Zweite Szene

[358] Paris. Unter den Arkaden des Palais Royal.

Vieles Volk, Bürger, Offiziere, Soldaten usw., etwa wie in der ersten Szene des ersten Aufzuges.


VITRY. Bist satt, Chassecoeur?

CHASSECOEUR. Ja, von überreifen, übersüßen Kartoffeln.

VITRY. Sollen wir zur Seelenmesse, welche die Madame über den Gebeinen ihres Vaters halten läßt?

CHASSECOEUR. Lieber zur Hölle. – Madame ist sehr gnädig. Wenn die Gebeine, für welche sie jetzt betet, nicht eher einem Schreckensmann angehören, als dem längst in Kalk vermoderten Capet, bin ich verflucht.

VITRY. Gönn ihr die Knochen. Fleisch ist nicht daran.

ADVOKAT DUCHESNE kommt. Was Neues!

VITRY. Das Neue ist heutzutag was Altes.

DIE ALTE PUTZHÄNDLERIN. An meinen Tisch, Herr!

VITRY. Immer die Politik am Putztische.

DUCHESNE. Wieder tolle Streiche! – Die Emigranten werden entschädigt.

VITRY. Wofür?

DUCHESNE. Dafür, daß sie zur Zeit der Not wegliefen.

VITRY. Wovon entschädigt?

DUCHESNE. Von dem Gelde und Blute der Nation.

VITRY. Chassecoeur, wir wollen künftig auch weglaufen.

CHASSECOEUR. O!

VITRY. Alter Junge, ärgere dich nicht zu arg. Aus dem jetzigen Spaß wird einmal wieder Ernst.

DUCHESNE. Die Ultras machen die offenbarsten Schritte, die Konstitution umzustürzen.

VITRY. Ist sie ihnen noch nicht schlecht genug?

DUCHESNE. Die Angoulême läßt die Jesuiten zurückrufen.

VITRY. Wir jagen sie wieder fort.

DUCHESNE. In Nismes ermordet man schon die Protestanten, und niemand wehrt.

VITRY. Freund, daran zweifle ich: sie genießen des Schutzes unseres legitimen Herrschers.

CHASSECOEUR. Teufel, was ist denn legitim?

VITRY. Das, was alt ist.

CHASSECOEUR. Wie alt?[358]

VITRY. Weiß nicht genau.

SAVOYARDENKNABE mit dem Murmeltier und Dudelsack.

La marmotte, la marmotte etc.

CHASSECOEUR. Der verdammte Junge mit seiner Bettelei. Man kann nichts vor seinem Singsang hören.

VITRY. Laß ihn. Murmeltiere sind vermutlich legitim. Wenigstens waren sie schon unter Heinrich dem Vierten in Paris.

LOUISE. O mein Philipp!

VITRY. Bitte, Kind, nicht zu nahe, – – mit Vorsicht.

LOUISE. Wie, du kennst mich nicht mehr? hast du mich nicht geliebt?

VITRY. Kenn ich jedes Soustück, das mir durch die Hand gegangen ist? Ebensowenig jedes Mädchen, das ich geliebt habe.

LOUISE. Ach, Philipp, unter den Fahnen der Großen Armee schwurst du mir Treue.

VITRY. Auf wie lange?

LOUISE. Auf ewig.

VITRY. Das bedeutet seit dreißig Jahren so viel als gar nichts. Fahre wohl, Geliebte.

LOUISE. Ha, du –

VITRY. Geschwiegen, Mademoiselle, geschwiegen, sag ich, – hier kommen Zeitungen.

DUCHESNE. Was gibt es, Zeitungsverbreiter?

ZEITUNGSVERBREITER. Sie sprechen!

DUCHESNE. Wer?

ZEITUNGSVERBREITER. Die beiden Felsen im Meere!

VITRY. Welche Zeit! Die Steine reden!

ZEITUNGSVERBREITER. Carnot, Fouché – hier ihre Memoiren im Auszuge in den Zeitungen, – sie haben dem Könige die Wahrheit gesagt, ihm die Albernheiten der Restaurationsminister so deutlich vorgerückt, als wir sie uns hier sagen –

VITRY. Ach, das hilft nicht viel, denn gut sagen ist leichter als recht hören.

DUCHESNE. Her, her die Zeitungen! Ich muß sie selbst sehen!

VOLK. Wir wollen sie auch sehen! Her, her damit!

ZEITUNGSVERBREITER. Da habt ihr sie!


Er wirft die Zeitungen in die Luft.


DUCHESNE ergreift, wie viele andere, ein Blatt und liest. Ha – O – Richtig – Juchhe – schändlich – Wie wahr Ja, anders, anders muß es werden, – Blut und Tod! –[359] Gut, gut. – Herrlich! – Auf Elba rührt sichs allmählich – Im Pflanzengarten ist auch Lärm gewesen – Gut, gut, je schlechter, so besser – Das Korn gibt erst Mehl, wenn es zermalmt ist – Adieu, meine Herren, – ich muß zu Freunden.


Ab.


VITRY. Was ist dir? Was treibst du mit den Armen?

CHASSECOEUR. »Auf Elba rührt sichs allmählich« – Ich schwinge in Gedanken den Säbel!

VITRY. Wo ist Louise? Fort? – Nein, sieh: ein junger Engländer entführt mir ihre Reize. Wohl bekomms, Mylord!


Quelle:
Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe. Band 2, Emsdetten 1960–1970, S. 358-360.
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