Der Unbekannte

[269] Durch das enge Thor des Städtchens

Zieht ein alter Bettler fort,

Niemand spendet ihm Geleite,

Lebewohl und Abschiedswort.


Nicht verräth die graue Wolke,

Daß sie Botschaft Gottes trägt;

Nicht verräth der graue Felsen,

Daß er Schachte Goldes hegt.


Und dem kahlen Baum im Winter

Seht ihr's auch nicht an sogleich,

Daß er einst so fröhlich grünte

Und an Blüth' und Frucht so reich.


Von dem Mann am Bettelstabe

Hätt' es Keiner wohl geglaubt,

Daß er einst im Purpur strahlte

Kronumglänzt sein Lockenhaupt!


Meuter rissen ihm die Krone

Und den lichten Purpur ab,

Reichten ihm, anstatt des Zepters,

Einen morschen Wanderstab.
[270]

Und so wallt er schon seit Jahren,

Ungegrüßt und ungekannt,

Mit dem schwergebeugten Haupte

Durch so manches fremde Land.


Müde, todesmüde sinkt er

Unter einen Blüthenbaum,

Von den Zweigen eingesungen

In den tiefen, ew'gen Traum.


Menschen, die vorübergingen,

Sprachen da in stillem Gram:

Wer ist wohl der arme Alte,

Der so elend hier verkam?


Doch Natur mit lichtem Auge

Hat den Schläfer wohl erkannt,

Und ein feierlich Begängniß,

Wie's dem König ziemt, gesandt.


Blüthenkränze wehn vom Baume

Ihm als Kron' aufs Haupt herab,

Und zum Zepter übergoldet

Sonne ihm den Bettelstab.


Rauschend wölben sich die Zweige

Ueber ihm als Baldachin,

Und den königlichen Purpur

Legt das Abendroth auf ihn.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 269-271.
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