Die tragische Muse

[121] Vor Vollendung des Trauerspiels »Medea« gedichtet


Halt ein, Unselige, halt ein!

Wohin verlockst du mich?

Über Berge bin ich gekommen,

Durch Schlünde dir gefolgt,

Kein Pfad ist, wo ich trete, keine Spur –

Fern herauf tönt der Menschen Stimme,

Tönt der Herden fröhliches Geläut

Und des Waldbachs Rauschen;

Ringsum Klippen, wolkennahe Klippen,

Über mir Duft und Nebel,

Lügend Gestalten!


Was willst du? – Steh und rede!

An deiner Seite ein Weib

Gräulichen Anblicks.

Schwarz flattern die Haare,

Schwarz funkeln die Augen,

Schwarz das Gewand – Blut!

Blut an ihrem Gewande,

An dem Dolch, den sie zückt!

Zwei Kinder tot zu ihren Füßen

Und ein Greis und ein Jüngling,

Im Todeskampf verzerrend,

Verwandte, ähnliche Züge;

Um die Schultern aber glänzt es –

Ein Vließ – ein goldstrahlendes Vließ –

Medea! –


Hebe dich weg, Entsetzliche!

Kinder-, Bruder-, Vatermörderin!

Was ist mir gemein mit dir?

Den Vater hab ich kindlich geehrt,

Und als die Mutter starb,

Flossen fromme Tränen

Ihr nach ins unerwünschte Grab.

Was hab ich gemein mit dir?

Mir schaudert. Geh! –[122]

Und auch du, die mich hergelockt,

Durch die Leier in deinem Arm

Und den Kranz, den du trägst,

Vom immergrünen Laub, das mich lockt,

Hebe dich weg und laß mich!

Daß ich, den Rückweg suchend,

Heimkehre zu den Meinen.


Aber du schaust mich an?

Mit dem Auge, streng zugleich und innig,

Mit dem seelenbindenden Blick,

Der schon dem keimenden Knaben

Das Spielzeug wand aus den Händen

Und, ablockend vom Kreis der Gefährten,

In einsiedlerische Still ihn bannend,

Das Geschick der Könige

Und der Welt ungelöste, ewige Rätsel

Ihm gab zum ahnungsvollen, ernsten Spiel.

Du schaust mich an und willst nicht gehn?

Winkst mir, zu folgen dir und der Gefährtin,

Medeen, mit dem gräßlichen Blick?

Du nimmst den Kranz vom duftenden Haar

Und setzest ihn aufs Haupt der Entsetzlichen?

Mir den Schmuck, den lohnenden Schmuck!

Du lächelst und winkst?

Folgen soll ich, dann sei gewährt?

Mein Wesen hat kein Schild gen solche Waffen,

Sie haften, deine Pfeile, in der Brust!

Vollendet sei, was begonnen!

Winke nicht mehr, du hast mich gewonnen!

Geh voran! ich folge dir.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 121-123.
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