[112] 1.
Weh mir! mein sterbend Hertz/
Vergeht in heissem Schmertz
Die scharffe Gifft der Sünden/
Greifft schon die Geister an/
Wer ist der retten kan?
Ich muß in Angst verschwinden.
2.
Der angesteckte Muth
Schmacht in der Laster-Gluth
Die Kräffte sind zerronnen;
Wie auff der Gipffel Höh/
Der auffgetaute Schnee
Schmeltzt in dem Strahl der Sonnen.
3.
Es ist um mich geschehn
Ich muß den Abgrund sehn
Und in die Grufft versincken!
Doch kanst du höchster GOTT
Abwenden meine Noth
Nur durch ein einig Wincken.
4.
Ach Vater schaff in mir
Ein Hertz das einig dir
Mög unbefleckt gefallen
Das rein von Missethat[112]
Sich müh nach deinem Rath
Auf rechter Bahn zu wallen.
5.
Laß den gewissen Geist/
Der GOTT und Lehrer heist
Die Seele gantz erneuen:
Daß ich mich mög in dir/
Weil dieser Trost in mir
Nach höchster Angst erfreuen.
6.
Stoß Vater stoß mich nicht
Von deinem Angesicht;
Ach heiß von mir nicht scheiden
Die mehr denn heilge Krafft/
Die Schutz und Stärcke schafft
Auch in dem gri isten Leiden!
7.
Hier sitz ich sonder Rath
Versetzt durch Missethat
In grause Bangigkeiten.
Kein Freund fragt mehr nach mir
Mein Heyland ach! ich spür
Des Todes Bitterkeiten.
8.
Der Feind höhnt und verlacht
Mich/ nun ich sonder Macht
Gantz hülffloß untergehe.
Hier beut mir niemand Hand
Weil ich in Kett und Band
Durchaus verlassen stehe.
9.
Mein Vater schau mich an
Du bist der trösten kan/
Wenn aller Trost verschwunden.
Ich hab in höchster Noth/
Ja mitten in dem Todt
Stets hülffreich dich befunden.
10.
Dein freudenreicher Geist
Der uns nicht zagen heist
Der Sinn und Krafft erwecket
Durch den man herrlich siegt
Wenn uns die Welt bekriegt
Und Höll und Teuffel schrecket.
[113]
11.
Der Geist der Brunn der Güt
Der stärcke mein Gemüth
Und leite meine Sinnen
Durch Ihn wil ich die Cron
Den höchsten Gnaden-Lohn
In jener Welt gewinnen.
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