966. Der Happes-Kippel.

[812] (S.v. Herrlein, Sagen des Spessart. Aschaffenburg 1851 in 8°. S. 93.)


Unfern von Cassel bei Orb erhebt sich ein einzelnstehender Berg von kegelförmiger Gestalt, welcher der Happes-Kippel genannt wird. Auf diesem Berge stand vor langen Jahren eine stattliche Burg, allein die Ritter, welche hier hausten, waren wohl reich und mächtig, aber sonst war von ihnen nur wenig Gutes zu sagen, denn sie gehörten unter die Zahl der schlimmsten Raubritter, welche das schöne Hessenland unsicher machten. Am Fuße des Burgberges hatte sich eine arme Wittwe angesiedelt, die freilich nicht die Habsucht der Besitzer jener Burg reizen konnte, denn sie besaß nichts als zwei Kinder und ein Paar Ziegen. Nun begab es sich, daß eines Tages der zehnjährige Sohn des Ritters sich vor dem Thore seines väterlichen Schlosses im Armbrustschießen übte, er war schon lange des Schießens nach einem Ziele auf der leblosen Scheibe müde, und als er die beiden Ziegen der armen Wittwe am Berge herumklettern und sich Futter suchen sah, da dachte er, diese würden einen bessern Zielpunkt für sein Geschoß abgeben, er legte an und mit zwei Bolzen streckte er die unschuldigen Thiere zu Boden. Mittlerweile war es Abend geworden und weil die Ziegen nicht wie gewöhnlich nach Hause kamen, so ging die arme Frau hinaus in den Wald, der den Berg umgab, um ihre Pfleglinge zu suchen. Sie waren nicht an ihrer gewöhnlichen Stelle und die Wittwe mußte hoch und immer höher steigen,[812] ohne sie finden zu können. So kam sie auch endlich an den Platz vor der Burg und siehe, da lagen die armen Thiere todt in ihrem Blute. Schreiend und weinend warf sich die arme Frau auf ihre Lieblinge und rang die Hände und rief laut die Rache des Himmels über den herab, der ihre Ziegen, das einzige Gut, welches ihre Kinder vor Hunger geschützt hatte, muthwillig getödtet hatte. Da trat der kleine Junker höhnisch vor sie hin und sprach: »Nun ich habe sie erschossen, wozu das Geschrei und Gejammer, es kommt doch nichts darauf an, ob solch armes Volk, wie Ihr seid, lebt oder nicht lebt, um solche gemeine Leute kümmert sich doch Niemand!« Da rief die Wittwe in schwerem Zorn: »Meinst Du, schändlicher Bube, daß es Dir erlaubt ist uns arme Leute mit Füßen zu treten und zu verhöhnen, vor Gott dem Herrn sind wir alle gleich und ein fleißiger Landmann ist mehr werth, als der Sohn eines bösen Raubritters, wie Dein Vater ist. Verflucht seist Du und Dein ganzes Geschlecht, verflucht Dein Haus, verflucht Dein Name und Deines Namens Gedächtniß!«

In diesem Augenblicke fing aber ein schweres Gewitter, welches heraufgezogen war, an sich in schweren Schlägen zu entladen. Der Junker eilte in die Burg, die Wittwe aber in ihre Hütte, wo es heute keinen Tropfen Milch für ihre Kinder gab; als aber am nächsten Morgen sich das Unwetter gelegt hatte, da sah man kein Schloß mehr, der Blitz hatte eingeschlagen, alles Lebende in der Burg erschlagen und diese selbst durch Brand zerstört. Heute sieht man nichts mehr von dem stolzen Bau als einiges Mauergeröll, man weiß nicht einmal mehr den Namen derselben oder den seiner Besitzer, an der Stelle aber, wo die Ziegen der Wittwe gemordet wurden, wächst heute noch kein Gras und bleibt kein Schnee liegen, die Wittwe und ihre Kinder aber sind auch nicht verdorben.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 812-813.
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