3.

[157] Als aber der Jüngling umher geschaut, und sich erhohlt hatte von seinem Staunen, trat die Königinn zu ihm, und fragte ihn: »Was begehrst du, Jüngling?«

Da antwortete er: »Ich komme zu hohlen den Stein Opal.«

Die Königinn sprach: »Meiner Güter höchstes ist der Stein Opal. Wärest du es nicht, den ich aus Tausenden erwählt habe, hättest du nicht der Prüfung deiner schuldlosen[157] Wahrheit so ganz bestanden, nimmer hättest du es wagen dürfen, meinem Reiche zu nahen. – Wisse aber: der Weise, der dich erzog, ist mein Vater. Darum zog ich dich allen Erdenbewohnern vor.«

Als sie das gesagt, griff sie mit der Hand in den brennenden Spiritus, und brachte heraus den Stein ohne Gleichen, den Stein Opal. Sie reichte ihn dem Jüngling, und sprach: »Nimm ihn hin; mit ihm gebe ich dir Macht, in meinem Reiche zu thun, was du für recht hältst; mit ihm gebe ich mein unterirdisches Reich auf. Auf der Oberwelt werden wir uns wieder sehen.« Und damit war sie verschwunden, und der Spiritus war verloschen, die Edelsteine leuchteten allein noch durch die Dunkelheit der unterirdischen Nacht. Er sah der Ausgänge viele, und wußte nicht mehr das Thor, durch das er eingegangen war. Da hatte er zum Glücke noch das Ende des Haares. Und er fing an mit ihm zu umwinden den Stein Opal, und es führte ihn hinaus. Da krachte es plötzlich hinter ihm,[158] und die Behausung der Königinn Tellus war zusammen gestürzt.

Er wand immer auf an dem Haare, und es führte ihn wieder durch die Behausung der Metalle; und als er vorüber war, da donnerte es hinter ihm, und der Saal stürzte zusammen, und die Quelle der Metalle war verschüttet. Darum wachsen die Metalle im Schachte der Berge jetzt nicht mehr.

Als er aber ging durch die Behausung der Elemente, sprach er: »Ihr unterirdischen Mächte, du Königinn Tellus, höret mich! die Elemente sollen fortan bleiben im Schoose der Erde!« Und die Elemente blieben, und strömen seitdem noch immer aus auf die Oberwelt.

Und er schritt wieder über den Quecksilbersee, und kam an die seltsame Pflanze, und brach sich einen Zweig derselben, und ging weiter. Da welkte die Pflanze, aber sein Zweig blieb frisch.

Da kam er wieder an das Bächlein, wo die Mutter saß, und Perlen weinte, wo jenseits die gewelkte Lilie stand, und sprach zu[159] ihr: »Sprich, was bedeutet die Lilie auf dem goldenen Stengel?« Da antwortete die Mutter: »Die Lilie auf dem goldenen Stiele bedeutet meine Tochter Tellus, die ich unglücklich gemacht habe.«

»Wie hast du denn deine Tochter unglücklich gemacht?« fragte der Jüngling. Da antwortete die Mutter: »Sie war glücklich auf der Oberwelt, und freute sich über Blumen und Bäume und Berge und Thäler, und wußte nichts von irdischem Gut. Da kam eines Abends ein Mann zu uns, und ließ sie wählen zwischen einer Lilie, und dem Stein Opal. An der Lilie, sprach er, hinge das Reich der Oberwelt, und die Freude an Wald und Flur. Auch hänge von ihr ab das Reich der Gemüther und der Freundschaft und Liebe; mit dem Stein Opal stehe aber in Verbindung das Reich der Elemente und der Erdengüter, der Metalle und Perlen und Edelsteine. Da griff meine Tochter nach der Lilie; aber ich rief ihr zu, und winkte ihr auf den Stein Opal, denn mein[160] Herz hing an den Gütern dieser Erde; und sie nahm den Stein, gehorsam dem Winke der Mutter. Sie bekam zwar das Reich der Erdengüter, aber ihr Herz welkte unter den todten Steinen, und trauerte. Da erschien mir der ehrwürdige Greis, den du gesehen hast im Saale, wo die Schicksale der Erdenbewohner eingegraben stehen, und führte mich hieher. Und hier muß ich nun büßen, und Perlenthränen weinen, bis ein Anderer den Stein Opal besitzt, und ihn nimmt auf die Oberwelt.«

»Komm Mutter der Perlen,« sagte der Jüngling, »ich habe den Stein Opal, und nehme ihn mit auf die Oberwelt.« Die Mutter der Perlen folgte ihm, und sie kamen wieder an den Thurm, darin der Alte saß, und spann. Er trat hinein, und fragte ihn: »Was spinnest du die Haare deines eigenen Bartes mit großen Schmerzen zu Stricken?«

Da antwortete der Greis: »Darum, daß ich an dem Stricke mich niederlasse ins Meer der vergangenen Zeit, und wieder[161] hohle die verlorenen Stunden. Darum geitze ich mit den Haaren und mit der gegenwärtigen Zeit.« Und als er das gesagt, warf er ihm einen zornigen Blick zu.

Und die Fee stand wieder bey ihm. Aber der Jüngling fragte: »Wo ist das Meer der vergangenen Zeit?« und faßte den Alten mit seinem Rade, und trug ihn mit sich. Da führte ihn die Fee hinaus, und zeigte ihm einen unergründlichen Abgrund. Da warf der Jüngling den Greis hinab, und sprach: »Gehe hinab in die Vergangenheit! Du warst, und die Zeit war. Warum hast du sie dir vorüber gehen lassen? Warum bist du nicht mit ihr gegangen?«

Und die Fee nahm den Jüngling bey der Hand, und stürzte sich mit ihm hinab in die Fluthen des Meeres der Vergangenheit, und sie schwammen an das andere Ufer; da saß seine ältere Schwester, die erste der Königstöchter, und schaute hinab auf die Tiefe des Meeres, auf die Thaten der Menschen, deren Bild sich dar auf spiegelte.[162] Und vor sich hatte sie eine Tafel, und grub die Thaten darauf mit einem diamantenen Griffel.

Der Jüngling umarmte aber seine älteste Schwester, und nannte sie Wara, und nahm sie mit sich.

Die Fee führte sie weiter, und sie traten ein in einen Garten, schöner, denn die Gärten der Sterblichen. Ein Regenbogen war gezogen um die Decke des Himmels, und alle Farben lachten nieder auf den Garten, schönere Blumen blühten darin, und hauchten Wohlgerüche, süsser, als die Düfte der irdischen Blumen. Aber in der Mitte des Gartens stand eine Laube von Rosen und Jasmin, und drinnen saß die zweyte Schwester des Jünglings, die zweyte Königstochter, auf einem Sitze von Rosen und Lilien, und flocht Kränze aus den Blumen, die nie welkten.

Aber der Königssohn winkte ihr, und nannte sie Nossa, und sie nahm zwey ihrer nimmer welkenden Kränze, und folgte ihm. Und die Fee führte sie weg, und sie kamen an eine Stelle, da[163] glühete ein mächtiges Feuer in ungeheurer Lohe, und mehr denn tausend Flammen züngelten roth und weiß und blau daraus in die Höhe, wie feurige Wellen. Aber in der Mitte des Feuermeeres saß in himmlischer Klarheit, mit stiller Ruhe und sanfter Gelassenheit die dritte Königstochter, die dritte Schwester des Jünglings, und winkte ihnen.

Da schritten sie über die Flammengluth ohne Schaden zu ihrer Schwester, und der Jüngling nannte sie Gefione, und nahm sie mit sich, und sie schritten jenseits aus dem Feuer. Und die Fee stand wieder bey ihnen. Da fragte der Jüngling: »Wohin führest du uns jetzt?« Da winkte ihm die Fee, und sie gingen ihr nach, und kamen an einen Brunnen. Da fragten die drey Königstöchter: »Wie heißt der Brunnen?« »Er heißt Brunnen des Lebens,« antwortete die Fee, und schöpfte aus dem Brunnen mit krystallener Schale, und reichte ihnen zu trinken; und alle tranken davon, und sanken in tiefen Schlummer.

Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen. Heidelberg [1809], S. 157-164.
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