Das vierundzwanzigste Kapitel.

[61] Simplex durchziehet und tadelt die Leut,

Sieht viel Abgötterei zu seiner Zeit.


Damals war bei mir nichts Schätzbarliches als ein reines Gewissen und aufrichtig frommes Gemüt zu finden, welches mit der edlen Unschuld und Einfalt begleitet und umgeben war. Ich wußte von den Lastern nichts anders, als daß ich sie etwan hören nennen oder davon gelesen hatte, und wann ich deren eins würklich begehen sahe, war mirs eine erschröckliche und seltene Sache, weil ich erzogen und gewehnet worden, die Gegenwart Gottes allezeit vor Augen zu haben und aufs ernstlichste nach seinem heiligen Willen zu leben; und weil ich denselben wußte, pflegte ich der Menschen Tun und Wesen gegen demselben abzuwägen. In solcher Übung bedünkte mich, ich sähe nichts als eitel Greuel. Herrgott! wie verwunderte ich mich anfänglich, wann ich das Gesetz und Evangelium samt den getreuen Warnungen Christi betrachtete und hingegen derjenigen Werke ansahe,[61] die sich vor seine Jünger und Nachfolger ausgaben! Ach leider! Anstatt der aufrichtigen Meinung, die ein jedweder rechtschaffener Christ haben soll, fand ich eitel Heuchelei und sonst so unzählbare Torheiten bei allen fleischlich gesinneten Weltmenschen, daß ich auch zweifelte, ob ich Christen vor mir hätte oder nicht? Dann ich konnte leichtlich merken, daß männiglich den ernstlichen Willen Gottes wüßte; ich merkte aber hingegen keinen Ernst, denselben zu vollbringen.

Also hatte ich wohl tausenderlei Grillen und seltsame Gedanken in meinem Gemüt und geriet in schwere Anfechtung wegen des Befelchs Christi, da er spricht: »Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet!« Nichtsdestoweniger kamen mir die Worte Pauli zu Gedächtnüs, die er zun Gal. am 5. Kap. schreibet: »Offenbar sind alle Werke des Fleisches, als da sind Ehebruch, Hurerei, Unreinigkeit, Unzucht, Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Hader, Neid, Zorn, Zank, Zweitracht, Rotten, Haß, Mord, Saufen, Fressen und dergleichen, von welchen ich euch habe zuvor gesagt, und sage es noch wie zuvor, daß, die solches tun, werden das Reich Gottes nicht ererben!« Da gedachte ich: »Das tut ja fast jedermann offentlich, warum sollte dann ich nicht auch auf des Apostels Wort offenherzig schließen dörfen, daß auch nicht jedermann selig werde?«

Nächst der Hoffart und dem Geiz samt deren ehrbaren Anhängen waren Fressen und Saufen, Huren und Buben bei den Vermüglichen eine tägliche Übung; was mir aber am allererschröcklichsten vorkam, war dieser Greuel, daß etliche, sonderlich Soldatenbursch, bei welchen man die Laster nicht am ernstlichsten zu strafen pfleget, beides, aus ihrer Gottlosigkeit und dem heiligen Willen Gottes selbsten, nur einen Scherz machten und denselben ganz heroischerweise durchzogen. Zum Exempel, ich hörete einsmals einen Ehebrecher, welcher wegen vollbrachter Tat noch gerühmt sein wollte, diese gottlose Worte sagen: »Es tuts dem gedultigen Hahnrei genug, daß er meinetwegen ein Paar Hörner trägt, und wann ich die Wahrheit bekennen soll, so hab ichs mehr dem Mann zuleid als der Frau zulieb getan, damit ich mich an ihm rächen möge.« – »O kahle Rache!« antwortete ein ehrbar Gemüt, so dabei stund, »dadurch man sein eigen Gewissen beflecket und den schändlichen Namen eines Ehebrechers überkommt!« – »Was Ehebrecher?« antwortete er ihm mit einem höhnischen Gelächter, »ich bin darum kein Ehebrecher, wannschon ich diese Ehe ein wenig gebogen habe. Dies seind Ehebrecher, wovon das sechste Gebot saget, allwo es verbeut, daß keiner einem andern in Garten steigen und die Kirschen eher brechen solle als[62] der Eigentumsherr.« Und daß solches also zu verstehen sei, erklärte er gleich darauf nach seinem Teufels-Catechismo das siebende Gebot, welches diese Meinung deutlicher vorbringe, indem es saget: »Du sollt nicht stehlen, etc.« Solcher Worte trieb er viel, also daß ich bei mir selbst seufzete und gedachte: »O gotteslästerlicher Sünder! du nennest dich selbst einen Ehebieger und den gütigen Gott einen Ehebrecher, weil er Mann und Weib durch den Tod voneinander trennet.« – »Meinest du nicht,« sagte ich aus übrigem Eifer und Verdruß zu ihm, wiewohl er ein Offizier war, »daß du dich mit diesen gottlosen Worten mehr versündigest als mit dem Ehebruch selbst?« Er aber antwortete mir: »Halts Maul, du Mauskopf! soll ich dir ein paar Ohrfeigen geben?« Ich glaube auch, daß ich solche dicht und dutzentweis bekommen, wann der Kerl meinen Herrn nicht hätte förchten müssen. Ich aber schwieg still und sahe nachgehends, daß es gar keine seltene Sache war, wann sich Ledige nach Verehlichten und Verehlichte nach Ledigen umsahen und ihrer geilen Buhlerliebe Zügel und Zaum schießen ließen.

Als ich noch bei meinem Einsiedel den Weg zum ewigen Leben studierete, verwunderte ich mich, warum doch Gott seinem Volk die Abgötterei so hochsträflich verboten; dann ich bildete mir ein, wer einmal den wahren ewigen Gott erkannt hätte, der würde wohl nimmermehr keinen andern ehren und anbeten, schloß also in meinem dummen Sinn, dies Gebot sei unnötig und vergeblich gegeben worden. Aber ach! ich Narr wußte nicht, was ich gedachte; dann sobald ich in die Welt kam, vermerkte ich, daß (dies Gebot unangesehen) beinahe jeder Weltmensch einen besondern Nebengott hatte; ja etliche hatten wohl mehr als die alte und neue Heiden selbsten. Etliche hatten den ihrigen in der Küsten, auf welchen sie allen Trost und Zuversicht satzten; mancher hatte den seinen bei Hof, zu welchem er alle Zuflucht gestellet, der doch nur ein Favorit und oft ein liederlichrer Bärnhäuter war, als sein Anbeter selbst, weil seine lüftige Gottheit nur auf des Prinzen aprilenwetterischen Gunst bestund. Andere hatten den ihrigen in Reputation und weltlichen Ansehen und bildeten sich ein, wann sie nur dieselbige erhielten, so wären sie selbst auch halbe Götter. Noch andere hatten den ihrigen im Kopf, nämlich diejenige, denen der wahre Gott ein gesund Hirn verliehen, also daß sie einzige Künste und Wissenschaften zu fassen geschickt waren. Dieselbe satzten den gütigen Geber auf eine Seite und verließen sich auf die Gabe, in Hoffnung, sie würde ihnen alle Wohlfahrt verleihen. Auch waren viel, deren Gott ihr eigener Bauch war, welchem sie täglich die Opfer raichten, wie vorzeiten die Heiden[63] dem Bacho und der Cereri getan; und wann solcher sich unwillig erzeigte oder sonst die menschliche Gebrechen sich anmeldeten, so machten die elende Menschen einen Gott aus dem Medico und suchten ihres Lebens Aufenthalt in der Apotheke, aus welcher sie zwar öfters mit ihrer äußersten Ungedult und Desperation zum Tod befördert wurden. Manche Narren machten ihnen Göttinnen aus glatten Metzen; dieselbe nannten sie mit andern Namen, beteten sie Tag und Nacht an mit vielen tausend Seufzen und machten ihnen Lieder, welche nichts anders als ihr Lob in sich hielten, benebens einem demütigen Bitten, daß solche mit ihrer Torheit ein barmherziges Mitleiden tragen und auch zu Närrinnen werden wollten, gleichwie sie selbst Narren sein.

Hingegen waren Weibsbilder, die hatten ihre eigne Schönheit vor ihren Gott aufgeworfen. »Diese«, gedachten sie, »wird mich wohl vermannen; Gott im Himmel sage darzu, was er will.« Dieser Abgott ward anstatt anderer Opfer täglich mit allerhand Schminke, Salben, Wassern, Pulvern und sonst Schmiersel unterhalten und verehret. Ich sahe Leute, die wohlgelegene Häuser vor Götter hielten; dann sie sagten, solang sie darin gewohnet, wäre ihnen Glück und Heil zugestanden und das Geld gleichsam zum Fenster hineingefallen, welcher Torheit ich mich höchstens verwunderte, weil ich die Ursache sahe, warum die Einwohner so guten Zuschlag gehabt. Ich kannte einen Kerl, der konnte in etlichen Jahren vor dem Tabakhandel nicht recht schlafen, weil er demselben sein Herz, Sinne und Gedanken, die allein Gott gewidmet sein sollten, geschenket hatte; er schickte demselben so tags als nachts so viel tausend Seufzer, weil er dadurch prosperierte. Aber was geschahe? Der Phantast starb und fuhr dahin wie der Tabakrauch selbst. Da gedachte ich: »O du elender Mensch, du dem nichtigen Rauch gleich verschwundener Mensch! wäre dir deiner Seelen Seligkeit und des wahren Gottes Ehre so hoch angelegen gewesen als der Abgott, der in Gestalt eines Brasilianers mit einer Rolle Tabak unterm Arm und einer Pfeifen im Maul auf deinem Gaden stehet, so lebte ich der unzweifligen Zuversicht, du hättest ein herrliches Ehrenkränzlein, in jener Welt zu tragen, erworben.« Ein ander gesell hatte noch wohl liederlichere Götter; dann als bei einer Gesellschaft von jedem erzählet ward, auf was Weise er sich in dem greulichen Hunger und teuren Zeit ernähret und durchgebracht, sagte dieser mit teutschen Worten, die Schnecken und Frösche sein sein Herrgott gewesen, er hätte sonst in Mangel ihrer müssen Hungers sterben. Ich fragte ihn, was ihm dann damals Gott selbst gewesen wäre, der ihm solche Insecta zu seinem Aufenthalt bescheret hätte?[64] Der Tropf aber wußte nichts zu antworten, und ich mußte mich um soviel desto mehr verwundern, weil ich noch nirgends gelesen, daß die alte abgöttische Ägyptier, noch die neulichste Amerikaner jemals dergleichen Ungeziefer vor Gott ausgeschrieen, wie dieser Geck täte.

Ich kam einsmals mit einem vornehmen Herrn in eine Antiquitäten- und Kunstkammer, darin schöne Raritäten waren. Unter den Gemälden gefiel mir nichts besser als ein Ecce-Homo wegen seiner erbärmlichen Darstellung, mit welcher es die Anschauer gleichsam zum Mitleiden verzuckte. Darneben hieng eine papierne Karte, in China gemalt; darauf stunden der Chineser Abgötter, in ihrer Majestät sitzend, deren teils wie die Teufel gestaltet waren. Der Herr im Haus fragte mich, welches Stück in seiner Kunstkammer mir am besten gefiele? Ich deutete auf besagtes Ecce-Homo. Er aber sagte, ich irre mich; das Chineser Gemäld wäre rarer und dahero auch köstlicher; er wolle es nicht um zehen solcher Ecce-Homo manglen. Ich antwortete: »Herr! ist euer Herz wie euer Mund?« Er sagte: »Ich versehe michs.« Darauf sagte ich: »So ist auch euers Herzens Gott derjenige, dessen Conterfait ihr mit dem Munde bekennet, das köstlichste zu sein.« – »Phantast,« sagte jener, »ich ästimiere die Rarität.« Ich antwortete: »Was ist seltener und verwundernswürdiger, als daß Gottes Sohn selbst unsertwegen gelitten, wie uns dies Bildnis vorstellet?«

Quelle:
Grimmelshausens Werke in vier Teilen. Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1921], S. 61-65.
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