810. Die Linde und der Stein auf dem Kindelsberge.931

[764] Auf dem Kindelsberge, der mittelsten Höhe eines Berges hinter dem Geissenberge in Westphalen stand vor alten Zeiten ein Schloß, das ebenfalls den Namen Kindelsberg trug und der Wohnsitz gottloser, übermüthiger Ritter war. Ihr Uebermuth entstand aus dem unermeßlichen Reichthum, den ihnen ein Silberbergwerk spendete. Sie spielten mit silbernen Kegeln und Kugeln, und als einmal eine Hungersnoth im Lande war, da ließen sie, um die armen Leute zu verhöhnen, große Kuchen von Semmelmehl backen und wie Räder an die Wagenachsen stecken.

Da ließ sich an einem der nächsten Spätabende plötzlich im Schlosse eine weiße männliche Gestalt sehen, die allen Burgbewohnern verkündete, sie würden Alle in drei Tagen sterben und zum Zeichen, daß diese Prophezeiung in Erfüllung gehen werde, solle in nächster Nacht eine Kuh zwei Lämmer werfen. Das bestätigende Zeichen geschah, aber Aller Herz blieb verstockt bis auf den jüngsten Sohn des Burgherrn und dessen schöne Schwester. Beide nahmen sich die Geisterdrohung zu Herzen und beteten mit einander Tag und Nacht. Es kam also der dritte Tag, da fielen Alle, mit Ausnahme der frommen Geschwister, eins nach dem andern todt zur Erde.

Die Burg mit allen ihren Besitzthümern gehörte nun dem jungen Ritter und seiner Schwester. Er zog aber mit einem jungen Grafen von der Mark, dem das Mädchen verlobt war, in den Krieg, aus dem er zwar immer wiederkommen sollte, aber in der That nicht wiederkehrte. So stand denn das schöne Burgfräulein von Kindelsberg einsam und ohne männlichen Rath und Schutz. Dies gewahrte der junge kühne, aber rohe Raubritter von dem Geissenberge, der beständig ein großes schwarzes Roß ritt und daher vom Volke nur der Ritter mit dem schwarzen Pferde genannt wurde, und warb um das Fräulein. Diese aber lehnte seine Bewerbungen ernstlich ab mit der Versicherung, daß sie bereits eine Verlobte sei. Aber weder ihr Bräutigam noch ihr Bruder wollten wiederkehren und der schwarze Ritter seine Bewerbung einstellen. Da sprach das Fräulein, um den Letztern von sich fern zu halten, eines Tages zu ihm: »Wenn die grüne Linde vor meinem Fenster verdorrt, will ich Dir gewogen werden.« Der schwarze Ritter ließ nun überall im Lande sorgfältig nach einer dürren suchen, die so groß wie jene grüne sei, und es ward auch unglücklicher Weise eine solche gefunden. Schnell ließ sie der Geissenberger herbeischaffen und in einer mondhellen Nacht an die Stelle der grünen setzen, diese aber ausgraben und wegthun. Als aber am Morgen das Fräulein erwachte, wunderte sie sich über die ungewohnte Helle vor dem Fenster ihres Schlafgemachs und eilte die Ursache zu sehen. Wie von Geisterhand berührt stand sie todtenbleich, denn vor ihrem Fenster war eine verdorrte Linde. Sie schlich hinab und weinte bitterlich. Da kam der schwarze Ritter, um nun ihre Liebe und Hand gleich einem Raube hinwegzuführen. Da sagte ihm das Fräulein mit kühnem Muthe in's Gesicht, daß sie ihn nie lieben werde. Solchen Bescheid nach so vieler gehabter[764] Mühe, die ihm sein Betrug verursacht hatte, nicht erwartend, zog der Ritter das Schwert und stieß die Unglückliche nieder. Noch am selben Tage aber kehrte ihr Bräutigam zurück, bereitete ihr ein Grab und setzte an dasselbe eine Linde und einen großen Stein, die noch heute zu sehen sind.

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S. Ziehnert Bd. II. S. 214 etc. Bechstein S. 322 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 764-765.
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