[Zur Prüfungsfeier des k.k.

Offizierstöchter-Erziehungs-Instituts

zu Hernals bei Wien]

[211] Wie Kinder eines Stengels,

Wie Hall und Widerhall,

Ziehn zwei Geschwisterengel

Durchs nachtentstrittne All.


Sie leben durch einander,

Doch mit einander kaum,[211]

Der eine hoch in Wolken,

Das andre tief im Raum.


Sie suchen sich so treulich,

Sie rufen sich so bang.

Doch trennt sie Raum und Ferne

Wohl jahre-, lebenslang.


Und wo der eine gestern,

Da ist der andre heut.

Kehrt jener suchend wieder,

Ist schon der Bruder weit.


Doch finden sie sich endlich,

Da eilen sie zum Bund,

Und legen Wang an Wange

Und drücken Mund an Mund,


Und schlagen mit den Flügeln

Und segnen Welt und Zeit;

Die Engel heißen: – Wohltun,

Wohltun und Dankbarkeit.


Vereint – der Schöpfung Krone,

Getrennt – ein Traum der Nacht,

Das letzte, was den Menschen

Der Gottheit ähnlich macht.


Wir, die wir hier im Tale

Seit unsrer Kindheit Tag

Gehört ob unsrem Haupte

Des einen Flügelschlag –


Auf, laßt uns ihm entgegen

Die Arme breiten weit:

Hier finde edles Wohltun

Für ewig Dankbarkeit.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 211-212.
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