2.

[20] Aber Armina und ihre Amme waren in ihrem Drachenschiff auf eine glückliche friedliche Insel getragen worden, und lebten daselbst etliche Monde in stiller Trauer, darum daß sie ihren geliebten Vater also hatte verlassen müssen, und verlassen ihr schönes Vaterland, ihre schönen Gärten, ihre schönen Blumen, ihre frommen Tauben und schneeweißen Lämmlein, die sie jeden Tag vordem mit eigenen Händen gepflegt und gefüttert. Und ihre Amme trat oft zu ihr, und sprach ihr Trost ins Herz. Doch sie konnte nicht zufrieden und ruhig werden. Da schlug ihr die Amme vor, sie wollten sich wieder in das Wünschschifflein setzen, und bald da und bald dorthin ziehen, und alle Völker und alle Gegenden der Erde betrachten.

Und sie war es zufrieden, und setzten sich beide ein, und wünschten sich dahin und dorthin, und besahen die Länder und Städte und Menschen im Morgen-und Mittag- und Abendlande und besuchten auch die kalten, mitternächtlichen Gegenden.[20]

So zogen sie hin und her in der Welt wohl manches Jahr, und gewöhnten sich ganz daran, jede Woche an einem andern Orte zu leben. Und Armina vergaß nach und nach ihres Schmerzes, um den Tod ihres Vaters. Denn sie hatte es bald in einem fremden Lande erfahren, daß er gestorben. Als sie nun aber dachte, daß sie ganz vergessen wäre in ihrem Lande und in ihrer Heimath, wünschte sie sich wieder einmal hin an ihr liebstes Plätzchen im Schloßgarten, und ward sogleich hingetragen von ihrem Drachenschiff. Und sie sahe sich um in dem Garten, da und dort, und freute sich, daß noch alles war, wie ehedem. Als sie aber kam, Wasser zu schöpfen an der Felsenquelle, da sie sonst ihre Lämmer gepflegt zu tränken, siehe! so lagen da im frischen Grase am Rande der Quelle zwei wunderliebliche ganz kleine nackende Knäblein, und schauten sie an mit ihren Augen, groß und hell, und streckten nach ihr die Aermlein.

Und Armina sprach zu ihrer Amme: »Komm, und siehe die zwei schönen Knäblein, die da verlassen liegen im Grase. Ich will sie mit mir nehmen, und ihre Mutter sein von nun an.« Da sprach aber die Amme zu ihr: »Mit nichten, Herrin! Wollt Ihr ihrer Mutter solchen Schmerz machen? Sie hat die Knäblein vielleicht hierher gelegt, und gedenkt sie in kurzer Frist wieder abzuholen.« »Nein!« sprach Armina, »sich, wie sie mich anlächeln mit ihren[21] Aeuglein, als wollten sie mir sagen, wir sind hilflos; nimm dich unser an.«

Da antwortete ihr die Amme: »Wenn Ihr also meinet, so laßt uns hier am Wasserquell warten, und sehen, ob ihre Mutter nicht nahet, sie zu holen. Lasset uns harren bis zu Sonnenuntergang, denn so lange lässet keine Mutter ihr Kindlein hilflos allein.« Und sie stellten sich hinter die Bäume, und harrten, ob niemand sich nahe, nach den Knaben zu sehen. Aber es ward Abend, und niemand war gekommen. Da traten sie hinzu, und Armina nahm die frommen Kleinen auf ihren Arm, und stieg mit ihnen in ihr Schifflein, und die Amme folgte ihr, und wünschte sich wieder weg, weit weg auf ihre friedliche Insel im großen Meere, und beschlossen jetzt hier zu bleiben, bis die Knäblein etwas heran gewachsen wären, damit sie nicht krank würden von dem beständigen Wechsel der Lust. Und Armina pflegte sie als Mutter, und sorgte für sie.

Da trat eines Tages die Amme zu ihr und sprach: »Ihr habt die Knaben jetzt schon ein Paar Monate, und noch habt Ihr ihnen keinen Namen gegeben. Wie denket Ihr sie denn zu nennen?«

Da besann sich Prinzessinn Armina einen Augenblick, und dann sprach sie: »Es ist wahr, sie müssen jeder einen Namen haben, damit man sie rufen könne, wenn sie größer[22] worden sind, und dahin und dorthinlaufen. So decke sie auf, damit wir sehen, wie wir jeden nennen wollen.« Und die Amme zog den Schleier weg, der über ihre Bettlein gespannt war. Da sprach Armina: »Sie sollen beide ihren Namen vom Wasser haben; darum, daß ich sie am Wasser funden habe. Und diesen mit den blauen Augen und den blonden Löckchen laß uns nennen Brunnen hold, darum, daß er freundlicher und holder ist, als der andere; den mit den dunkeln Augen und den braunen Löckchen laß uns nennen Brunnenstark, darum, daß er stärker ist, als Brunnenhold.« Und sie nannten sie fortan Brunnenhold und Brunnenstark, einen jeden wie ihm Armina den Namen gegeben hatte.

Aber die beiden Knäblein wuchsen heran zu fröhlicher Jugend, und koseten manch ein Stündlein mit ihrer Mutter Armina, und Armina wachte über ihre Kindlein mit mütterlicher Treue und Liebe. Und als sie größer wurden, zogen sie mit ihrer Mutter und der Amme ihrer Mutter wieder umher und blieben da, und blieben dort, bald länger, bald kürzer, je nach ihrem Gefallen.

So verging die Zeit mit Schnelle, und Brunnenhold und Brunnenstark wurden zwölf Jahre alt. Da berieth sich eines Tages Armina mit ihrer Amme, und sprach zu ihr: »Meine Knaben sind jetzt schon über zwölf Jahre,[23] und es ist Zeit, sie an einen Ort zu bringen, da sie ein Geschäft erlernen, das sie dereinst ernähre. Zu welchem Geschäft denkst du, daß ich sie thun soll?«

Da antwortete ihr die Amme: »Glückselig seid Ihr, daß Ihr selbst daran denket. Ich befürchtete, Ihr möchtet Euch nicht trennen können von Euern Knaben.«

»Wohl kann ich mich trennen von ihnen!« sprach Armina. »Konnte ich mich ja auch von meinem Vater trennen! – Was sein muß, das muß man nicht unterlassen, ob es gleich schwer dünken mag. – Die Knaben können nicht leben, wie ich lebe. Auch hatte mein Schifflein nur Vorrath auf dreißig Jahre, und die Hälfte davon muß bald vorüber sein. Was hälf's, wenn sie auch jetzt noch etliche Jahre sorgenlos lebten und dann auf einmal nichts hätten und nichts erwerben könnten, davon sie sich das Leben fristeten. Darum ist's nothwendig, daß ich mich von ihnen trenne. Sprich nur, welch ein Gewerbe ich sie soll erlernen lassen.«

»Laßt sie denn selbst wählen!« antwortete die Amme. »Seht, wir sind hier nahe einer volkreichen Stadt, und heute wir dort gefeiert ein großes Fest, dazu die Leute sich hineingezogen aus allen Gegenden umher. Laßt mich auch hingehn mit den Knaben, daß ich sie führe unter die Menschen[24] alle, und sie sich auswählen den, dessen Geschäft sie erlernen wollen.«

Das gefiel ihr, und sie herzte ihre Knaben Brunnenhold und Brunnenstark nochmals, und ließ sie ziehen mit der Amme nach der Stadt unter die Menschen. Und die Amme führte sie hin an das Hauptthor eines großen Tempels, und sprach zu ihnen: »Sehet an die Leute, wenn sie herausgehn, und zeiget mir den, der Euch am besten gefällt von allen.«

Deß freueten sich die Knaben, daß sie jetzt sollten unter den Menschen leben, und nicht mehr allein mit ihrer Mutter und der Amme, und ihre Gesichter glüheten vor Freude, und sie harreten mit Ungeduld, bis die Leute herauskämen.

Als die Feier aber im Tempel vorüber war, und die Leute herauskamen, da sahen sie alle an, und schüttelten aber bei allen die Köpfe; denn keiner gefiel ihnen von allen, welche kamen. Und schon waren die letzten herausgegangen, und die Amme hatte wohl schon hundertmal geforscht, welcher ihnen am besten gefiel, und immer war noch keiner gekommen, der ihnen gefallen. Und eben wollte sie scheltend mit ihnen von dannen gehen, da trat noch ein Mann heraus in grünem Kleide mit einem kurzen Schwert an der Seite.[25]

Da riefen die Knaben beide schnell: »Sieh das ist er! führe uns mit ihm! Der gefällt uns vor allen, die wir heute gesehen, und wenn auch noch Tausende kämen, es würde uns keiner gefallen, als dieser.« Darob freuete sich die Amme, und führte sie hin zu dem Manne, und sprach zu ihm: »Seht, ich bin hergeschickt von meiner Herrin, Euch zu fragen, ob Ihr nicht zu Euch nehmen wollt ihre beiden Söhne, die Ihr hier vor Euch sehet, und wollet sie erziehen zu allem Guten, und unterweisen in Euerm Geschäfte, was Ihr treibet. Ihr gefallt ihnen, und sie werden Euch gewiß folgsam sein in allen Stücken, und Euch Freude machen.«

Und die Knaben sahen den Mann im grünen Kleide treuherzig an, und sagten: »Ja! nimm uns zu Dir, grüner Mann! wir wollen Dir gewiß folgsam sein in allen Stücken.«

»Und meine Herrinn wird Euch Eure Sorge vergelten königlich!« setzte die Amme hinzu. Aber der Mann im grünen Kleide sah sie seitwärts an, und sagte halb unwillig: »Ei, was! seh ich denn darnach aus, als ob ich nach dem Lohn gleich fragte. Damit laßt's nur immerhin gut sein. Was ich für mich nicht thue, das thue ich auch nicht um den Lohn, und wenn er auch königlich ist.« Darauf wandte er sich zu den Knaben und lachte, und sah sie liebreich an,[26] und reichte ihnen die Hände dar, also sprechend: »Kommt, kommt, ihr frischen Bursche! ich nehme euch mit mir. Seht ich bin ein Mann, der das Waidwerk treibt draußen im grünen Forst, und ein Waidmann muß frischen Muth haben; so seht ihr mir aus. Darum seid mir willkommen. Ich habe keine Kinder, und habe mir doch schon so oft Kinder gewünscht, und meine Frau auch. Sich jetzt hab ich ja zwei Knaben auf einmal, und gerade so, wie ich mir sie gewünscht habe.«

Darauf wandte er sich zur Amme, und sprach; »Geht nur zu Eurer Herrin, und sagt ihr, ihre Knaben seien wohl aufgehoben bei mir. Ich will sie halten, wie ich meine eigenen Kinder halten würde. Und ein alter Knab bin ich. Sterbe ich, so sollen die beiden meine Erben werden, und meine Jagd unter sich theilen. So lang hoff ich ja noch zu leben, bis sie zwei tüchtige Waidmänner geworden sind.«

Darauf schieden sie von einander. Die Knaben gingen mit dem Waidmann, und die Amme ging zurück zu ihrer Herrin, und erzählte ihr, wie die Sache sich verlaufen. Dann setzten sie sich wieder in ihr Drachenschiff, und wünschten sich hierher und dahin, und beschlossen in etlichen Jahren wieder einmal zurück zu kehren, um nach Brunnenhold und Brunnenstark zu sehen.[27]

Aber die Knaben fanden sich wohl in des Waidmanns Haus und in sein Waidwerk, und waren ihm gehorsam in allen Stücken, und halfen ihm in Forst und Wald, und scheueten weder Regen noch Sturm, erlegten Thiere und hegten das Wild, und pflanzten mitunter im Garten, und leisteten auch der freundlichen Alten, des Waidmanns Frau, in ihren häuslichen Geschäften mitunter hilfreichen Beistand, und gewannen so die Herzen der beiden Alten, daß sie sie so sehr und fast mehr liebten, als Aeltern ihre Kinder lieben.

Das ging so fort vier volle Jahre. Da hatte Brunnenhold und Brunnenstark das Waidwerk vollkommen erlernt, und sehnten sich, weiter ihr Glück draußen zu suchen in der Welt. Aber die Alten wollten sie ums Leben nicht von sich lassen. Als sie aber jetzt achtzehn Jahre zählten, verlangten sie abermal, von dannen zu ziehen, und ließen sich nicht mehr zurückhalten, durch das freundliche Zureden und die Thränen der Alten. Und als sie sahen, daß sie sich nicht mehr länger halten ließen, da gaben sie einem jeden ein neues Jagdkleid, und die Alte ging hinauf auf den obersten Boden, und brachte zwei Jagdmesser herab, daran an der Seite Messer und Gabel eingesteckt waren, und reichte einem jeden eines derselben, und sprach: »Seht, die zwei Jagdmesser nehmt, und traget sie zur Erinnerung an eure alte Pflegemutter. Ich hab sie an meinem Brauttage von[28] einer fremden alten Frau bekommen, die jetzt wohl schon lang in der Erde ruht. Sie sagte mir dabei, ich sollte sie dereinst meinen Söhnen geben, und wenn die einmal von einander schieden, so sollten sie an dem Kreuzwege, da sie schieden, die kleinen Messerlein neben in den Stamm eines Baumes stecken. Wer dann von den Brüdern zuerst wieder an jenen Baum komme, sollte des andern Messer herausziehen. Sei es noch blank, so sei das ein Zeichen, daß sein Bruder noch lebe, und daß es ihm wohl gehe; sei es aber rostig, so sei das ein Zeichen, daß er todt sei oder doch in Lebensgefahr schwebe. – Seht,« sagte sie weiter, »der Himmel hat mich nicht mit Kindern gesegnet, und darum lagen die beiden Jagdmesser bis jetzt immer oben. Jetzt seid ihr meine Söhne, und könnt sie vielleicht brauchen. – Aber, ach, mir ist, als säh ich euch nie wieder.« Als sie das gesagt, barg sie ihr Gesicht in ihre Schürze, und ließ ihren Thränen den Lauf.

Darauf wandte sich der Alte zu ihnen, und sprach: »Seht, ich weiß wie's junge Blut ist. Ich war ja selbst einmal jung. Da denkt man hinter den Bergen seien lauter Paradiesgärten, und die gebratenen Tauben fliegen Einem von selbst in das Maul. Aber ja prosit! man muß sie dort auch erst erlegen und rupfen und braten, wie hier. Und manchmal gehts noch schlimmer; man sieht gar keine[29] die man erlegen könnte und geht leer aus. Das sag' ich euch aber: wenn's euch einmal schlecht gehn sollte, so wißt ihr, wo ihr daheim seid. Das müßt ihr mir aber versprechen, wenn's euch nirgend besser geht, oder wohl gar schlimmer, als hier, so kommt ihr zu mir. Ihr braucht euch nicht zu schämen. Ich weiß das ja wohl, wie es geht.«

Solches versprachen sie beide mit Hand und Mund, und darauf schieden alle unter Thränen von einander. Brunnenhold und Brunnenstark gingen hinaus in die Welt. Aber die beiden Alten konnten sich gar nicht mehr gewöhnen, so allein zu leben. Der Frau fehlten sie überall, im Hause, und im Hofe, und im Garten. Und ihr Mann mochte gar nicht mehr hinaus gehen in den Forst, und sein Waidwerk treiben, wie vordem. Und sie starben bald beide vor Alter, und hatten keinen Wunsch mehr übrig gehabt, als daß sie ihre Pflegesöhne noch einmal sehn möchten vor ihrem Hinscheiden. Aber der Wunsch konnte ihnen nicht mehr erfüllt werden, denn diese irrten draußen herum in der Welt, und hatte jeder seine eigenen Abentheuer zu bestehen.

Und als Armina, ihre Mutter, darauf einmal hinkam, ihre Söhne zu sehen, wohnte ein fremder Waidmann dort in dem Forst, der ihnen kaum Kunde geben konnte von seinem Vorfahr, dem alten Waidmann. Aber von Brunnenhold und Brunnenstark wußte er gar nichts, denn er war[30] selbst erst aus einem fremden Lande gekommen, und hatte sich in dem verlassenen Forsthause niedergelassen.

Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Lina’s Mährchenbuch 1–2. Band 2, Grimma 21837, S. 20-31.
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