppelgängerin an der andern Seite der Pforte, und als sie zurückfährt, tritt auch der Schemen zurück, da faßt sie Muth und tritt ihm entgegen und sieht ihm fest ins Auge und genau so thut auch ihr Spiegelbild, da streckt sie ihm ihre Hand entgegen und fühlt eine zweite ihr ebenso entgegenkommende Rechte sie eiskalt berühren. Dann verschwindet aber die Erscheinung und zerrinnt in Luft. Das Fräulein, das vor Entsetzen zu Boden sank und am Morgen von ihren Leuten hier in Ohnmacht gefunden ward, verfiel in eine schwere Krankheit, aus der sie sich jedoch wieder erholte; allein geträumt hatte sie nicht, denn die Hand, womit sie ihre Doppelgängerin berührt hatte, blieb für immer eiskalt wie von einer Leiche und nie trug sie dieselbe seit dieser Zeit ohne Handschuh.

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Poetisch behandelt bei Vincke, Sagen und Bilder aus Westphalen. Hamm 1857. in 12. S. 220 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 750-751.
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