1037. Das Hemde des Gespenstes.

[855] (S. Lammers in d. Mittheil. Bd. III. S. 242.)


Es saß einst ein lustiger Geselle im Wirthshaus, spielte in der Karte und trank lustig darauf los, da fängt der Michel an allerhand Hexen- und Teufelsgeschichten zu erzählen und den Andern gruselte es in der Haut. Da sprach der lange Jost: »Jetzt wird wohl keiner auf den obern Kirchhof gehen wollen!« – »O«, sagte Lieschen, das Schenkmädchen im Wirthshause, »das will ich wohl thun, was gilt die Wette?« Da wettete der Jost vier gute Groschen und es ward ausgemacht, daß Lieschen zum Beweise einen Rosenkranz von einem Grabe holen sollte. Sie sagte: »Topp« und ging hinweg. Jetzt hatte sie den Kranz, da sah sie auf einem Grabe einen Geist sitzen, der ein weißes Hemde anhatte. »Halt«, dachte sie, »das Hemde könnte ich brauchen!« und beim Vorübergehen nahm sie ihm das Hemde weg, sagte aber zu Hause nichts davon, sondern nahm stillschweigend ihre vier Groschen, wartete bis Alle fort waren und dann legte sie sich zu Bett. Aber um Mitternacht klopfte der Geist an ihr Fenster und rief im tiefen Grabestone: »Lieschen, mein Hemd!« und so dreimal, aber das Lieschen zog die Bettdecke über den Kopf und sagte nichts, und die andere Nacht kam der Geist wieder und forderte wieder zu dreien Malen sein Hemde und Lieschen sagte wieder nichts. Als aber der Geist in der dritten Nacht wieder kam, da sagte er: »Lieschen, hängt morgen Nacht um 12 Uhr mein Hemde nicht auf dem Kirchhofe so um mich, wie vorgestern, mußt Du mit ins Grab!« Nun hatte aber Lieschen keine Ruhe mehr, sondern sie sagte es dem Pastor und der rufte die Gemeinde zusammen. In der Nacht aber um eilf Uhr ging ein großer Zug mit Fackeln und Lichtern und Chorknaben singend nach dem Kirchhofe, Lieschen in Büßerkleidern mit dem Geisterhemde voran. Als sie dorthin kamen, sahen sie den Geist, die Chorknaben schwiegen und Lieschen ging weinend auf den Geist los. Sie hing ihm das Hemde über, aber es wollte nicht gehen, dabei verging die Zeit, die Glocke schlug 12, sie schrie, da sprang der Geist auf sie los und riß sie mit sich ins Grab.

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Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 855.
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