Das neunte Kapitel.

[27] Simplex ein Christenmensch anfängt zu werden,

Als er ein Bestia vor war auf Erden.


Ich fieng an zu essen und hörete auf zu papplen, welches nicht länger währete, als bis ich nach Notdurft gefüttert hatte und mich der Alte fortgehen hieß. Da suchte ich die allerzartesten Worte herfür, die mir meine bäurische Grobheit immer mehr eingeben konnte, welche alle dahin giengen, den Einsiedel zu bewegen, daß er mich bei ihm behielte. Obzwar nun es ihm beschwerlich gefallen, meine verdrüßliche Gegenwart zu gedulten, so hat er jedoch beschlossen, mich bei ihm zu leiden, mehr, daß er mich in der christlichen Religion unterrichtete, als sich in seinem vorhandenen Alter meiner Dienste zu bedienen. Seine größte Sorge war, meine zarte Jugend dörfte ein solche harte und sehr strenge Art zu leben in die Länge nicht ausharren mügen.

Eine Zeit von ungefähr drei Wochen war mein Probierjahr, in welcher eben St. Gertraud mit den Gärtnern zu Feld lag, also daß ich mich auch in deren Profession gebrauchen ließ. Ich hielt mich so wohl, daß der Einsiedel ein sonderliches Gefallen an mir hatte, nicht zwar der Arbeit halber, so ich zuvor zu vollbringen gewohnet war, sondern weil er sahe, daß ich ebenso begierig seine Unterweisungen hörete, als geschickt die wachswaiche und zwar noch glatte Tafel meines Herzens solche zu fassen sich erzeigte. Solcher Ursachen halber ward er auch desto eifriger, mich in allem[27] Guten anzuführen. Er machte den Anfang seiner Unterrichtung vom Fall Luzifers; von dannen kam er in das Paradeis; und als wir mit unsern Eltern daraus verstoßen wurden, passierte er durch das Gesetz Mosis und lernete mich vermittelst der zehen Gebote Gottes und ihren Auslegungen (von denen er sagte, daß sie eine wahre Richtschnure sein, den Willen Gottes zu erkennen und nach demselben ein heiliges, Gott wohlgefälliges Leben anzustellen), die Tugenden von den Lastern zu unterscheiden, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Endlich kam er auf das Evangelium und sagte mir von Christi Geburt, Leiden, Sterben und Auferstehung; zuletzt beschloß ers mit dem Jüngsten Tag und stellete mir Himmel und Hölle vor Augen, und solches alles mit gebührenden Umständen, doch nicht mit gar zu überflüssiger Weitläufigkeit; sondern wie ihn dünkte, daß ichs am allerbesten fassen und verstehen möchte. Wann er mit einer Materia fertig war, hub er eine andre an und wußte sich bisweilen in aller Gedult nach meinen Fragen so artlich zu regulieren und mit mir zu verfahren, daß ers mir auch nicht besser hätte eingießen können. Sein Leben und seine Reden waren mir eine immerwährende Predigt, welche mein Verstand, der eben nicht so gar dumm und hölzern war, vermittels göttlicher Gnade nicht ohne Frucht abgehen ließ, allermaßen ich alles dasjenige, was ein Christ wissen soll, nicht allein in gedachten dreien Wochen gefasset, sondern auch eine solche Liebe oftmals zu diesem meinem Unterrichter und zu dessen Unterricht gewonnen, daß ich des Nachts nicht davor schlafen konnte.

Ich habe seithero der Sache vielmal nachgedacht und befunden, daß Aristot. lib. 3. de Anima wohl geschlossen, als er die Seele eines Menschen einer leeren unbeschriebenen Tafel verglichen, darauf man allerhand notieren könne, und daß solches alles darumb von dem höchsten Schöpfer geschehen sei, damit solche glatte Tafel durch fleißige Impression und Übung gezeichnet und zur Vollkommenheit und Perfektion gebracht werde. Dahero dann auch sein Kommentator Averroës lib. 2. de Anima (da der Philosophus saget, der Intellektus sei alls potentia, werde aber nichts in actum gebracht, als durch die scientiam, das ist, es sei des Menschen Verstand allerdings fähig, könne aber nichts ohn fleißige Übung hineingebracht werden), diesen klaren Ausschlag gibet, nämlich, es sei diese scientia oder Übung die Perfektion der Seele, welche für sich selbst überall nichts an sich habe. Solches bestätiget Cicero lib. 2. Tuscul. quaest., welcher die Seele des Menschen ohn Lehre, Wissenschaft und Übung einem solchen Feld vergleichet, das zwar von Natur fruchtbar sei,[28] aber wann man es nicht baue und besame, gleichwohl keine Frucht bringe.

Solches alles erwiese ich mit meinem eigenen Exempel; dann daß ich alles so bald gefasset, was mir der fromme Einsiedel vorgehalten, ist daher kommen, weil er die geschlichte Tafel meiner Seel ganz leer und ohn einzige zuvor hineingedruckte Bildnüssen gefunden, so etwas anders hineinzubringen hätte hindern mögen. Gleichwohl aber ist die pure Einfalt, gegen andern Menschen zu rechnen, noch immerzu bei mir verblieben, dahero der Einsiedel (weil weder er noch ich meinen rechten Namen gewußt) mich nur Simplicium genennet.

Mit ihm lernete ich auch beten; und als er meinem steifen Vorsatz, bei ihm zu bleiben, ein Genügen zu tun entschlossen, baueten wir vor mich eine Hütte gleich der seinigen von Holz, Reisern und Erde, fast formiert wie der Musketierer im Feld ihre Zelten, oder besser zu sagen, die Bauren an teils Orten ihre Rubenlöcher haben, zwar so nieder, daß ich kaum aufrecht darin sitzen konnte. Mein Bette war von dürrem Laub und Gras, und ebenso groß als die Hütte selbst, so daß ich nicht weiß, ob ich dergleichen Wohnung oder Höhlen eine bedeckte Lägerstatt oder eine Hütte nennen soll.

Quelle:
Grimmelshausens Werke in vier Teilen. Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1921], S. 27-29.
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