Mumie

[302] Frühlingslüfte, weiche, milde,

Streichen um Egyptens Lande,

Hauchen in das Saatgefilde,

Fächeln über starrem Sande;

Was da wallt, soll frischer wallen,

Was da lebt, soll doppelt leben,

Doch was todt ist, soll zerfallen,

Sich verjüngt einst zu erheben.


Frühlingslüfte wollen haschen

Flücht'ge Keime halberstorben,

Selbst des Grabs zerstreute Aschen

Unverloren, unverdorben;

Jedes finde seine Stätte

In des Nilthals reichen Schollen,

Wo Gestad' und Strom zur Wette

Volle Segenswogen rollen.
[303]

Und sie wehn unaufgehalten

Um die alten Nekropolen,

Durch der Pyramide Spalten

Schlüpfen sie hinein verstohlen,

Durch der Gänge Schlangengleise

Bis zum Zellengrab zu schleichen,

Rütteln an den Särgen leise,

Flüstern in das Ohr der Leichen.


Und die Königsmumie drinnen,

Prunkversteint und unverwittert,

Fühlt den Hauch zum Herzen rinnen,

Daß ein Zucken sie durchzittert;

Möcht' entraffen sich den Grüften,

Nicht zu leben, nicht zu wallen,

Nein, hinaus nur, an den Lüften

Zu verwehn und zu zerfallen:


»Frühling, Frühling! Auch den Todten

Stillersehnt und süßwillkommen!

Sendest uns auch deine Boten

In die Haft, die uns beklommen;

Ja, schon fühl' ich deine Quellen

Leis in meinen Adern rinnen,

Mein Verlebtes fortzuschwellen,

Mir ein neu Gewand zu spinnen.


Weh, vergiftet meine Säfte,

Daß daran der Frühling machtlos;

Und betäubt die tiefsten Kräfte,

Selbst des Auferstehens achtlos![304]

Mit den Harzen und Balsamen

Eingeträuft in meine Adern,

Starb des Lebens letzter Samen,

Ward ich stumpf wie diese Quadern!


Sklaven, die mit feigem Bangen

Meinem Augenwink gezittert,

Halten mich im Schlaf gefangen,

Angefesselt und umgittert;

An die eherne Erstarrung

Haben sie mich festgekettet,

Zu lebendiger Verstarrung

In den Cedernschrein gebettet!


Der mich zu vergöttern glaubte,

Knechtsinn, hat mich hingerichtet,

Mir, da er mein Welken raubte,

Lenzjahrtausende vernichtet.

Larve, laß hinaus den Falter!

O zerschmettert diese Hallen!

Tilgt mein unehrwürdig Alter!

Laßt verwehn mich und zerfallen!


Bald an deinem Borne tränken

Meine Fasern sich zu Halmen,

Und mein Herz wird sich versenken

In das Mark der sonn'gen Palmen;

Mein verdunkelt Aug', entsiegelt,

Labt sich bald an Licht und Ruhme

Wenn im heil'gen Nil sich's spiegelt

Eine fromme Lotosblume.
[305]

Meine weichen Locken wallen

Bald in säuselnden Mimosen,

Tropfen meines Blutes fallen

In der Tulpen Kelch und Rosen.

Und was Staub soll werden, fliege

Durch die Lande mit dem Winde,

Bis es einst befruchtend liege

Und den Heimatboden finde.


Frühling, Frühling! Deinem Winken

Folgt mein süßgeheimstes Beben;

Aber weh, ich kann nicht sinken,

Kann empor zu dir nicht schweben.

Wehe, starr und festgebunden,

Gurt' an Gurte, Bind' an Binde,

Arm und Bein und Brust umwunden

Hülflos gleich dem Windelkinde!«


Und die Pyramid' erzittert

Tief zum Grund von solchem Hader,

Wie die Ceder, wenn's gewittert.

Oben löst sich eine Quader,

Kollert an den Steingerüsten,

Springt und prallt in Sand und Dorne,

Staub erregend, der den Wüsten

Sage von des Todten Zorne.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 2, Berlin 1907, S. 302-306.
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