5.

[135] Die Messe, die ein Priester jeden Morgen entweder lesen oder hören soll, mochte Bonaventura mit einem bangen Vorgefühl nicht in einer der vielen Kapellen der großen Kathedrale besuchen, die vielleicht bald von seiner eigenen Stimme widerhallen sollten …

In eine kleine abseits gelegene dunkle Kirche ging er und verfehlte auf diese Art die sonst leicht möglich, gewesene und von ihr gesuchte Begegnung mit Lucinden.

Dann begab er sich zu Benno, der, von Thiebold und Enckefuß eben verlassen, zu seinen Arbeiten zurückgekehrt war und mit Hindeutung auf einen bereits fertig liegenden Brief an den Onkel Dechanten ihm den grauenhaften Vorfall der Nacht erzählte und auf die geöffneten Fenster des Hauses gegenüber zeigte, aus welchem man inzwischen in einem verdeckten Korbe die Leiche der Ermordeten hinweggetragen hatte.

Eine Schwester der Frau von Gülpen! rief auch Bonaventura erstaunend aus.

Auch er wußte nichts von dieser Verwandtschaft. Doch mußte er Benno Recht geben, als dieser an seine[136] gestrigen Aeußerungen über die so dunkeln Anfänge im Leben des Dechanten und den Zusammenhang derselben sogar mit dem Kronsyndikus erinnerte. Und trotz seines gleichfalls gestern wie schon oft geäußerten Gefühls, daß ihm die geheime Welt des Beichtstuhls, mit besonderer Rücksicht auf sein eigenes Leben, eine gefährliche Ueberhebung der Kirche erschien, hätte Benno dennoch fast mit dem Zusatz: Unter dem Siegel der Beichte! von dem Agenten Hammaker sprechen mögen und von seiner gestrigen so aufdringlichen Begegnung. Er that es nicht. Er nahm sich vor, ehe er zu irgendjemand seinen Verdacht äußerte, sich genauer nach den Beziehungen zu erkundigen, die zwischen diesem und der alten geizigen, fast der ganzen Welt sich verschließenden Frau hätten stattfinden können.

Das durch diese Eröffnung gemehrte Unbehagen der Stimmung Bonaventura's verminderte sich nicht, als er nun auch bei einer von dem Freunde gestellten Aufforderung, er sollte sich dem geselligen Kreise bei dem Rittmeister von Enckefuß anschließen, die Worte hören mußte: Von diesem leichten und fröhlichen Lebemenschen kann ich mir denken, wie er damals bei dem Tode des Deichgrafen voll Schauder und Mitleid die Augen zudrückte und nur die gemeinschaftliche Standesehre zu wahren suchte! Nicht einmal glaub' ich, daß den Rittmeister dabei die Rücksicht auf seine Verschuldung beim Kronsyndikus bestimmte. Seitdem freilich diesem eine Curatel gestellt ist, seitdem dein Stiefvater die Oberaufsicht über sein künftiges Erbe bereits factisch besitzt, hätten diese Rücksichtsnahmen wol auch aufgehört. Und dennoch bin ich überzeugt,[137] daß der Landrath eher seinem Pferde die Sporen gibt und in einen Abgrund jagt, als daß er sich auf einer gegen befreundet gewesene Familien gerichteten Drohung betreffen ließe …

Bonaventura mußte von dem Begleiter sprechen, der ihn vielleicht schon in seiner Wohnung erwartete …

Pater Sebastus! rief Benno staunend. Nun siehst du die Läuterung bis – zum Aufpasser!

Eile, eile, fuhr der Zweifelnde dann fort, dir von den Damen Schnuphase dein Frühstück credenzen zu lassen! Rüste dich aber mit allen deinen Gelübden, ihrer Liebenswürdigkeit Widerstand zu leisten, besonders ihrer Frömmigkeit!

Bonaventura fand, als er gegangen war und sein Zimmer betrat, beide Töchter des Herrn Maria in großer Aufregung … Benno von Asselyn, den sie sehr wohl kannten, wohnte ja dem Morde so nahe – Bonaventura erzählte ihnen, was er wußte.

Da der Pater Sebastus nicht kam, hielt es der so gezwungen in ihm verhaßte Unthätigkeit Versetzte für seine Pflicht, sich im Palais des Kirchenfürsten theils nach dem Befinden desselben, theils nach der Wohnung des Paters zu erkundigen.

Im Palais erfuhr er, der Kirchenfürst wäre zwar wieder wohlauf, doch mit Geschäften außerordentlich überhäuft und eben arbeite sein Secretär mit ihm. Bei der Lebhaftigkeit des Verkehrs in den Vorgemächern mußte Bonaventura natürlich finden, daß er nicht die Aufforderung zum Warten erhielt. Vom Pater Sebastus hieß es, dieser würde ihn in seiner Wohnung in Herrn Maria's steinernem Hause unfehlbar selbst aufsuchen.[138]

Hieher zurückgekehrt fand Bonaventura die Blumen der kleinen Gertrud Ley und hatte seine innigste Freude daran …

Und doch bei alledem wie ein Gefangener sich fühlend ging er an eine Lectüre, die er sich aus St.-Wolfgang mitgebracht hatte. Das große, von Treudchen mit Blumen bestreute Buch, das sie aufgeschlagen gefunden hatte auf dem Schreibtisch, war eine Sammlung alter lateinischer geistlicher Gedichte gewesen, ein Erholungsstudium, zu dem Bonaventura zurückkehrte.

Nach einer Weile klopfte es.

Ein Franciscaner trat herein … blaß, lang, hager, bloßen Halses, nackt an den nur durch Sandalen geschützten Füßen, das Haupt geschoren, der Blick eine Weile scharf, dann sogleich unstet, wie auch das ganze Wesen erst eine kurze elastische Spannung bot, dann sogleich sich wie träumerisch nachlässig gleichsam gehen ließ. Der Kopf war scharf geschnitten und sah sozusagen eher chinesisch aus als germanisch … beim Sprechen öffneten sich kaum die Lippen, die Worte kamen flüsternd zu Gehör, aber mit außerordentlicher Bestimmtheit und Sicherheit.

Der Mönch nannte sich kurzweg den Pater Sebastus aus dem Kloster Himmelpfort, auf Urlaub befindlich, »einen Mönch in partibus infidelium«.

Bei diesem einen Worte schon, das er nur so in erster Anrede an Bonaventura hinwarf, schien es fast, als wollte er sich damit aus der Sphäre herausheben, in die ihn seine Tracht drückte. Er glich so fast jenen Zurückgekommenen, die der Zufall in untergeordnete Lebensstellungen drängte und die dann nie unterlassen werden,[139] in Gegenwart der Stände, denen sie früher angehörten, sich durch ein hingeworfenes gewählteres Wort, eine französische Phrase in ihrem eigentlichen Werthe kenntlicher zu machen oder auch jenen lateinischen alten Studenten, die mit einem: Vir doctissime, illustrissime! auf dem Lande hospitiren und sich bei dem, der studirt hat, durch ein romantisches Anklingenlassen schönerer Jugendzeit ein Viaticum erbitten.

Und hätte der Pater nun nicht wünschen sollen, daß Bonaventura aufsprang und in ihm den berühmten Convertiten, den Streiter in den Zeitschriften, den Redner auf den Conferenztagen, den Sendboten des Kirchenfürsten begrüßte?

Bonaventura war befangen. Den Pater konnte diese Zögerung nicht die Folge einer Bekanntschaft dünken mit seinen Beziehungen zu Schloß Neuhof. Bei dem Geiste der Selbstvernichtung und gänzlichen Ertödtung jeder Beziehung zur Außenwelt, außer der kirchlichen, wußte Sebastus nichts von des Pfarrers Verwandtschaft mit dem Kronsyndikus. Es gibt Naturen von einer solchen Spontaneität, von einer solchen Unfähigkeit, sich durch andere bestimmen zu lassen, daß sie wenn auch nicht ganz das Gehör, doch fast die Fähigkeit verloren zu haben scheinen, an andere Menschen über irgendetwas auch nur eine Frage zu stellen.

Sie haben hier schon Bekannte! sagte der Pater gleich für fest und bestimmt, lehnte den Sitz auf einem der Polstersessel ab und blätterte in Bonaventura's Brevier, so fast als wenn dieser gar nicht anwesend war.

Alles das mußte dieser seltsam finden und erwiderte nichts …[140]

Gestern ging ich an diesem Hause vorüber, fuhr der Mönch fort, und sah Sie im Laden unten im Gespräch mit Herrn Moritz Fuld, dem Bruder eines Mannes, der im Enneper Thale eine byzantinische Kirche gebaut hat. Ja, also dahin mußte es kommen! Oft mache ich mir Vorwürfe, daß ich mich noch immer praktisch in die Juden nicht finden kann, während ich sie theoretisch schätzen muß!

Und auch jetzt noch fand Bonaventura keine Möglichkeit, im Gespräch mit irgendeiner Bemerkung einzuspringen.

Eine Art Reue über die Behandlung, die soeben Löb Seligmann wahrscheinlich doch nur von ihm erfahren, schien sich in diesen seinen Worten auszusprechen:

Die Juden gleichen dem Speer des Achilles! Der verwundete, wie Sie wissen, und heilte! Die Juden, von Spinoza bis Heine und Börne herab, untergraben den Glauben und doch sind sie im Großen und Ganzen wieder dessen Sauerteig, die Bürgschaft des Festhaltens am Einen Gott, die Wächter der Lehre von der Selbstheiligung, ja sogar vom Schatz der guten Werke und jedenfalls der Lehre vom Opfer und den Reinigungen! Unser alter Rector in Detmold mühte sich mit Horazens Credat Judaeus Apella! »Das glaube der Jude Apella!« War der Jude Apella in Rom so bekannt für seine Leichtgläubigkeit? Zupften die jungen Adeligen des neuen Augusteischen Zeitalters ihm vielleicht am Bart und creditirte er ihnen vielleicht allzu gläubig auf ihre langfichtigen Wechsel als römischer Bankier und Vorläufer des Fürsten Torlonia in Rom? … Oder wie war das mit dem Juden Apella?[141]

Bonaventura stand diesem scurrilen Durcheinander nur staunend und lauschend und fast angezogen.

Apella, fuhr der Pater fort und nahm jetzt eine von Treudchen's Blumen auf, sie allmählich langsam mit einem elegischen Blicke vorn an dem seine Kutte zusammenhaltenden Strick befestigend, Apella war ein jüdischer Philosoph mit griechischem Bildungszuschnitt, der in Rom Vorlesungen hielt über Kirche, Staat, Religion, Glauben und Wissen und zwar mit dem für einen Juden unerlaßlichen Systeme: Es gibt nur Einen Gott und keine andern Götter neben ihm! Dem römischen gelehrten Pöbel, den Denkern und Sophisten, erschien der vielleicht ein wenig ins Lächerliche gräcisirende Rabbiner ein Narr, ein Diogenes, der am hellen Tage mit der Laterne ging! Nur Ein Gott! Kein belvederischer Apoll, keine mediceische Venus, kein farnesischer Hercules neben ihm! Armer, armer jüdischer Credo-Lehrer! Was glaubte wol dieser erste verspottete Märtyrer des Glaubens? Er glaubte jedenfalls Jehovah, den Herrn des Himmels und der Erden, aber vielleicht auch schon den Messias vom Stamme David's. Apella ist mir der dreizehnte Prophet! Er war nicht so groß wie Elias, dessen Größe besonders darin bestand, daß er nur sprach und nichts hat drucken lassen, aber auch nicht der Kleinste unter den Kleinen! Da lachten die Römer denn: Ein Glaubender! Ein Glaubensvirtuose! Ein Denker, der den Glauben in Vorrath und wie auf Lager liegen hat! O, ein seltsamer Gast dieser Apella und ich möchte ein Buch schreiben: »Apella oder der Rothschild im Glauben.[142] Eine Kritik der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel.«

Die Wirkung dieser Weise auf Bonaventura war gar nicht abstoßend. Er mußte sogar der Vorstellung nachhängen: Findest du nicht aus dem, was du da zu hören bekommst, etwas von Lucinden heraus?

Da der Mönch sich nicht setzte und von einem Gelübde sprach, das ihm Polstersessel verbot, forderte ihn Bonaventura zu einem Spaziergang auf und hatte schon den Hut in der Hand … Es beeinträchtigt aber unsere Kraft, auf anderer Fragen zu hören, wie nach Shakspeare der Vornehmseinwollende anderer Namen nicht behält. Nichts »duckt« einen andern mehr, als wenn man ihn in die Lage bringt, eine Bemerkung wiederholen zu müssen … Und so hörte der Pater nichts vom Ausgehenwollen. Er sprach nur zu den Blumen, die ringsum fast so, wie sie Bonaventura gefunden, noch geblieben waren:


Wie müßt ihr so verbleichen

Im funkelnden Farbenschein!

Ihr jungen Blumenleichen,

Wer segnet und senkt euch ein!


Da waren Sie ja, fuhr er plötzlich gleichgültig abspringend fort und auf die Sammlung, in der Bonaventura gelesen hatte, deutend, bei Dante's Vorbild in der Architektur der Welten, dem Aurelius Prudentius! Nicht wahr, die schöne bunte Rose, die Dante im Himmel sah von unermeßlicher Größe und die dort aus dem Strahlenglanz der Märtyrer und Heiligen aller Zeiten zusammengesetzt war, ist hier auf Erden schon die aus den Blüten und Perlen der heiligen Poesie zusammengesetzte?[143]

Gewiß! fand Bonaventura endlich eine Gelegenheit einzufallen. Sie schmückt den unsichtbaren Dom unserer Kirche!

Das heißt, die »Purpurviolen« und »Saaronsrosen« aus Kocher am Fall ausgenommen!

Mit diesem Spott auf Beda Hunnius war das Gespräch abgebrochen …

Der Pater folgte dem Pfarrer, der ihn an der Thür vergebens bat voranzutreten … Plötzlich zog sich Sebastus in Demuth zurück, verbeugte sich und ließ Bonaventura vorausgehen.

Sie verließen das Zimmer und das Haus.

Wie sie so dahinschritten, sahen ihnen die Menschen nach … die Fremden blieben stehen … der Pater schlug die Augen nieder …

Sie betraten Kirchen und Kapellen …

Viele fanden sie leer …

Der Pater verurtheilte die Lauheit der Gemüther und wiederholte einiges von seiner in Kocher am Fall gehaltenen Rede.

Sehen Sie denn aber nicht, erwiderte gelassen Bonaventura in einer dieser Kirchen, die beiden Kerzen da am Altare? Ist das nicht so schön an unserer Kirche, daß Sie, wenn Sie in unsere Gotteshäuser treten, immer finden werden, daß irgendetwas in ihnen vorgeht? Ist es auch nur eine einzige Seele, die irgendwo in einem Stuhl knieet und gegen die Hoheit des Gebäudes, gegen die Macht der Wölbungen und Säulen mit ihrem armen schwachen Aufseufzen wie ein Sandkorn am Meer verschwindet, doch belebt es einen[144] ganzen Bau! Und brennen auch nur zwei kleine Kerzen an einem irgendwo versteckten Seitenaltar, immer sagt das, es ist da irgendein Gebet im Werke, eines, das schon gehalten worden ist, oder eines, das erst gehalten werden soll; irgendeine Seele, die vielleicht in der Ferne auf dem Krankenlager liegt, hat diese Lichter anzünden lassen und bald wird ein Priester nur mit einem einzigen Knaben kommen und, ohne Rücksicht auf Zuhörer, unhörbar nur und still hinmurmelnd die Messe lesen. Dann wieder findet man an einem Tage, wo alles werkeltägig in der Stadt und in den Gemüthern hergeht, doch in der Kirche den Hochaltar geschmückt, Blumen liegen an seinen Stufen, das Wort des Priesters schallt fast wie ein einsames Selbstgespräch und kaum bis über die Brüstung des Chores hinaus; ein Erinnerungstag ist's an einen Heiligen, irgendein Vorgang aus der Geschichte der Kirche wird gefeiert, ohne Geräusch, ohne allgemein verständlichen Ausdruck; nur einzelne Seelen, die gerade diesen Heiligen zu ihrem Schutzpatron wählten, sind gleichsam mit in das stille Geheimniß gezogen und geben dies einfach zu erkennen durch ihre Spenden, durch ihre Anwesenheit in den Kirchenstühlen, durch das Nachlesen in ihren Brevieren.

Der Mönch schlug die Augen hellauf und erwiderte nach einer langen Pause des Schweigens mit fast unhörbarer Stimme:

Wäre das nicht, wie sähen Sie mich in dieser Tracht!

Beide waren jetzt in einer fast sich schon annähernden,[145] wärmern Uebereinstimmung in die Kathedrale getreten, die einem großen heiligen Walde glich von vielen tausendjährigen Eichenstämmen. Die Ueberfülle mit neugierigen Fremden vertrieb sie jedoch. Sie traten in einen stillern, schön erhaltenen Kreuzgang, der zur Seite lag. In der Mitte desselben sprudelte über grünem Rasen ein Springquell – es war still ringsum, friedlich, »poetisch«, wie der Mönch sagte …

Der Reiz sich persönlicher zu ergründen, nahm zu und Bonaventura hatte sogar das Bedürfniß, einem Convertiten und einem Mönche vollends sein schweres Lebensgefühl zu erleichtern, und suchte dafür nach Anknüpfungen.

Der Pater gab sie bald selbst, indem er dem Priester, der ihm fast zu imponiren anfing, die Worte sprach:

Lieber doch noch die herumlorgnettirenden Engländer und um Trinkgelder handelnden Lohnbediente in unsern Kathedralen, als sich Kirchen nur erfüllt zu denken von Superintendenten- und Consistorialrathsweisheit! Gott! Gott! Darum zerriß man 1517 die zarten Verbindungsfäden des Ueberlieferten mit dem Gemüthe, nur damit in den Kirchen ewig geredet und das Echo der alten zum Redewiderhall gar nicht geschaffenen Wände mit tausendfach persönlich bedingter Weisheit gequält werde! Man spricht von dem Protestantismus als dem Bundesgenossen der Freiheit!

Nichts will die Freiheit des Volkes mehr, als die katholische Kirche! fiel Bonaventura ein.

Der Mönch stand still und betrachtete eigentlich jetzt erst zum ersten mal den Sprecher …[146]

Aber die Fortsetzung dieser Gedankenreihen unterbrach plötzlich ein Geräusch in einer Kapelle, die den zuletzt dunkler gewordenen Kreuzgang schloß … Diese Kapelle lag völlig einsam und diente zur Aushülfe für die Winterszeit, wenn allzu schneidende Kälte die vorgeschriebenen Gebete und Messen in der Kathedrale besonders den ältern Priestern, den oft kränklichen und hinfälligen Domherren unmöglich machte.

Beim Verharren in der Kühle dieses entlegenen Winkels, über den Leichensteinen und Wappen der hier seit Jahrhunderten begrabenen Priester wollte eben der Pater beginnen: Der Stab Aaron's ist ein mächtiger, ein grünender und blühender in unserer Hand – als ihn jenes Geräusch unterbrach …

Bonaventura ging näher, sah in die offene Thür, stieg einige dunkle Stufen nieder und zeigte dem Nachfolgenden, der von einer Eule oder einer Fledermaus sprach, einen großen Vogel, der aus den hundert Nestern an den Spitzgiebeln und Thürmen der Kathedrale sich hierher verirrt hatte, scheu in dem dunkeln Innern hin- und herflog und den Ausgang nach den hochliegenden kleinen Fenstern suchte, die auf der andern Langseite der Kapelle in die Straße gingen. Der Vogel umflog den Altar, riß die Leuchter um, verschob die Altardecke und warf einige Schalen nieder …

Der Anblick hatte etwas Düsteres, ja bei der Dunkelheit und Einsamkeit des Ortes etwas Schauerliches. Zuletzt sah man den Vogel sich zwischen zwei der kleinern Säulen an der sogenannten Evangelienseite des Altars[147] festklammern und wild und starr die Augen auf die Ankommenden richten …

Greifen Sie das Thier! sagte Bonaventura. Ich will den Altar wieder herrichten …

Der Pater stand in der Ferne und erbot sich zu der umgekehrten Hülfsleistung. Er ordnete den Altar und so langte Bonaventura den großen Vogel nieder, einen Habicht mit gekrümmtem Schnabel und spitzen Krallen.

Die Unheimlichkeit der Scene mehrte sich durch das Erscheinen eines rasch draußen auf dem einsamen dunkeln Kreuzgange daherkommenden Priesters, der kaum in die Kapelle geblickt hatte, auch schon zurückkehrte, fast erschreckend, sie nicht leer zu finden …

Noch mehr … Bonaventura erkannte den hier plötzlich Auftauchenden und wieder Verschwindenden auf den ersten Blick … Es war Cajetanus Rother gewesen, sein Vorgänger im Amte zu St.-Wolfgang …

Da lag das Ordnen des verstörten Altars seltsam nahe …

Bonaventura betrachtete den Vogel, den er an beiden zurückgebogenen Flügeln rückwärts auf die Hand gebreitet hielt und der ihn wild und trotzig und wieder doch furchtsam und scheu ansah, fast wie die unbekehrte Seele eines Menschen, sprach er …

Der Pater war bereits wieder voraus auf den sonnigen Rasenplatz des innern Geviertes der Gänge zurück und Cajetanus Rother war gleichfalls verschwunden. Daß er nicht zum Gebete gekommen, ersah man alsbald aus einer ihm begegnenden, ihn anredenden und mit ihm zurückkehrenden Dame. Und in dieser erkannte[148] Bonaventura trotz des von ihr, als sie hier Beobachter sahe, plötzlich übergeworfenen Schleiers zu seinem Erstaunen sogar eine der Töchter des Herrn Schnuphase.

Alles das währte nur einige Minuten, hinterließ aber auf lange und tief einschneidend einen Eindruck, dem der Mönch, als ihm das freiere und leichtere Aufathmen selbst Bedürfniß wurde, das Wort der Erklärung gab:

Lassen Sie den Vogel fliegen! Das Thier ist ein Bote des Satans! Nur deshalb scheint es so grimmig auf uns, weil wir ihm ein Rendezvous gestört haben!

Bonaventura warf den Vogel in die Höhe. Dieser schoß auf und verschwand auf dem grauen Schieferdache des Langhauses der Kathedrale.

Schweigend verließen beide den Kreuzgang und das Gebiet überhaupt. Man wollte noch einige andere Kirchen besuchen …

Es konnte Bonaventura nicht entgehen, daß der Mönch in seltsame Aufregung versetzt war, die ihn seine bisherige bewußte und selbstgefällige Weise fast aufgeben ließ. Wie über irgendetwas Gespenstisches hatte sich sein Auge vergrößert, die Runzeln, die schon über der Stirn des kaum Dreißigjährigen lagen, zogen sich in die Höhe, er zupfte an dem Strick, der ihn umgürtete, um die Kutte höher zu ziehen; so fast, als fröre ihn …

Endlich, an einem großen alterthümlichen Hause, schien sich der Mönch wieder erholt zu haben von dem Eindruck, den ihm die Scene in der Kapelle gemacht hatte. Am Sonnenlichte athmete er wieder auf und ließ halb mit einem, wie es schien vom tiefsten Innern kommenden[149] Seufzer, halb aber auch wieder hinblinzelnd auf Bonaventura, die Worte der Schrift fallen:

»Wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tödtet, da werdet ihr leben!«

Bonaventura kannte, schwer genug (wie er sich zu gestehen nie schämte), diese allein erst wahrhaft lebendig machende Kraft des Geistes und nickte Beifall.

Der Pater fühlte sich nun ermuthigt, zur frühern Schärfe seiner Aeußerungen zurückzukehren. Er klagte die Priester an, denen er vorzugsweise den Verfall des großen Kirchengebäudes schuld gab.

Kennen Sie dies Haus hier? fragte er und ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er schon fort: Der Sitz des Capitels ist's! In dem Hause hier mit seinen zahllosen Fenstern, langen Gängen und auf die Ewigkeit angelegten Oefen kommen aus vierundzwanzig Gegenden auf ihre alten Tage vierundzwanzig Menschen zusammen, zwei auf jeden Jünger Christi, und – ja, das ist ihr Unterschied – einer spricht und geht und raucht und schnupft anders als der andere. Und noch sind Greise darunter, die einst auch unsern Herrgott abgesetzt haben in der Französischen Revolution! Domherren, die mit Hontheim von Trier eine deutschbischöfliche Kirche gründen wollten, frei vom Papst, eine constitutionelle, die in den emser Punktationen schon ihre Charte-Vérité hatte … Alle haben sie noch über Voltaire gelacht und davon sind ihnen die Runzeln nun so stehen geblieben wie lachenden Porzellanmännern; denn sie lachen auch bei Erlebnissen, die ihnen das Weinen nahe bringen sollten, ja sie wissen nichts von diesen stehen gebliebenen Mienen, sie weinen wirklich[150] mit diesem alten Voltairelächeln! Und gerade, als wenn sie wüßten, daß sie den Feuertod verwirkt haben, so heizen sie ihre Oefen ein in ihren großen kaltgründigen Stuben! Wälder stecken sie in die Flammen und doch erwärmen sie nicht den innerlich schauernden Frost! Furchtsam verrichten sie ihre Aemter am Hochaltar, wo sie kaum noch die Stufen des Chores ersteigen können, und bei den großen römischen Missalen, die neben ihnen aufgeschlagen liegen, bei den durchgestrichenen Noten des Antiphonales werden sie gespenstisch nur an die Todtenköpfe des Beinhauses erinnert. Ach, aus Angst der Seele wirft sich dann einer oder der andere auf das Studium eines alten Kirchenvaters! Da drüben, wo Sie die grünen Vorhänge am Fenster zugezogen sehen, wohnt einer, der sein ganzes erspartes Vermögen an eine Herausgabe des Origenes hingegeben und hinterher bedeutet worden ist, daß Origenes nicht zu unsern Heiligen gehört und den Protestanten zu überlassen ist. Der Arme wird dieser Tage sterben, ist vielleicht schon todt, und seine aus theuer erstandenen Manuscripten gesammelten verschiedenen Lesarten werden ihm ins Grab folgen! Dort – da wohnt der Kanonikus Martinus Taube! Krank kann er werden, wenn im Kattendyk'schen Hause jemand dreimal hintereinander zum Diner eingeladen wurde und Frau Commerzienräthin ihn einen angenehmen Gesellschafter genannt hat, an den sie sich gewöhnen könnte! Nebenan – da wohnt einer, der mit dem Hause Kattendyk selbst Geldgeschäfte macht … Dort dem andern da ist das Dasein ganz in Whist und Boston aufgegangen! Und fragen Sie ihn, ob Sanct-Goar in Trier[151] seine Einsiedlerkutte wirklich an einem Sonnenstrahl aufhängen konnte, er wird es mit einem lauten und deutlichen: Ja! versichern, nur um nicht aufgehalten zu werden, ein glückliches à tout zu machen. Ha diese Priester! Sie können wie junge Mädchen eifersüchtig sein auf die Cirkel, wo nur ihre Hände geküßt werden, nur ihre Scherze belacht! Entschuldigen Sie nichts! Es ist gut, daß es einen großen Geistessturm gibt! Die faule Ruhe des Friedens hat Ungeziefer selbst im Rock des Herrn nisten lassen! Ausgeklopft muß auch der werden, nicht blos der Wams der Kriegsknechte! Tüchtig! Tüchtig! Und von uns selbst! Hören Sie, unsere Trommel wirbelt –

Der Pater wurde in seiner wilden Rede unterbrochen. Eben zog eine Militärcolonne mit kriegerischem Spiel über den Platz, wo sie einsam gestanden …

Als es stiller geworden, sprach Bonaventura:

Pater! Ich meine, je höher ein Priester steht, desto mehr wachsen seine Sorgen, die Ansprüche seiner Verwandten, die Zumuthungen seiner Bedürftigen! Werden wir alt, so suchen ja gerade wir nach Augen, von denen uns doch ein klein wenig Liebe und Sehnsucht bewahrt werden möchte, auch wenn wir todt sind! Keine Familie zu haben, es bewahrt uns lange vor Sorge und Kummer, und doch wird Familie zuletzt unsers Herzens ganze Sehnsucht! Nun sparen wir für andere, schenken, opfern, wollen Menschen haben, die irgendwie die unserigen sind! Das wird zuletzt eine Krankheit, die ebenso ihre Symptome, den Geiz, die Geldbegierde hat, wie unser schon in jungen Jahren sich meldendes Verlangen nach – Bequemlichkeit![152]

Bonaventura sprach das so hin, wie wenn er es ebenso auf der Kanzel hätte sagen können, ohne Menschenfurcht. Sein Auge glänzte, sein Stirn umzog sich mit dem lichten Schein der edelsten Unbefangenheit.

Sie sind ein milder Versöhner! sprach der Mönch … Wissen Sie denn, warum Sie herberufen sind?

Ich hoffe es zu erfahren, erwiderte Bonaventura.

Ich will es Ihnen sagen! Irgendeiner dieser Priester alten Stils hat Sie irgendwo gesehen, hat Sie predigen hören, und da geht es wie in Göttingen, wo ich die Rechte studirte. Die alten Professoren wehren jede Neuerung ab, lassen kein neues System, keinen jungen Docenten oder Außerordentlichen aufkommen. Plötzlich merken sie, daß die Frequenz der Universität abnimmt. Des Goldes, das von der Quästur kommen soll, wird immer weniger, die Doctorhüte bleiben auf dem Lager liegen, die gelehrte Jugend Deutschlands, die Gott sei Dank! doch noch nicht ganz aus Freitischseelen besteht, drängt sich in jene Städte, wo die Lehrstühle der in Göttingen verurtheilten Systeme stehen. Nun wird den Geheimenräthen Angst! Jetzt halten sie einen großen Rathschlag, und siehe da! Sie senden eine Deputation gen Hannover und erklären, die Facultät böte eine Lücke, man müßte die Vertreter eines neuen Systems berufen. Ministerielles Erstaunen – Stühle, auf die sich die Excellenz vor Ueberraschung niederlassen muß … Sie meinen, meine Herren? Sie befürworten –? In den »Gelehrten-Anzeigen« hackten Sie ja regelmäßig die Vertreter dieses Systems zu göttinger Wurst zusammen? – Thut nichts, Excellenz![153] Mangel an doppelläufigen Pistolen – Und nun errichtet man einen neuen Lehrstuhl, beruft denselben jungen früher verfemten Irrlehrer und die akademische Jugend des heiligen römischen Reichs findet wieder den alten Weg an – die »Leine«, die Honorare kommen in Gang, die Doctorhüte fabricirt wieder »Vater Bethmann« nach wie vor, die alten Herren frischen sich mit dem jungen Blute wieder auf, wie in Arnim's »Kronenwächtern« die Transfusion des Blutes in praxi ausgeführt wird und ebenso denk' ich mir: Wenn in Städten, wie diese, die Gesinnungen zu weltlich werden, die Beichtstühle zu leer stehen, die Büchsen und Becken beim Opfern zu viel Kupfer abwerfen, die zweischlächtigen Bastarde der gemischten Ehen nur in den Taufbecken der Protestanten Stolgebühren zurücklassen, dann müssen frische, fromme, freudige Gemüther –

Wiederum aber konnte diese dem Eindruck, den Bonaventura dem Mönche machte, dargebrachte Huldigung nicht weiter kommen. Eine Volksmenge brauste daher, Vorläufer eines neuen Soldatentrupps, diesmal der großen Wachparade. Es war schon die Mittagszeit. Wie eine rauschende Flut stürzten sich die Accorde einer Janitscharenmusik über die Worte des Sprechers …

Der Mönch schwieg; beide Wanderer standen still und ließen die Truppen an sich vorüberziehen …

Kennen Sie den Kirchenfürsten? verstand sich der Mönch wiederholt zu einer – Frage, als es ruhiger geworden.

Aus der Zeit, als er noch Generalvicar war![154]

Reden Sie mit ihm, so bitt' ich, sprechen Sie Gutes von mir!

Bonaventura sah den Mönch erstaunend an.

Ich habe die Weihen nicht! Ich bin nicht Priester! sagte der Pater.

Auf Bonaventura machte dies Geständniß einen tiefen Eindruck. Es war ihm, als fiele ihm eine Last vom Herzen. Pater Sebastus war kein Priester! Diese Hand, die Jérôme von Wittekind erschoß, die einen Vater ungerächt gelassen, war so nicht entsühnt, daß sie Segen austheilen, das Brot des Lebens spenden konnte – und jetzt verstand Bonaventura die Widersprüche in dem Wesen seines Begleiters – die Demuth schien ihm noch nicht zur neuen Natur geworden – sie erstrebte vielleicht nur das letzte Ziel des neuen Ehrgeizes – die Weihen – und Stolz und Leidenschaft schienen die alten geblieben … In seltsamen Wirbeln ging sein schwankendes Urtheil.

Da kamen jetzt vier Männer daher … Sie grüßten, standen still und es fanden gegenseitige Vorstellungen statt.

Benno war es mit seinem Freunde Thiebold, mit dem Assessor von Enckefuß und einer seltsamen Erscheinung, die sich zwischen dem Arm des letztern und dem Arme Thiebold's hielt … ein jugendlich aufgefrischter Greis, von jenen selbst beim Weinen lachenden Gesichtszügen, wie sie der Mönch eben bei den alten gezähmten Voltairianern stereotypirt fand, den Bart, die Haare gefärbt, ein seltsames Bild unter drei jungen Männern, von denen[155] wenigstens Benno und Thiebold die Lebensfrische selbst waren …

Herr Rittmeister von Enckefuß! … Herr Pfarrer von Asselyn! … hieß es.

Der Mönch stand starr …

Die Gruppe wagte ihn nicht ganz in ihren Kreis zu ziehen …

Herr Doctor! sagte ihn erkennend der Rittmeister – in leichter und fröhlicher Anrede … Es gab eine Zeit, wo Sie's gar nicht abgeschlagen hätten, mit uns auf den Hahnenkamp zu gehen und ein Glas Champagner zu trinken! Wir haben ihn da besser als im Englischen Hof! Jetzt freilich –

Der Mönch sah den Sprecher an, als irrte er sich in der Person. Ja es war ein Blick voll Größe und als wollte er sagen: Ich spreche armenisch und komme vom Libanon!

Benno fixirte den Pater von oben bis unten und würde den vor Verlegenheit verstummenden Rittmeister in der Erkennung unterstützt haben, wenn nicht Thiebold Bonaventura's Bekanntschaft zum ersten mal gemacht hätte. Da gab es denn ein Bestürmen mit dem ganzen Feuer des Antheils, ein Aufrufen zur Vergleichung der Aehnlichkeit mit dem Onkel Dechanten, ein lärmendes Erörtern der unangenehmen Nachrichten für Frau von Gülpen, daß nun eine andere Conversation gar nicht mehr aufkommen konnte.

Der Mönch, wie nicht im mindesten berührt von der Begegnung mit einem Manne, der ihm die trübsten Erinnerungen des Lebens zurückrief, wandte sich inzwischen[156] und richtete, wie wenn nichts wäre, den Blick auf die Straßenecke, die mit Anschlagzetteln bedeckt war … Man befand sich auf einem der vielen kleinen Plätze der Stadt, in der Nähe eines Gasthofs mittlern Ranges.

In Bonaventura's Klagen über die Verzögerung seines Aufenthalts mußte sich sein Bedauern mischen, von Benno hören zu müssen, daß diesen jede Stunde eine Weisung seines Principals über Land zu schicken drohte und, wie er sagte, sein halb schon immer gepackter Koffer ihn vielleicht heute Abend bereits wieder aufs Dampfboot begleiten könnte.

Ich hoffe morgen empfangen und verabschiedet zu werden! sagte Bonaventura und drückte damit für Benno eine Bürde aus, die er an dem lesend der Mauer zugewandten Begleiter zu tragen hätte … Und in dem Rittmeister von Enckefuß sah denn nun Bonaventura eine Persönlichkeit, die vielfach genannt wurde, sprach man von den Zerwürfnissen des Kirchenfürsten mit der Regierung und einer schon uralten Verfeindung des Domherrn Grafen von Truchseß-Gallenberg mit dem herrschenden Systeme … In seiner Heimat drüben erfolgte nach geistlicher, dann westfälischer Herrschaft die Uebernahme der Zügel des Regiments 1815 schroff und im Geiste solcher Sieger, die von der Demüthigung des Corsen triumphirend heimkehrten und in den neugewonnenen Ländern und Städten als Wächter die wilden Söhne des Heerlagers zurückließen. Kurze Zeit hatte der Corse auch die Söhne dieser Länder in Waffen den übrigen deutschen Brüdern gegenübergestellt[157] und nun trat unter Verhältnisse, wo aus jedem nur erdenklichen Grunde der Politik die Versöhnung hätte herrschen sollen, doch, wie einmal die menschliche Natur ist, die Vergeltung. Ein tüchtiger Heerführer befehligte in der Hauptstadt des neuerworbenen Landes. Milderte an ihm sein Verdienst die Wildheit und konnte eine gewisse barsche Treuherzigkeit, der man im rechten Augenblicke sogar Gemüthvolles abgewinnen konnte, ihm manche gute Wirkung sichern, so verdarben das, was seine Oberleitung noch allenfalls gut machte, die Untergebenen. Sein eigener Sohn war es, ein junger Offizier, der auf dem so gänzlich verschiedenartigen Boden die Sitten der Heimat einführen wollte. Der Husarensäbel des Rittmeisters von Enckefuß zerhieb alle Schwierigkeiten, deren sich für den alten General, seinen Vater, immer zahlreichere fanden. Verhältnisse, Vorurtheile, Meinungen, Gewohnheiten wurden verletzt, mit ihnen die Personen. Die Reizbarkeit erhöhte sich. Zu Kränkungen kam es, die niemand mehr mit der dem dortigen Menschenschlage eigenen Selbstbeherrschung, die man auch Trägheit nennen mag, verwinden mochte; bald standen sich die höhern Stände gegenüber. Einige der jüngern Domherren, Geistliche aus den ersten Geschlechtern des Landes, wurden von dem Militärgeist, der seinen Säbel auf dem Straßenpflaster nachschleppen ließ, auch auf dem neutralen Boden der Geselligkeit, vorzugsweise im Casino der Stadt, geneckt und, als sie es ihrem Amte gemäß schweigend hinnehmen mußten, mit spottenden Worten bezeichnet. Es kam zu einem Ehrenstreite, an dem die Stadt, die ganze Provinz theilnahmen. Zwei[158] junge Domherren waren durch wiederholte Beleidigung in der Nothwendigkeit, sich von den Offizieren Genugthuung zu erwirken. Welche konnten sie erlangen? Als Priester durften sie die Waffe nicht führen. Ihren Stand zu verlassen verhinderte eigene Neigung und der durch Familienstatut gebundene Wille. Sie klagten vor Gericht. Dies konnten sie nur da thun, wo der Rechtsspruch vom jenseitigen Feldlager kam. Nach langem Processiren kam es zu einem Austrag, der ihrer Ehre allerdings einen dürftigen Strohhalm bot. Vor den Gegnern hatten sie einen zweifelhaften Sieg gewonnen. Neue Verwickelung, neuer Hader. Da tritt der einzige Bruder des Domherrn, der Träger des Geschlechts, in die Schranken und wird, sowie später in unedlerer Veranlassung Jérôme von Wittekind, im Duell von jenem Rittmeister der Husaren erschossen … An des Bruders Grabe soll Priester Immanuel, der Domherr Graf von Truchseß-Gallenberg, damals einen nur stillen Schwur gesprochen haben, vollkommen aber vernehmbar den Geistern Innocenz' III. und Gregor's VII.

Nun der Anlaß dieser Irrung, der alte Husar da, sorglos, seinen gefärbten Schnurrbart drehend und unterhaltend sein »junges Volk« von der »Witwe Clicquot« – und das sogar in einer Weise, der Bonaventura, um seine eigene ehemalige Fähnrichschaft von ihm angegangen, gar nicht gram sein konnte … Ihm waren diese ghibellinischen adeligen Landsknechte geläufig, die mit unendlichstem Leichtsinn Hab' und Gut im Würfelspiel in einer Nacht verknöcheln konnten und dennoch, wenn die Drommete gerufen hätte zur Schlacht, sich aufs Roß[159] geschwungen haben würden und Leib und Leben nicht minder leicht aufs Spiel gesetzt.

Die fröhliche Gesellschaft wollte weiter gehen und sah auf den unter fast ähnlichen Lebensbedingungen, wie der fröhliche Rittmeister, stehenden Mönch, um Abschied zu nehmen.

Dieser stand abgewandt und las …

Die Männer gingen …

Bonaventura wartete, bis sich Pater Sebastus wenden würde …

Endlich that er es …

Leichenblaß …

Bonaventura redete ihn um die Bekanntschaft mit dem Rittmeister an.

Der Mönch erwiderte nichts …

Bonaventura sprach von einer Fortsetzung des Spaziergangs am Nachmittage …

Kein Wort der Entgegnung …

Nur mit seinen magern Händen zeigte er jetzt über den Platz hin …

Bonaventura sah einen Gasthof, an dessen Einfahrt ein Schwarm von Krüppeln und Bettlern sich drängte. Barfüßige Kinder, Greise, Blinde und Lahme, Frauen mit verbundenem Kopf, Hexen nicht unähnlich, eine Zunft von Menschen, die den Spruch, wir wären nach Gottes Ebenbild geschaffen, zur Satire machten, alles das drängte sich mit halbzerbrochenen Scherben am Eingang – ein Kellner hielt alle noch zurück –

In dem Blicke des Mönches auf jenes Gewühl erkannte Bonaventura, daß er sich den Armen anzuschließen im Begriff war …[160]

Mein Donnerstagstisch! sagte er und brach ebenso rasch ab, wie er vor einigen Stunden zu Bonaventura gekommen war.

Bonaventura sah ihm lange – lange – und mit Rührung nach …

Sein Herz sagte ihm: Warum sollen es nicht die Kranken und die Armen sehen, daß ein Genius in den Fragen des Lebens vor ihnen nichts voraushaben will? Warum soll nicht ein einzelner unter sie treten und ihnen zeigen dürfen, daß Entbehrung jedem wehethut und daß Hunger, Durst und Frost nicht das Lebensloos der Armen allein sind, ja daß es eine Glorie höherer Genüsse gibt, die selbst ein Gebildeter allem vorzieht, wonach die Entbehrenden mit neidischem Herzen schielen! … Und selbst der Einwand, der sich ihm aufdrängte, daß ein Mönch nicht arbeite und darum mit seinen Entbehrungen denen nicht gleichstehe, die in geringen Verhältnissen leben trotz ihres Fleißes, widerlegte sich seine noch unerschütterte Begeisterung für die Kirche durch eine eigene Auslegung der Schrift. Wenn wir nicht vom Brote allein leben, sondern auch vom Geiste Gottes, so darf zu diesem lebendigen Odem, der uns erfüllt und erhebt, auch ein festgehaltener äußerer Ausdruck des Uebersinnlichen gehören. Wie man die Kirchen schmückt, statt daß auch in schmucklosen derselbe Gott erkannt und gepredigt werden könnte, wie man seine Liebe durch ein Symbol ausdrückt, eine Blume, einen Ring, statt daß Worte ganz dieselbe Bedeutung haben könnten, so sollte nicht auch die äußerlich ersichtliche und vor der Welt festgehaltene Demuth, das Kleid und die Entbehrung des Klostergelübdes die immer bereite[161] Vergegenwärtigung der Begriffe sein, die sie dem weltlichen Leben vorhalten und ihm gleichsam einbilden möchten? Edler, als der Spartaner sich Heloten hielt, um seinem Sohne die Niedrigkeit dienender Seelen zu zeigen, schien dem sinnend Nachblickenden der Christ sich Mönche und Nonnen halten zu dürfen, um in der Fülle der Ungebundenheit und des leidenschaftlichen Lebensgenusses auch die reinen Typen zu bewahren der Selbstbeschränkung und Nur-Auf-Gottbezogenheit.

Bonaventura speiste dann auf seinem Zimmer, bedient von einem ungeschickten Mädchen, durch dessen Unerfahrenheit hätte entschuldigt sein können, daß lieber, wie heute in der Frühe, eines der Fräulein Schnuphase mit schweigsamer Ehrerbietung, einer Martha gleich, erschienen wäre und das Serviren unterstützt hätte. Doch die seltsame Begegnung im Kreuzgange hielt wol die beschämten Heuchlerinnen fern. Daß Bonaventura nicht zu lange bei dieser Erfahrung verweilte, lag in der traurigen Gewöhnung seines Standes, derartige Eindrücke an Priestern wie an Laien fast täglich bedenken und in sich verwischen zu müssen.

Um einen katholischen Priester ist es einsam. Friede soll über sein Gemüth hinwehen, die Leidenschaften sollen schweigen, immer soll er innerlich beschäftigt sein. So wollte es Hildebrand, als er, um aus ihnen die Gnomen der römischen Zauberkunst zu schaffen, ihnen die Ehe verbot, die Verbindung mit der Welt und mit dem gemeinen Leben.

Von der Begegnung mit dem Mönche Sebastus war Bonaventura tief aufgeregt; doch wußte er den Gefühlen,[162] die ihn bestürmten, keinen Namen zu geben. Er forschte ihnen auch nicht zu lange nach …

Mahnen dann aber zuletzt die Geister zu gewaltig, stürmt es doch in der Brust, so haben die Lehrer der Kirche, unter ihnen tiefe Kenner des menschlichen Gemüths, dafür gesorgt, den Sinn zu heiligen, das Herz zu stillen, es zu bewahren – vor der Phantasie. Denn die Phantasie ist die gefährlichste Feindin des Einsamen …

Mannichfaltige Rathschläge gaben die Seelenmeister, ihren Lockungen zu widerstehen …

Bonaventura floh die Phantasie nicht, aber er dachte sich nie Zukünftiges, sondern nur Vergangenes … Im Vergangenen – da konnte er schwelgen! Aber wie rang er auch, nur allein das Einst festzuhalten! Nur die Grenze zu wahren, wo nicht plötzlich ein rosiger Zukunftsschimmer in die Seele einbrechen konnte! Mit Zukunftsträumen beginnen die Irrpfade der Einbildungskraft. Ihrem goldenen Glanze verschließe das geistige Auge! Erwache aus jedem Traume, den es dich gelüsten könnte dir auf Zukünftiges zu deuten! Mögliches, Gehofftes ist ein Arom der Geister, das die Sinne betäubt, ein Zaubertrank, der in Paradiese versetzen kann, selbst unter den Schrecken der Wüste … Schreit dann die Seele inbrünstig »wie der Hirsch nach frischem Wasser«, so gibt ihm die römische Magie eine vom Munde man möchte glauben der schäumenden Wuth des leidenschaftlichsten Seelenschmerzes gesammelte Aqua toffana … Auch Bonaventura kannte sie …

Wurde dem jungen Priester das Blut von einer plötzlichen Wallung durchglüht, rang er in der Noth des Aufschreis[163] seiner gesunden Lebensgeister, so griff auch er nach jenen mechanischen Hülfsmitteln, die im Rosenkranzgebet den ersten Wassersturz, der Besinnungslosigkeit zu suchen lehrten … Auch er zählte dann die Buchstaben der Evangelien und Episteln … auch er rechnete, wie oft ein Wort sich auf einer Seite wiederholte … Und wenn Paula's Name und ihre liebliche Erscheinung über seinen Geist wie eine sanfte Sphärenmusik sich senkte, so konnte auch er, um sich vor dem Vergehen in einem Meer von Sehnsucht zu retten, das liebliche Gedicht in Spee's Trutznachtigall:


Wenn Morgenröth' sich zieret

Mit zartem Rosenglanz –


statt vorwärts – rückwärts lesen. Half auch das nicht und klangen die Sphären zu berauschend, die Lockungen zu süß, so konnte er zählen, wie oft in einem solchen Gedichte ein einziger Buchstabe vorkam – und vielleicht nicht einmal der Buchstabe P!

Lacht nicht, ihr Feinde des Christenthums! Ihr am wenigsten, die besten Freunde desselben nach dem Mönch Sebastus, ihr Juden! Das eben brachte vielleicht schon Apella nach Rom. Mit solchen Glaubensspielen erfüllten schon am Jordan die Rabbinen das Wort des Psalmisten:

»Wie hab' ich dein Gesetz so lieb, o Herr! Den ganzen Tag ist es meine Betrachtung!«

Jeden Augenblick horchte dann Bonaventura voll Bangen, ob es klopfen würde und der Mönch zum zweiten mal einträte, ihn zu einem Nachmittagsgange abzuholen.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 3, Leipzig 1858, S. 135-164.
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