Vierte Scene.

[117] (In Schira's Hofe.)


Guran

sitzt, und sieht hinauf unter das Dach.


Hm! hm! – Was das bedeuten mag.


Ein Knecht kommt.


Was guckst du denn so hinauf unter das Dach?


Guran.


Siehst du nichts?


Knecht.


Die Schwalbennester.


Guran.


Und die Schwalben reißen sie selber ab. Ich seh schon lang zu. Sonst ziehen sie immer wohl um diese Zeit bald fort, aber die Nester lassen sie doch, daß sie eine Unterkommen haben, wenn sie zurückkehren.


Knecht.


Das bedeutet Unfriede in dem Haus.


Guran.


Geh! das werden die Vögel wissen? Das Vieh[118] kümmert sich nichts drum, ob Fried' oder Unfried' im Hause ist, wo sie ihr Nest ankleben, wenn's nur brav Ungeziefer gibt, von dem sie leben.


Knecht.


Das gilt nicht von den Schwalben.


Guran.


Ach, geh mit deinem Aberglauben.


Knecht abgebend.


Wunder über Wunder! Der Herr ist fort, kommt gar nicht wieder.


Guran.


Fort?


Lugar.


Ja, fort! und ich geh auch. (Zeigt einen Beutel mit Geld:) Sieh, das ist mein Lohn. Den hab ich mir gleich auszahlen lassen. Denn jetzt mag ich nicht hier bleiben. Die beiden Töchter des Herrn sind gar wunderlich und immer verdrießlich, wenn sie zu Hause sind. Ich glaube, die können nur am Spieltisch fröhlich sein.


Guran.


Wahr ists! Da wirds eine schöne Wirthschaft geben.[119] Aber wie ist es denn zugegangen? Warum ist der Herr denn fortgereißt.


Lugar.


Ja, warum? das kann ich nicht sagen. Sieh, ich war eben oben, da hör' ich die Beiden zanken und schelten, und als ich in das Zimmer ging – du hättest den Spektakel sehn sollen! – Da zankten sie sich um Roselindens Kleider. Die ist auch fort, und hat alle ihre kostbaren Sachen im Stich gelassen.


Guran.


Ei, ei! was man nicht alles erlebt!


Lugar.


Und wie sie so die Kleider herum rissen, und sich schier darüber schlugen, und sie einander aus den Händen zerrten, da sagt' ich so in aller Unschuld vor mich hin: »Nun, ja! wenn das der Herr wüßte!« Da fuhren sie aber alle Beide auf mich her, und schrieen durcheinander: »Was willst du? Jetzt sind wir Herrn! Jetzt haben wir zu befehlen!« Und die Eine hielt mir ein Blatt, von unserm Herrn geschrieben, vor die Augen, und stieß mir's fast unter die Nase, und rief: »Da, lies, und lerne Respekt haben!« Da las ich denn klar in drei, vier Zeilen, daß[120] er fort sei, und nicht mehr wieder käme, und daß seine zwei ältesten Töchter alle seine Güter und Schätze theilen sollten.


Guran.


Hm! hm. Was das für Sachen sind! Die Schwalben haben da doch Recht, da war ja Zank und Streit.


Lugar.


Er ist mit der frommen Roselinde fortgefahren, und da geht's ihm gewiß gut. – Aber ich forderte gleich meinen Lohn, und gehe jetzt, den Herrn wieder aufzusuchen, oder doch in einen andern Dienst zu kommen. Denn in dem Hause wird kein Diener mehr lange bleiben.


Guran.


Ja, ja! da zieh' ich auch davon.


Ein Knecht kommt.


Jetzt reißt auch der Storch sein Nest vom Dach. Das beweißt, daß jetzt nur Gottlosigkeit in dem Hause wohnt.


Lugar.


Was? das bedeutet schnell Verderben!


Ein Diener kommt.


Welch ein Unglück?


[121] Alle.


Nun, was gibt es denn schon wieder?


Diener.


Zwei Leichen auf einmal.


Guran.


Was?


Diener.


Unsers Herrn Töchter zankten sich über ihrer Schwester goldgesticktes Kleid, jede hielt es, und keine wollte es lassen, und zerrten so daran, und kamen bis an die Treppe, und eine riß mit aller Macht, da riß das Kleid entzwei, und beide stürzten die Treppe von oben bis unten herab, und liegen nun da, und keine rührt ein Glied. Sie haben beide den Hals gebrochen. Aber jede hält noch das Stück Kleid in den Händen.


Guran.


So sind sie todt?


Diener.


Freilich, freilich! maustodt.


Knecht.


Das haben die Schwalben wohl gewußt, daß es Todtschlag in dem Hause geben wird. Gelt, Guran, du wolltest nicht glauben!


[122] Lugar.


Und der Storch. Drum hat er sein Nest heruntergeworfen.


Guran.


Das haben die beiden Mädchen wohl an ihrem Vater verdient, den sie hätten verschmachten lassen, als er krank lag.


Lugar.


Sie hätten gern schon früher mit seinem Vermögen geschaltet und gewaltet nach Gefallen. Darum wars ihnen leid, daß er wieder gesund ward.


Einige Diener.


Kommt, laßt uns das Unglückshaus verlassen.


Alle.


Ja, wir wollen alle gehen.


(Sie gehen ab, indem schlagen die Flammen an allen Enden aus dem Hause.)


Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Lina’s Mährchenbuch 1–2. Band 1, Grimma 21837, S. 117-123.
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