9.

[280] In ähnlichen, doch zugleich vom tieflastenden Druck der Furcht beschwerten Stimmungen hielt sich auf seinem Zimmer ein Mann, in dessen Inneres wir zum ersten male einblicken wollen.

Nicht lange hatte Armgart in der schwebenden Pein der Ungewißheit über den Onkel und die Tante zu verharren brauchen … Einige Augenblicke später, nachdem Bonaventura gegangen, kamen sie von der Gegend auf Witoborn zurück …

Armgart's stürmischen Fragen nach dem Ort, wo sie gewesen wären, nach den Nachrichten, die sie mitbrächten, wurden schroffe Antworten zu Theil. Als sie von einer Verabredung sprach, die hinter ihrem Rücken getroffen worden, um sie dem Vater zu überliefern, schwieg man … Aber auch sie verstummte plötzlich; denn Wenzel von Terschka sprach, um einen möglichen Zwist im Keime zu unterbrechen, von ihrer Mutter …

Er nannte Monika von Hülleshoven die Seltenste ihres Geschlechts, einen Edelstein in dem Bunde aller der vortrefflichen Menschen, in deren Nähe er hier zu[281] leben so glücklich wäre, eine Denkerin ohne die Runzeln der Stirn, die dem Gedankenleben zu folgen pflegten und die Leichensteine der Schönheit würden, eine Gelehrte, ohne daß man an ihren Fingern die Dinte sähe, eine Priesterin an den Altären einer noch unausgesprochenen Religion, die alle Menschen verbinden und glücklich machen würde …

Auf dies überraschend enthusiastische Wort ermunterte Paula, die selbst noch wie berauscht war von ihrem geschlossenen Bunde mit Bonaventura, den Sprecher fortzufahren …

Armgart unterbrach ihn aber und sagte aufwallend:

Meine Mutter wird in ihrem wiener Kloster keine andere Religion gefunden haben, als die des dreieinigen Gottes!

Auf diese entscheidende Aeußerung trat eine Stille ein und kein behagliches Gespräch ließ sich heute mehr anknüpfen …

Nach dem Thee trennten sich alle …

Als Wenzel von Terschka auf seinem Zimmer war, machte es ihm der Diener so zurecht, wie der »Rittmeister« seither gewohnt war immer den Abend noch zuzubringen … Vor Mitternacht ging er nie zur Ruhe … Zwei Zimmer mußten erleuchtet sein … Auf drei, vier Tischen mußten Lampen stehen; denn auf jedem lag ein Actenstoß von diesem oder jenem Inhalt – zu verzweigt war die Geschäftsthätigkeit, der er sich zu widmen hatte …

Geschäftlich war ihm seither alles vortrefflich gegangen …[282] Er konnte seinem Gönner und Freunde Grafen Hugo, er konnte der Mutter desselben, jetzt auch schon an Monika Berichte voll erfreulicher Ergebnisse schicken. Die letzten Chicanen, mit denen Nück noch drohte, waren durch seinen Bevollmächtigten, Benno, gemildert worden. Benno verfuhr mit Entschiedenheit, vermehrte jedoch die Schwierigkeiten nicht. Die Parcellirung war von der Regierung genehmigt. Löb Seligmann hatte die einzelnen Bestandtheile taxirt und schon Angebote vermittelt. Seligmann war hin und her; für seine Geschäftsthätigkeit hatte er eine neue Provinz erobert; kehrte er nach Kocher zurück, so blies er sich schon jetzt das Horn einer Extrapost für die letzte Station, auf der er diese kleine Prahlerei sich gestatten wollte … Endlich wurde eine bedeutende Geldsumme sogleich flüssig durch die an Thiebold de Jonge verkauften Waldungen … Nach Ostern konnte der neue Besitzstand vollständig angetreten werden.

Anfangs war in diesem Kreise Terschka der, der er überall gewesen. Ein Mann von vierzig Jahren und doch noch jugendlich; eine Natur, unheimlich manchem, weil er niemanden Stand hielt, doch erweckte er auch niemanden Furcht oder Besorgniß. Man konnte ihn nur nicht festhalten. Etwas Unstetes lag in seinem ganzen Wesen. Gefällig war er gegen jedermann. Seiner schmächtigen, zierlichen, gewandten Gestalt stand es, da einen Strickknäuel aufzunehmen, dort einer Cigarre Feuer zu geben und dabei doch schon wieder einen Befehl zu ertheilen, den er halb schon selbst ausführte. Thiebold fand ihn sogleich superlativ. Terschka schoß einen Vogel im Fluge,[283] selbst im währenden Reiten. Seine Kunst, die Pferde zu zügeln, war der Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Dennoch sagte Benno gleich, nachdem er ihn einige Tage lang beobachtet hatte: Dieser Mann ist nicht schlecht und doch hat er kein gutes Gewissen! …

Von der verfehlten Begrüßung der Gräfin Erdmuthe war Terschka ganz in der Aufregung zurückgekehrt, die der letzten geheimen Zwiesprache zwischen Monika und der Gräfin entsprach, die den Uebertritt derselben zum Lutherthum und eine Vermählung mit Terschka wünschte. An dem Abend bei Piter Kattendyk hatte er ganz wieder in das Innere dieser jungen Frau blicken können, die sich, wie Luther sich aus Rom die Reformation, so aus einem Kloster die Freiheit des Denkens geholt hatte. Er begleitete sie, noch vor dem Auflauf in den Straßen, noch vor dem militärischen Conflict mit den Vereinen, in ihr Hotel, mußte aber Abschied nehmen, da seine Rückreise eines Gerichtstermins wegen unerläßlich war … Nun schrieb er ihr … Sie antwortete … Es waren Briefe der Convenienz, wirkliche oder gesuchte Geschäftsanfragen … Monika antwortete kurz und wich Dem aus, was ihre Empfindungsweise hätte misdeuten können … Terschka hatte keine Berechtigung, auf das Herz dieser Frau zu rechnen … Eine Frau empfindet bald, ob eine Werbung aus dem tiefsten Bedürfniß des Herzens oder nur aus der Phantasie entspringt … Letzteres schien bei Terschka der Fall. Diese seltsame Naturerscheinung, silbergraue Locken auf einem halben Mädchenantlitz, körperliche Reize verbunden mit einem durchaus geistigen Leben – Terschka hatte sich in den Strudeln[284] der Welt genug umgetrieben, um diese Verbindung neu und anziehend zu finden. Wie Terschka auch jugendlich aussah, im Grunde war er ermüdet. Vielleicht hätte er eine edlere Ruhe finden mögen. Vielleicht hätte er gern die Waffen der List und der Kühnheit, die er zwanzig Jahre lang geführt, niedergelegt zu den Füßen einer Liebe, die ihn dann immerhin hatte tyrannisiren mögen. Vielleicht hatte er das Bedürfniß, gut zu sein oder sehnte sich nach Erhebung. Frauen, die in sich gefestet sind, vermögen viel. Schon Gräfin Erdmuthe, die Terschka und ihr Sohn, Graf Hugo, vielfach betrogen hatten, hatte ihn gemildert, gezähmt und als dann eine Monika in diesen Lebenskreis eintrat, empfand Terschka für sie wie für ein Wesen, das ihn, so sagte er auch schon in Wien, von sich selbst befreien könnte und neugeboren werden lassen …

Seit einigen Tagen kam in Terschka's Wesen etwas, was Benno's Wort vom bösen Gewissen zu bestätigen schien … Vollends seit der Rückkehr vom Leichenbegängniß, seit dem gestrigen Abend im Finkenhof war Terschka wie zerstört … Er unterzog sich seinen täglichen Geschäften, er rechnete unten im Rentamt mit den Beamten, sorgte für die Vorbereitungen der großen Jagd, war heute wieder früh in Witoborn, Nachmittags in Heiligenkreuz gewesen, besorgte seine Briefe, würzte das Gespräch mit Anekdoten, sprach über die Schweiz, Frankreich, Italien – in Rom war er mehr zu Hause, als er zu gestehen liebte – aber seine Sätze waren abgerissen, seine Uebergänge unvermittelt, seine Antworten zerstreut …[285]

Gleich gestern Abend, wo er vom Finkenhof heimgekehrt war, hatte er sein Zimmer zugeschlossen, die Lampen, die er angezündet fand, ausgelöscht bis auf eine, hatte die Vorhänge niedergelassen, als könnten die Pappeln von draußen verrätherisch hereinlugen, hatte seine Kleider abgezogen, sich – vor den Spiegel gestellt, das Hemd zurückgeschlagen, den Aermel aufgestreift und – auf den linken Arm in dem Moment sein Auge gerichtet, wo es klopfte … Erbebend stellte er die Lampe nieder, ließ den Aermel herabgleiten und rief: Wer da? … Ein Diener brachte ihm den Brief, den Armgart hatte unterschlagen wollen …

Nur allein dieser Brief konnte ihn zerstreuen und beruhigen … Er erbrach ihn, las ihn, las ihn wieder … Es waren nur einfache Berichte über die Summen, die die Gräfin im Hotel zu bezahlen hatte … Mittheilungen über ihren Aufenthalt, den Monika nicht mehr verlängern wollte, obgleich sie ihn in einem bescheidneren Zimmer des Hotels genommen hatte … Nachrichten über die Ankunft der Gräfin in London und die erste Bekanntschaft mit Lady Elliot … Kleine Neckereien auch über Lucinde, die Monika näher kennen gelernt hatte und die sie ihm um so mehr empfahl, als ihre Schönheit und ihr Geist an jenem Abend ihn ja, wie sie schrieb, sofort gefesselt und an eine glückliche Vergangenheit erinnert hätte – an jenen Pferdeankauf im Holsteinischen für Hugo's Regiment – Aber nicht ganz fand Terschka seine Heiterkeit wieder … Gestern und auch heute nicht … Der Bruder Hubertus konnte nickt erwähnt werden, ohne daß er erröthete …[286] Soviel er auch heute in der Gegend umherstreifte, er konnte ihm nicht begegnen … er wünschte das und fürchtete es wieder … Zum Kloster Himmelpfort zog es ihn und wieder jagte es ihn gespenstisch aus dessen Nähe …

Zu den Besorgnissen, die ihn erschreckten, kam die Entdeckung, die im Benehmen Armgart's lag … Warum hielt sie ihn heute so fest nach Paula's Vision? … Was wollte sie überhaupt schon seit lange mit ihm? … Errieth sie seine Liebe für ihre Mutter? … Mistraute sie dem Briefwechsel, von dem sie sich unausgesetzt erzählen ließ? … Heute war das auf der Wanderung von Heiligenkreuz mit ihm ein Ton gewesen, der ihn völlig befremden mußte … Daß Thiebold und Benno um Armgart warben, sah er, und ein keineswegs zu scharfes Auge gehörte dazu, sich zu sagen, daß letzterer der Bevorzugte war … Und dennoch, dennoch begann Armgart seit einiger Zeit ihm eine Theilnahme zu schenken, die ihn zu verwirren anfing … Was hat nur das seltsame Mädchen? sagte er sich … Auf der Wanderung heute kam sie von der Mutter ab und sprach wie im Traum, bis Terschka ihr geschworen hatte, er wisse nichts von der Nähe ihrer Mutter … Selbst heute Abend ihr: »Gute Nacht, Herr von Terschka!« – wie klang das so süß und herbe zugleich, so innig und doch so beklommen, so absichtlich und doch so zurückgehalten! …

Heute wieder schloß sich Terschka ein, was er sonst nie that … Wieder konnte er erschrecken vor jedem unerwarteten Geräusch … Dem Diener, der ihm die Zurückkunft des Rosses von Heiligenkreuz meldete, sagte[287] er bei Gelegenheit des Namens Schneid: Ist das Der, der gestern auf dem Finkenhof unter dem Schutz des buckeligen Stammer erschien und falsch gespielt haben soll? … Er hörte aber nicht weiter auf die Mittheilung, daß Baron Levinus dem Vagabunden nur noch eine dreitägige Frist als Probe seiner Haltung gestattet hätte … Bonaventura hatte auf Bitten des alten Tübbicke selbst ein Fürwort für den ihm unbekannt gebliebenen, ja ihn vermeidenden Fremdling eingelegt …

An Monika hatte Terschka jetzt schreiben wollen. Er wollte ihr Vorwürfe machen, daß sie beabsichtigte, wie er von andern hören müsse, in die Gegend zu kommen, ohne ihn in Kenntniß zu setzen. Verdien' ich Ihr Vertrauen nicht? hatte er sagen und sein ganzes Gefühl ausströmen wollen … O, ich ahne es, Sie werden sich mit Ihrem Gatten verständigen! Ihr liebliches Kind wird Sie beide verbinden! Die Hoffnung meines Lebens ist dahin! …

Nie hatte er so zu Monika gesprochen … Sollte er es heute wagen? … Heute? … In den Stimmungen, die ihn seit einigen Tagen erfüllten! … In diesen aufgeweckten Erinnerungen, in den quälendsten seines Lebens? … In Ahnungen, Schreckensaussichten, die ihm plötzlich gekommen waren bei Nennung des Namens – Bosbeck? Bei Erwähnung jener beiden Knaben, die Hubertus einst aus dem Feuer rettete?

Erzählen wir von Wenzel von Terschka die Wahrheit.

1798 war er geboren und in der That ein Böhme und in der That vom Adel, wenn auch vom ärmsten.

Sein Vater, einer herabgekommenen Familie angehörend, diente zur Zeit der französischen Revolutionskriege im[288] österreichischen Heere und stand bei Kinsky-Ulanen in jener Heerabtheilung, die anfangs unter Wurmser, später unter Erzherzog Karl gegen die französische Republik am Neckar, Rhein, an der Mosel mit abwechselndem Glücke focht. Seines Adels und Alters ungeachtet war seine Stellung nur gering. Er hatte Lieutenantsrang und bekleidete die Functionen eines Regimentsquartiermeisters. Ihm, der auf dem Marsche immer für die sichere Unterkunft der andern sorgen sollte, begegnete es, daß er bei einem Ueberfall selbst von seinem Regiment abgeschnitten und gefangen genommen wurde. Die französischen Armeen hatten sich damals in Nassau und bis nach Hessen hin festgesetzt, der Gefangene blieb am Rhein in der alten Stadt St.-Goar. Seine Lage war hart und zog sich in die Länge …

Es war die Zeit des Rastadter Gesandtenmords, der die Welt mit Entsetzen erfüllte – man fürchtete Rache an jedem gefangenen Oesterreicher … Der Quartiermeister von Terschka war verheirathet. Seine Frau gehörte dem niedern Bürgerstande an. Ursprünglich war sie eine wohlhabende Bäckerswitwe in einer böhmischen Stadt, die in zweiter Ehe ihr Geschäft verpachtet hatte. Die wenig gebildete, kaum halbwegs deutsch sprechende Frau besaß reichlich die Mittel, um dem, wie sie zu ihrem Schrecken in Erfahrung brachte, gefangenen Gatten zu folgen, setzte sich auf die Post, reiste an den Rhein, kam in St.-Goar an, verfiel jedoch, kaum im Wirthshaus abgestiegen, vor Anstrengung und Aufregung in eine Krankheit, die ihr und beinahe auch einem Kinde, das sie unterm Herzen trug, das Leben kostete … Obgleich sie schon in zwei Monaten Mutter werden mußte, hatte[289] sie sich dennoch diese Reise zugetraut … Sie erlitt eine Frühgeburt und sah ihren Gatten, der von der oberhalb der Stadt gelegenen Festung herbeieilte, nur wieder, um für dies Leben von ihm Abschied zu nehmen … Die Wache, die ihn begleitet hatte, stand voll Rührung. Es war ein herzzerreißender Anblick … Die schon an Jahren vorgerückte Frau erlag dem Opfer ihrer Liebe. Wenzel, wie die Nothtaufe das kaum athmende Kind nannte, war ein Siebenmonatkind. Daher die eigenthümliche Unfertigkeit und scheinbare Unreife in seinem ganzen Wesen … Die Hebamme nahm das halbtodte Kind an sich, besorgte das Begräbniß der Mutter, der Vater schrieb um Mittel nach Böhmen …

Eine schmerzliche Zeit verging dem Gefangenen auf der Festung Rheinfels, die oberhalb des Städtchens St.-Goar liegt. Der Rastadter Gesandtenmord schien die Aussicht der Ranzionirung zu vereiteln und ließ eine Abführung ins Innere Frankreichs erwarten. Die aus Böhmen erhofften Gelder blieben aus. Der Krieg wüthete am Main und bedrohte sogar schon Thüringen … Die Hebamme war keine besonders wohlwollende Frau. Sie hatte Noth mit dem schwer zu erhaltenden Kinde und drang auf eine Verpflegung bei andern Leuten, zu der dem Vater die Mittel fehlten …

Ein Mitgefangener hörte das Seufzen und die Klagen des unglücklichen Kriegers, hörte das Schreien seines Kindes, das man ihm zuweilen brachte, und schlug ihm durch die Wand, die ihn von seinem Nachbar trennte, eines Tages vor, das Kind an seine Frau zu übergeben, die heimlich unten im Orte wohne, selbst[290] nur ein Kind hätte und einem zweiten gewiß bis auf weiteres eine treue Mutter sein würde … Für die Heimlichkeit des Aufenthalts seiner Frau in dem Orte gab er Gründe an, die so stichhaltig schienen, daß der Tiefgebeugte kein Arg hatte … Terschka bewegte sich freier, als der Mitgefangene, der kein erwiesener Verbrecher war, sondern nur wegen mangelnder Legitimation, doch streng gehütet, gefangen saß …

Die Noth und die Hoffnung auf baldige Ranzionirung bewogen Terschka's Vater, auf den Vorschlag einzugehen. Er erkundigte sich nach seinem Nachbar und nun erfuhr er freilich, daß es ein Mann war, den man für einen Gauner hielt. Es war ein Jude. Man vermuthete, daß sein angeblicher Name Sontheimer schwerlich sein rechter wäre, setzte aber hinzu, daß man sich auch irren könnte. Daß seine Frau im Orte lebte, wußte niemand und da Sontheimer zu dringend gebeten hatte, daß sie nicht genannt würde, schwieg der Kriegsgefangene und ließ sein kaum lebensfähiges Kind an den ihm von seinem Nachbar näher beschriebenen Ort, eine enge, dunkle Gasse dicht am Rhein, bringen … Wie die Umstände waren, war das ein Glück für den Kriegsgefangenen, der durch eine so traurige Verkettung von Umständen um seine Freiheit, um sein Weib kam und noch obenein die Sorge um ein Kind vom Schicksal auferlegt erhielt! … Haus und Herd gab es damals für Tausende nicht mehr … Mit den Armeen zugleich zogen die Bewohnerschaften zerstörter und geplünderter Ortschaften mit Weib und Kind und wo sich Waaren und Gelder hingeflüchtet hatten, da lauerte die Nachstellung und der[291] Ueberfall jener Verbrecherbanden, die wie giftige Pilze nach dem Regen aufschossen im ganzen verwüsteten nordwestlichen und südlichen Deutschland …

Der Kriegsgefangene erhielt noch immer seine Freiheit nicht und dachte oft, obgleich der dazu nöthigen Mittel entblößt, an Flucht … Auf der Festung hatte er freieren Aus- und Eingang, als die andern … Der Jude Sontheimer wurde nicht ins Freie gelassen, sondern wie der gefährlichste Verbrecher gehütet, ohne daß man ihm etwas vorwerfen konnte … Seine wilden Flüche erschreckten oft seinen Nachbar … Voll Entsetzen dachte er an die Aufbewahrung seines Kindes in solchen Händen … Besuchte er aber dann wieder Sontheimer's Frau, so fand er ein schönes junges Weib, das ihn zwar nur halb verstand (sie war eine Holländerin); aber die Ermahnungen des Kriegers wirkten so lebhaft auf ihr Gemüth ein, daß sie oft Thränen, vergoß … Da wurde ihm freilich klar, daß es mit Sontheimer nicht richtig stand; er forschte dahin und dorthin, suchte, ob sonst niemand sein Kind an sich nehmen wollte … Aber noch blieb ihm jede Hülfe vorenthalten … Die Spuren einer so weichen Gesinnung bei jener jungen Jüdin bestachen ihn … er ließ sein Kind um so mehr in ihrer Pflege, als sie auch die hingebendste war … Es kostete bei der schwächlichen Gesundheit des winzigen Knäbleins nicht wenig Aufmerksamkeit, sein Leben zu erhalten … Diese Pflege würde ihm in so wilder Umgebung, bei diesen Durchzügen und Einquartierungen von niemand anders gleich liebevoll und uneigennützig geleistet worden sein …

Allmählich entdeckte der Gefangene durch die Wandgespräche[292] die wirkliche Gefährlichkeit seines Nachbars … Der Jude beschwor eines Tages den Krieger, den Gefängnißwärter niederzuschlagen und ihm die Schlüssel zu rauben … Würden sie auf diese Art frei, so wollte er ihn »fürstlich belohnen« …

Nun begriff der Kriegsgefangene vollkommen den Verdacht der Sicherheitsbehörden … Die Welt war damals von Schrecken erfüllt vor jenen großen Verbrecherbanden. Durch die schlechte Justizpflege der Grenzgebiete Deutschlands und besonders der vielen geistlichen Regierungen hatten sich von Strasburg bis zum Niederrhein alle zerstreuten Elemente des Gaunerthums und der Heimatlosigkeit vereinigt und vorzugsweise durch die überwiegende Theilnehmerschaft der Juden wurde bewiesen, wie es sich an der christlichen Gesellschaft rächt, wenn sie die Juden in einem abgeschlossenen Druck, in der Verweigerung der Ansiedelung und freien Erwerbsübung erhält. Man zitterte vor Abraham Picard, der unter hundert Verkleidungen und täuschenden Entstellungen seiner Person immer den Händen der Justiz zu entschlüpfen wußte und von Holland bis zum Spessart mit seinen Genossen und überall versteckten Helfershelfern raubte und sengte …

Mit sich kämpfend, was zu thun seine Pflicht war, stand der Kriegsgefangene verzweifelnd zwischen dem Verlangen, die Behörden auf die Gefährlichkeit seines Nachbars aufmerksam zu machen und zwischen der Sorge für sein Kind … Voll Vertrauen zum Herzen des jungen Weibes wollte er sie zu Rathe ziehen … Von seiner ihn immer begleitenden Wache geführt, kam er in die[293] Stadt und in jene dunkle Gasse. Er sucht die Pflegerin seines Kindes, tritt in ihr Zimmer und findet die Jüdin entflohen … Mit beiden Kindern war sie seit einem Tage verschwunden … Außer sich, hielt er jetzt mit keiner seiner Enthüllungen, wenigstens über die heimlich in der Stadt anwesende Frau des Gauners zurück. Sontheimer wurde mit ihm confrontirt. Er stürzte auf den Verbrecher zu, den er zum ersten mal in ganzer Gestalt sah, verlangte Auskunft über den Ort, wo sich sein Weib verborgen haben könnte und hörte nun, wie dieser kecke, wilde, trotzige Mensch, von dem er bisher nur den aus dem vergitterten Fenster gesteckten Kopf gesehen hatte, sich mit einer Verschlagenheit herauszureden wußte, daß er aus Furcht vor Rache an seinem Kinde Anstand nahm, noch alles Fernere zu gestehen, was ihm Sontheimer zugemuthet hatte. Listig sagte dieser: Es ist nicht mein Weib gewesen, sondern das Weib eines andern, der mir schuldig ist und den ich in Nimwegen verklagen muß, wenn ich auf freiem Fuß bin! Laßt mich ziehen! Ich heiße Sontheimer, bin ein ehrlicher Mensch und werde euch die Frau in Nimwegen zeigen, wo sie auf der Utrechter Gracht wohnt!

Geschrieben wurde nun freilich hin und her. Aber gerade dem Niederrhein zu und in Holland wüthete die Kriegsfurie. Städte geriethen in Brand; in nächster Nähe waren die Bauern der Lahngegend, Hessens, am Main bis zum Spessart hinauf als Landsturm organisirt, – mitten in die von der Batavischen Republik heraufziehenden Heere hinein konnte sich der österreichische Krieger noch weniger wagen, selbst wenn er entfloh. Aus Sontheimer war[294] nichts mehr herauszubekommen. Auch da nicht, als endlich der Kriegsgefangene frei und mit vorgeschriebener Reiseroute an die Oesterreicher zurückgegeben wurde. Er durfte nicht etwa in seine Heimat zurückkehren, er mußte nach Italien gehen, wo gerade Suworow die Russen und Oesterreicher gegen die Franzosen führte. Mit blutendem Herzen trat er seinen ihm vorgeschriebenen Weg an, ließ bei dem »Maire« von St.-Goar die Erkennungszeichen des flüchtigen Weibes und seines Kindes zurück, bat einige freundlichgesinnte Herzen um Nachrichten, wenn ihnen eine Kunde käme oder wenn der Jude Sontheimer entlarvt würde, und ging über Mainz nach Baiern, von dort über den Vorarlberg nach Tirol und Italien, wo er in der blutigen, für Oesterreich siegreichen Schlacht bei Novi den Tod fand.

Abraham Picard, der gefürchtete Räuber war es selbst gewesen, der bald nach der Entfernung des unglücklichen Kriegers in seinem Gefängniß auf dem Rheinfels ausbrach und noch eine Reihe von Jahren hindurch der Schrecken des Landes blieb. Jene junge Frau war in der That nicht sein Weib, sie war seine Schwiegertochter. Ihr Mann, sein Sohn Heyum Picard', verschaffte ihm zuletzt die Mittel zur Befreiung, nahm aber schon vorher sein Weib zur Sicherung mit sich hinweg. Abraham starb auf dem Schaffot, als die gemeinschaftlichen Maßregeln aller Regierungen diesem Raubwesen ein Ende machten. In den Niederlanden bildeten sich Freiwilligencorps, um den in ihren Schlupfwinkeln verschanzten Räubern förmliche Treffen zu liefern.[295] Oft nach einer Gegenwehr, deren Heldenmuth einer bessern Sache würdig gewesen wäre, fielen die Häupter der Gefangenen bei den Franzosen unter dem Beil des Henkers, bei den Holländern wurden sie gehängt, manche kamen für Lebenszeit auf die Galeere. Den nur Verdächtigen oder den unzurechnungsfähigen Kindern der Verbrecher brannte man Erkennungszeichen auf die Haut, um sie controliren zu können und ihrer Verstellungskunst zeitlebens sicher zu sein. Die Kinder gab man unter die Obhut beaufsichtigter Familien.

Auf diese Art wuchsen Wenzel von Terschka und Jean Picard zusammen auf in einem holländischen Dorfe hart an der deutschen Grenze …

Die Mutter des letztern erlag den Anstrengungen und den Mißhandlungen ihres Mannes Heyum Picard schon vor dessen Gefangennahme auf französischem Gebiet und seiner Abführung auf die Galeeren von Brest. Sie hinterließ ihren Pflegling sowol, wie ihr eigenes Kind der Aufsicht eines ältern Knaben, der bei einem Müller Namens Sterz in Arbeit stand – Hanne Sterz, die wir von den unterirdischen Gängen des Profeßhauses in der Residenz des Kirchenfürsten kennen, war einst das Weib eines Hehlers, der auf einer einsam gelegenen Mühle den Gaunern in die Hände arbeitete. Mittel zum Unterhalt fehlten nicht, sogar die reichlichsten gab es. Dieser ältere Knabe hieß Franz Bosbeck und gehörte jener Familie des Jehu Bosbeck an, eines Christen und ehemaligen Offiziers, den sein dissolutes Leben bis in die Berührung mit den verworfensten Kreisen der Gesellschaft führte[296] und der sogar seinen christlichen Glauben abschwur und Jude wurde. Als seinen und seines Bruders Jan Frevelthaten ein endliches Ziel gesetzt wurde, als eine mit beispielloser Kühnheit ausgeführte Flucht aus einem Thurm in Nimwegen, wo Jehu Bosbeck neunzehn Monate mit den Füßen in Wasser stand, das Signal zu einer gemeinsamen Verfolgung auf Tod und Leben wurde, zogen sich alle zerstreuten Familienglieder, die thätigen und die nur hehlenden, in einem Versteck zusammen, einem Meierhof, der einem Mitverschworenen gehörte. Hier wurden sie umzingelt. Es gab einen Kampf, wie im offenen Kriege. Von Kugeln durchbohrt sanken die Verbrecher, die sich mit Verzweiflung wehrten. Ueber Leichen hinweg stürmten die Corps der Freiwilligen. Die Flammen ergriffen das ganze Anwesen. Das Hauptgebäude, ein stattliches Wohnhaus, war durch die gefüllten, in Brand gerathenen Fruchtscheuern eine einzige Feuersglut. Da war es, wo der vierzehnjährige Müllerbursch Franz Bosbeck, ein Verwandter des Hauptführers, zwei Stockwerke hoch aus den Flammen sprang, in jedem Arm einen Knaben, Wenzel von Terschka im linken, Jean Picard im rechten … Wohlbehalten kam er auf den Boden; die rauchenden Trümmer verbargen ihn in ihrem dampfenden Gewölk, er entfloh, rettete sich zu jener Mühle zurück und als auch diese in Asche gelegt wurde, irrte er mit seinen beiden jammernden Pflegebefohlenen, abwechselnd bald den Einen, bald den Andern tragend, hinaus in Nacht und Verzweiflung … Terschka war damals fünf Jahre alt, Picard etwas älter …[297]

Noch zuweilen schreckte Terschka die Erinnerung an diese frühesten Lebenseindrücke wie ein Fiebertraum. Heute waren es wilde, leidenschaftverzerrte Gesichter, wie sie Rembrandt und Honthorst malte, die er bei Laternenschimmer würfeln, Karten spielen, zechen sah … Dann wieder sah er Gold- und Silbergeräth aufgehäuft, Säcke mit klingender Münze getragen … Wieherndes Lachen schallte daher dahin. Plötzlich ängstliche Ausrufe des Schreckens über Verrath … Dann blinkende gezückte Messer, geladene Pistolen … er hörte fluchen aus einer Mischsprache von Holländisch, Deutsch, Jüdisch und Französisch … Nichts aber hatte sich unauslöschlicher ihm eingeprägt, als jener Schreckensaugenblick des Brandes, des Hülfejammerns, des Sprunges aus dem Fenster. Alles das stand noch oft vor seiner Seele und doch war es ihm schon lange, als könnte es nicht gewesen sein und wäre nur die mit der Wirklichkeit verwechselte Erinnerung einer Erzählung. Aber das Schreckenvolle dieser Erinnerungen wurde durch ein auch ihm eingebranntes Mal immer wieder neu bestätigt. Er erhielt dies Mal ein Jahr nach jener Flucht. Zwar hatte sie ein der Hehlerbande zugehörender Scharfrichter aufgenommen. Ein Jahr wohnten sie am Fuße eines Hochgerichts. Hier, wo die Gerippe todter Pferde im Hofe moderten, hier unter den abscheuerregenden Vorkommnissen des Abdeckens, hier unter den Zurüstungen von oft massenhaften Hinrichtungen lebten die drei Flüchtlinge, bis sie dem Scharfrichter zur Last fielen und von ihm der Regierung ausgeliefert wurden. Diese gab ihnen den Stempel und lieferte den ältesten zu Schiffe nach[298] Java; den zweiten gab sie nach Frankreich, wo sein Vater in Brest auf den Galeeren saß; den dritten gab sie einer zufällig in Rotterdam anwesenden Kunstreitergesellschaft. Auch diese Trennung von seinen beiden Gefährten war Terschka unvergeßlich. Der gutmüthige Franz Bosbeck weinte zwar nicht, wie er und Jean Picard thaten, aber er schied von seinen Pfleglingen mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes.

Wenzel von Terschka war von seinem achten Jahre an bis zum fünfzehnten Kunstreiter. Er kannte im allgemeinen seine Herkunft, sie wurde ihm sogar nach den Untersuchungsprotokollen und den Aussagen des Heyum Picard gerichtlich bescheinigt: aber noch lag die Welt in allgemeiner Kriegsnoth und eine Eroberung der Vater- und Heimatsrechte setzte damals, als Napoleon mit Oesterreich im Kriege lag, für ein unmündiges, so wenig empfohlenes Kind niemand durch. Halb Europa durchzog Wenzel von Terschka mit einer holländischen Kunstreitertruppe. Bald war der Knabe der Liebling der Gesellschaft des berühmten Jân van Prinsteeren und auch der Liebling des Publikums. Seine Behendigkeit und Gewandtheit übertraf alles. Im bunten Kleide auf dem Rosse, in Paris, in London, in den Seestädten erregte er Bewunderung, bis er einst in Amsterdam Unglück hatte und ein Bein brach …

Der große Völkerkrieg gegen Frankreich begann jetzt, die Truppe löste sich auf. Ein aus Java heimkehrender Schweizersoldat nahm den langsam Geheilten mit sich nach seiner Heimat, nach dem Canton Unterwalden …

Zu Stanz war es, am Vierwaldstättersee, wo 1816 für[299] die neue Befestigung der restaurirten italienischen Staaten schweizerische Mannschaft geworben wurde. Wenzel von Terschka, achtzehnjährig, nahm Handgeld von den römischen Werbern, die, wie dies für Neapel geschah, so auch für den Kirchenstaat, eine ansehnliche Truppenmacht zum Schutz für unzuverlässige, erst neu hergestellte Zustände zusammenbrachten. Als Lanzenreiter ging er nach Rom …

An Gelegenheit, sich auszuzeichnen, fehlte es dem äußerlich zwar unscheinbaren, aber mit einer wunderbaren Elasticität begabten Jüngling nicht. Seine Reitkunst übertraf alles. Auch Muth und persönliche Tapferkeit waren ihm nicht abzusprechen, obgleich seine Weise von der seiner fester und sicherer auftretenden überwiegend schweizerischen Kameraden abwich. Die Schweizersoldaten sind in der Fremde das volle Abbild der heimischen Cantonalzstände; ihre Mannszucht ist von einer unerbittlichen Strenge; der Verkehr der aus den alten Landesgeschlechtern gewählten Offiziere mit den Gemeinen ist ein streng geschiedener, das Hinaufrücken in höhere Stellen ein den letztern völlig unmögliches. Indeß wurde Wenzel von Terschka Instructor der Reitschule. Voll Unmuth über die Dienststrenge jedoch und von einem sein Gemüth durchwühlenden Ehrgeiz getrieben offenbarte er sich dem Geistlichen der Truppe. Dieser gehörte den Schweizern selbst als Feldprediger an und erwarb ihm keine Erhörung seiner Wünsche um höheres Avancement. In dem deshalb immermehr sich steigernden Unmuth verlebte Terschka auf dem schönen classischen Boden qualvolle Jahre. Die täglichen Uebungen auf der römischen Campagna, in der Sonnenhitze, auf den dürftigen, schon vom Rosseshuf so vieler Kriege und[300] Völkerwanderungen zerstampften und um jede Fruchtbarkeit gebrachten Heideflächen stimmten ihn oft zur Verzweiflung. Er versuchte den Uebergang zu den Truppen, die inzwischen von der päpstlichen Regierung selbst organisiert wurden; aber sein empfangenes Handgeld verwies ihn in die Reihen der Krieger, bei denen er nun einmal stand. Zuletzt reclamirte er seine Unterthanenschaft beim kaiserlich österreichischen Botschafter, durch dessen Kanzlei ihm auch die von ihm erbetenen Eröffnungen über seine in Böhmen befindliche Familie und sein mütterliches Vermögen zukommen sollten. Aber der strenge geregelte Gang des ganzen römischen Lebens, diese sich überall dort (wie in einem weitläufigen Palast, wo an jeder Treppe von Schildwachen uns eine strenge Zurückweisung wird, wo jede Thür ihre feierliche Aufschrift und ihr drohendes Wappen uns entgegenhält) beklemmend und angsterweckend gebende Geschäftsform verwies ihn immer wieder auf seine Kaserne, die nicht fern vom melancholischen Forum lag, unter den Trümmern der denkwürdigsten Vorwelt, nahe an jenen epheuumwucherten großen Thermen, die man nicht sehen kann, ohne an die grausamen Zeiten zu denken, wo unter dem Namen der Gladiatoren Hunderttausende in abgesteckten Lagern kostbar gemästet wurden, um als Fraß für die wilden Thiere oder, waren es Prätorianer, für den nicht endenden grausamen Krieg und die noch größere Grausamkeit der anstrengendsten Fußmärsche – von Indien nach Britannien zu dienen. Oft kam ihm unter den einsamen weidenbewachsenen Hügeln beim Fernblick auf die blauen Gebirge, beim Ahnen des hinter ihnen aufwogenden Meeres der Gedanke[301] an Selbstmord, an Flucht, Desertion; denn zuletzt schreckte ihn selbst der gewaltsame Tod durch die strafende Kugel nicht mehr.

Da erlöste ihn von einem ihm immer qualvoller werdenden Schicksal der Monotonie, der Abhängigkeit im Dienstzwang und des unbefriedigten Ehrgeizes ein neuer Unfall. Nicht das Bedürfniß nach Vertiefung seines regen Geistes war es, das ihm Augenblicke des wildesten Einsetzens seines ihm verhaßten Lebens gab; nur vorzugsweise der gebundene Ehrgeiz, nur die gebundene Leidenschaft tobte sich aus, als er zum zweiten male ein Unglück zu Roß erlebte und von einem für unbezähmbar geltenden Neapolitaner in der That abgeworfen wurde und für todt auf dem Platze blieb. Sein Wagemuth war durch Umstände herausgefordert, die fast an die Zeiten seines Kunstreiterthums erinnerten. Die Schweizertruppen hatten sich 1821 ausgezeichnet bei Unterdrückung der Aufstände des Montferrat und Piemont. Don Tiburzio Ceccone, der jüngere Sproß einer Familie der Nobili, war als Vorsitzender der Prevotalhöfe gegen die carbonarischen Verschwörungen in kurzer Zeit zur höchsten Würde, zum Cardinalat, gelangt. 1819 war er, wie eine dunkle Sage ging, wie Holofernes von Judith, so von einem fanatischen Bürgermädchen Namens Lucrezia Biancchi fast ermordet worden und 1823 saß bei einem Besuche, den der Allgewaltige der Reitbahn der Schweizer-Lanciers zur Anerkennung ihrer geleisteten Dienste machte, neben ihm ein Kind von vier Jahren, bildschön – wie es hieß, seine, »Nichte«, wie Andere sagten, sein eigenes, das Kind – jener Lucrezia Biancchi, die[302] noch im Kloster der »Lebendigbegrabenen« lebte … Neben beiden in angemessener Entfernung, nahe genug, um auf keine Anrede des stolzen, üppigleidenschaftlichen, noch jugendlichen Herrn im schwarzen Kleide mit den rothen Strümpfen die Antwort schuldig zu bleiben, saß, zwar nicht mehr in erster Jugendblüte, aber immer noch in der Schönheit römischer Imperatorenmütter und wie eine gekrönte Heroine die Herzogin von Amarillas, eine frühere Sängerin Fulvia Maldachini … Ringsumher saßen Würdenträger des römischen Hofes, alle auf einer mit bunten Teppichen belegten, mit Blumen geschmückten Estrade und den Reitkünsten der Arena zuschauend … Die Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen würde zu dem Anblick gesprochen haben: »Offenbarung Johannis 16: Und ich sahe das Weib sitzen auf einem rosinfarbenen Thiere und sie war bekleidet mit Scharlach- und Rosinfarbe und übergoldet mit Golde und Edelgesteinen und Perlen und hatte einen Becher in der Hand voll Greuel und ich sah das Weib trunken von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu« –

Wie anmuthig aber, wie freundlich, wie unschuldig machte sich das alles in der Wirklichkeit! Lachen und fröhliche Lust auf den Mienen, so rein wie der tiefblaue Himmel über ihnen, in dem nur wenige rosige Wölkchen wie kleine Montgolfieren schwammen! … Die Trompeten schmetterten … Das störte eine Nachtigall nicht, die in den Syringenbüschen nebenan sich einsam glaubte unter ringsum liegenden zertrümmerten alten Säulenschaften … Wie schwatzte man durcheinander! … Sorbetti[303] gingen im Kreise, die der Koch Ceccone's bereitete, dann und wann mit seiner weißen Tellermütze hervorlugend hinter einem improvisirten teppichbehangenen Verschlage … Terrassenartig stiegen rings die Hügel hinan und aus Villa und Kloster und hinter alten Tempelsäulen und Thermenbögen guckte die abgesperrte Neugier in das tieferliegende Bild der Arena, der schnaubenden Rosse und der Quadrille, die die besten Lanzenreiter ausführten auf Rossen, die zu tanzen schienen … Neue kleine goldene Scudis waren geprägt worden mit dem Bildniß des Stellvertreters Christi, zierliche kleine Halbdukaten, mit beziehungsreicher Inschrift aus der Reversseite für den neuen Triumph der Ordnung und des Glaubens … Eine ganze Büchse voll davon rüttelt die kleine Olympia, wie man die vierjährige Nichte nannte, und plaudert und plaudert, wieviel das Kriegsministerium jedem als buona manchia verabfolge, der die schöne Quadrille jetzt zu Pferde tanze … Kein Sirocco weht … Leichte milde Frühlingsluft nach langem Regen … Ein Duft ringsum, wie herübergefächelt aus den Gärten der Hesperiden … Und nun macht Ceccone sogar Witze und spricht, wenn die Rosse sich nicht nach Sitte aufführen, zu einem Mitglied des diplomatischen Corps – auch von Hesperidenäpfeln … Frägt dann rasch die Frau des spanischen Gesandten ihren Mann: Qu'est-il qu'il a dit? so citirt Eminenz selbst mit graziös lächelnder Miene und so, wie auch nur ein Cardinal lächeln kann, einen Vers – aus Guarini's Schäfergedichten …

Luft, Sonne, Licht, Farbe – Glück und Wonne ringsum – aber Wenzel von Terschka's Solo mislang[304] doch. Sein Neapolitaner war nicht so leicht gebändigt, wie die Revolution des Generals Pepe. Der kühne Reiter liegt auf dem Boden und alle halten ihn für todt … Dort herauf ragt das Coliseum, wo in solchen Fällen die alten Opfer ruhig aus den Schranken hinweggetragen wurden und der Römer gleichgültig zur Tagesordnung, einem neuen Kämpfer, überging. Ein Kreuz entsühnt jetzt die wilde Stätte und – was schuldigst du auch ewig nur Rom so ungebührlich an, du greise waldensische Herrin von Castellungo! – das Carrousel – hört auch hier sogleich auf … Man trägt den für todt Erklärten in das Ospizo de Benfratelli … Die halbe Büchse voll Paolis wird vorläufig sogleich für ihn allein bestimmt … Die andere Hälfte der buona manchia erhalten die andern ohne weitern Gladiatorenkampf … Die Herrschaften brechen auf und fahren von dannen … Ecclesia abhorret sanguinem »Die Kirche will kein Blut« …

Wie wurde der Instructor der Reitbahn bemitleidet! … Man erfuhr: Drei Rippen waren ihm gebrochen … das Uebrige zur Besinnungslosigkeit that die Erschütterung … Nun hörte man vollends noch, daß der Unglückliche einen adeligen Namen trug … Die besonderste Obhut nahm ihn in Schutz …

Drei lange, traurige Monate lag Terschka bei den Benfratellen und war endlich geheilt. Er erklärte, kein Roß mehr besteigen zu können … Er erbittet seinen Abschied und erhält ihn auch …

In der That schleicht er siech und elend in Roms Gassen am Stabe dahin …[305]

Aus Böhmen hatte Wenzel von Terschka die Kunde erhalten, daß die Verlassenschaft seiner Mutter schon vor Jahren in Concurs gerathen war, Brand hatte ihr unversichertes Eigenthum entwerthet … auch dachte er nicht mehr gern an Verwandte, die Bäcker waren. So voll Ehrgeiz steckte er, daß es ihn fast ärgerte, als der Laienbruder der Benfratellen, der ihn spazieren führte, an dem kleinen deutschen Friedhofe, der dicht an der Peterskirche liegt, sagte: Sehen Sie nur, Herr, fast alle Deutsche, die hier begraben liegen, sind Bäcker gewesen! Das Backen haben die Römer erst wieder aus Schwaben und Baiern gelernt! Alle diese alten Bilder an den Grabmälern sind deutsche Bäckermeister!1 ... Terschka sah kaum hinüber … Er blickte nur zu den Zimmern des Papstes hinauf, zu den Zimmern des Cardinals Ceccone, der im Vatican ein Stockwerk höher als der Papst wohnte … Den Priestern, die im Hospital dienen, erklärte er endlich, als er völlig geheilt war, mit zagender Schüchternheit, daß er wol Lust verspürte, in den geistlichen Stand zu treten …

Der Orden der Jesuiten war noch nicht lange wiederhergestellt und besonders zu ihnen zog es Terschka, da er sich die Kraft zu einem still beschaulichen Leben nicht zutraute. Er war nun fünfundzwanzig Jahre alt und hatte nicht viel gelernt, außer den lebenden Sprachen. Aber sein Geist war mächtig entwickelt gleich seinem Körper – er, der zwei Monate zu früh ins Leben gekommen! Sein Wunsch war ein Wagniß, das ihm mislingen[306] konnte; aber er zeigte sich listig. Er hatte den Muth, an die kleine Olympia zu schreiben und ihr in dem schnell erlernten Italienisch durch ein Sonett zu sagen: »Du süße himmlische Kleine! Sei mein Schutzengel! Erwirke mir die Sporen des heiligen Georg, die mich nicht wieder, wie irdische, im Stich lassen sollen! Ich will für dich beten bei Ignazius von Loyola, der ja auch ein invalider Krieger war und jetzt der Gottesmutter so nahe steht, hilf mir auch auf diesen Weg, du süßer Engel! …« Olympia, die Tochter jener Lucrezia Biancchi, die sich opferte, um den »Haß des Menschengeschlechts«, wie die Carbonari den obersten Richter der Prevotalhöfe nannten, zu tödten, hüpfte mit diesen Zeilen zur Herzogin von Amarillas, ihrer Erzieherin, ihrer Hofdame, wie man sagen konnte – Tiburzio Ceccone lebte auf fürstlichem Fuß und erzog das Kind der im Kloster der Vivi sepulti lebenden Mutter, die den Tod verwirkt hatte, wie sein eigenes – was gab es da nicht alles zu verschweigen und mit Schleiern zu bedecken! … Die Herzogin zeigte dem Cardinal Abends beim Thee die in leiblichen Versen vorgetragene Bitte des jungen Schweizerlanciers, der Cardinal mit seinem feurigen Cäsarenkopf lachte und Wenzel von Terschka, dessen Antecedentien man noch nicht vollständig kannte, klopfte eines – an die Pforte des Collegium al Gesu …

Kommt ihr niederwärts vom ehemaligen Capitol, laßt zur Rechten jene Kapuzinerkirche liegen, wo eine kleine hölzerne Figur, in die Gewänder eines Wickelkindes eingeschlagen, »Bambino« genannt, als Jesuskind gegen alle Anfechtungen des Lebens angerufen, ja[307] sogar aus der Kirche in Procession abgeholt wird zu Sterbenden oder zu Wöchnerinnen, so steht ihr an einem kleinen Platz vor einer Kirche, die die reichste in Rom, nicht die geschmackvollste ist … Die Façade, die innere Ausschmückung gehört der Kunstepoche Bernini's. Wagen über Wagen rollen bei ihren Stufen vor, Bettler in langen Reihen berühren die seidenen Gewänder der vornehmsten Damen und reißen den Eintretenden an der Thür große lederne Decken auf, die Vorhänge bilden. Drinnen empfängt dich ein mystisches Dunkel, Weihrauch, Lichterglanz, eine stickige Luft von Tausenden. Nirgends wird so laut gebetet, so sicher gesungen, so feurig gepredigt in Rom wie hier. Marmor und Gold sind verschwendet, Grabmäler stehen mit Statuen von großen Meistern geschmückt, kostbare Kapellen laufen ringsum; sie haben die bequeme Einrichtung, daß sie unter sich durch Thüren zusammenhängen und als trauliche Winkel dienen, in denen man hinter einem Pfeiler flüsternd verweilen oder einer im Schiff zu laut daherschallenden Kanzelrede in aller Stille folgen kann. Am östlichen Ende liegt eine kleine Ausgangsthür. Sie führt den Durchgehenden auf steinernem Fußboden in einen Nebeneingang – man sieht einen düstern Hof, in welchen Fenster eines großen todtenstillen Gebäudes hinausgehen, das sich dicht an die Kirche anlehnt. Kein Gefängniß ist es, obgleich die Fenster vergittert, ja theilweise mit Bretern vernagelt sind; es ist das Colleg der Jesuiten …

Terschka's Anmeldung wurde durch die Empfehlungen des Cardinals erleichtert. Ein Oberer empfing ihn, legte[308] ihm Fragen vor und – wiederholte diese Fragen noch einmal, nachdem sie schon beantwortet waren. Sonderbar, er fragte nach Dingen, die in vollem Gegensatz zu dem standen, was er ja soeben aus Terschka's Antworten gehört hatte. Sonderbar, dieser hatte gesagt: Ehrwürdiger Vater, ich hatte bereits bemerkt –! Ein andermal: Wenn ich schon gestand, keine todte Sprache zu kennen, so kann ich doch nicht Griechisch wissen –! Terschka ging … Der Obere nickte ihm freundlich nach …

Niemand ließ sich aber bei ihm wieder sehen. Er wohnte noch immer bei den Benfratellen … Er war vergessen … Wochenlang …

Tag um Tag verging … Terschka gerieth außer sich. Die Benfratellen klärten ihn auf. Der Obere hat Ihren Charakter prüfen wollen! Sie sind ungeduldig! Nur deshalb stellte er sich Ihnen vergeßlich und schwachsinnig, um zu sehen, ob sich bei Ihnen eine heftige Selbstständigkeit Ihres Wesens zeigen würde …

Terschka verstand jetzt das Benehmen des Obern. Voll Verzweiflung über sich selbst wollte er wiederum an die kleine Olympia schreiben … Thun Sie das ja nicht! hieß es allgemein … So geh' ich noch einmal zu dem Obern! … »Er wird Sie abweisen! Warten Sie in Geduld!« … Vier Wochen wartete Terschka. Dann rief man ihn in der That wieder … Er hatte »Geduld« bewiesen …

Ein anderer Oberer erschien und lobte Terschka, daß er sich beherrscht und nicht gemahnt hätte. Auch er fragte vielerlei und Terschka antwortete schon viel ruhiger[309] und mit größerer Vorsicht. Nur als der Obere sagte: So bleiben Sie denn jetzt gleich hier! und Terschka erwiderte: Ehrwürdiger Vater, ich habe erst meine Sachen zu ordnen! da veränderten sich die Gesichtszüge des Examinators … Wieder hatte Terschka nicht bestanden. Wieder hatte er einen andern Willen als man vorausgesetzt … Er ging, seine Verkehrtheit schon ahnend.

Und neue vier Wochen verstrichen, die er warten mußte!

Der Novize seufzte, aber er war schon demüthiger geworden. Sehnsüchtig ging er an dem Collegium vorüber, sah zu den Fenstern des riesigen Gebäudes auf; jede Wallung, anzuklingeln und sich in Erinnerung zu bringen, unterdrückte er und als man dann ihn endlich wirklich rief, schlich er ruhig und ergeben in das ihm angewiesene Zimmer …

Man gab ihm ein Neues Testament, den Thomas a Kempis und Rodriguez über die Gesellschaft Jesu. Er konnte kein Latein. Er mußte dies und alles ganz von vorn erlernen – in seinem fünfundzwanzigsten Jahre! Aber alle Besuche, die er von zwei zu zwei Stunden bald von diesen, bald von jenem Ordensgliede empfing, verließen ihn mit dem Zeugniß, das sie den Oberen ablegen konnten, der junge Noviz besäße Geist und seltene Welterfahrung. Außerordentlich schien er gefallen zu haben. Nach acht Tagen erhielt er ein gedrucktes Examen, das er schriftlich beantworten mußte. Er konnte es deutsch oder italienisch thun …

Schon in dieser Aufforderung zur vollständigen Darlegung seines Lebens lag für ihn ein Anlaß zu mancherlei Besorgniß. Sein Leben enthielt so gefahrvolle[310] Dunkelheiten! Das Mal am Arme! Sein erster Beruf war der einer schnöden Schaustellung seiner Person gewesen! Wie konnte er auf eine künftige Priesterweihe hoffen! Er verzweifelte; denn zum Erfinden von Ausreden und Verschleierungen der Wahrheit verlor er in diesen Mauern schon ganz den Muth. Fast war es ihm auch, als käme man hier am siegreichsten durch, wenn man sich in allen Lagen ein für allemal auf Gnade und Ungnade ergab und sich ganz so nackt und so bloß darlegte, wie man wirklich war …

Schon glaubte der Novize am Ziel seiner Wünsche zu sein, als er in dem gedruckten Formular auf eine Stelle stieß, wo es hieß, daß er sechs Monate noch außerhalb des Hauses der Gesellschaft leben müßte und erst sechs verschiedene anderweitige Proben durchzumachen hätte! Er traute seinen Augen nicht. Wieder ein halbes Jahr seines Lebens verlieren? Von jetzt an – es war zur Zeit der Sommermitte – bis zu Weihnachten wieder in einen halben Zustand zurückversetzt, wieder auf sich selbst angewiesen, auf die Unruhe und Ungeduld seines Herzens? Er hoffte auf Erlaß dieser Bedingung und glaubte an eine in diesem Statut nur so enthaltene und außer Uebung gekommene alte Förmlichkeit. Man holte dann das Blatt ab. Drei Tage vergingen. Schon nahm er am gemeinschaftlichen Mahle theil, schon hatte er sich manches einzelne Ordensmitglied, das ihm zusagte, herausgefunden, da wurde ihm mit freundlichster Miene angekündigt, daß er auf sechs Monate seine Zelle wieder zu verlassen hätte: einen Monat sollte er bei den Schülern des Collegium germanicum wohnen, einen Monat in San-Michele[311] Kranke pflegen, einen Monat sich als Wallfahrer kleiden und in Rom und auf zehn Meilen in der Runde seinen Unterhalt durch Betteln suchen; dann zurückkehrend sollte er im Collegium täglich einen Monat lang die Stuben reinigen und endlich in einer entfernten Kirche der Vorstadt Knaben in den Anfangsgründen der Religion unterrichten, im sechsten Monat sollte er allen Predigten beiwohnen, deren in den hundert Kirchen Roms drei oder vier täglich und zu verschiedenen Zeiten gehalten wurden und darüber Referate geben und bei allen diesen Proben zu gleicher Zeit auch noch die lateinische Sprache erlernen …

Aufschreien hätte Wenzel von Terschka mögen vor Verzweiflung, aber schon band er sein Bündel und schickte sich an, ruhig die Vorschrift zu erfüllen. Sein Auge blinzelte etwas; er hatte schon bemerkt, daß wie beim Opfer Abraham's der Wille hier manchmal für die That genommen wurde; er hatte schon bemerkt, daß man allmählich auch unter dieser strengen Disciplin abzuhandeln und abzumarkten versteht. Und in der That, man ließ ihn zwar aus seiner Zelle schreiten, wies ihn aber doch nur zwei Stockwerk höher, um ihn zu jenen deutschen Knaben und Jünglingen gelangen zu lassen, die in Rom zu Priestern erzogen werden. In dem mächtigen Gebäude war auch für diese Platz. Ein Rector empfing ihn, lächelte seines Alters, sprach ihm Muth zu und alles das in deutscher Sprache; Pater Xaver war aus dem Innviertel. Ein rothes Kleid mit einem schwarzledernen Gürtel mußte Terschka anlegen, wie seine Genossen. Um fünf Uhr mußte er aufstehen, das Sakrament in[312] einer Kapelle besuchen, dann in einer Zelle Betrachtungen lesen, sie auswendig lernen, hierauf zur Messe gehen und erst um acht Uhr ein leichtes Frühstück nehmen, zu dem dann noch Matutine und Laudes aus dem Brevier zu sprechen waren; so ging es von Stunde zu Stunde weiter bis zur neunten des Abends, wo im Nu sämmtliche Lichter des Hauses erloschen sein und alle Schüler auf hartem Lager sich dem Schlaf empfehlen mußten. So erst acht Tage lang. Dann aber wurden die Vorschriften leichter. Glückliche Hoffnung, die ihn beseelte, er würde die fünf übrigen Monate erlassen bekommen! Sie erfüllte sich theilweise und in erfreulichster Art. Er brachte sie sämmtlich bei den deutschen Jünglingen zu, deren Unterricht er zu theilen hatte. Schon die Scham, unter Knaben ohne Bart verweilen und Latein von vorn beginnen zu müssen, beflügelte seinen Lerneifer. Er, der das Leben schon in allem kannte, was der natürliche Mensch mit Ungestüm zu fordern pflegt – saß hier auf der Schulbank, doch sein Kleid und sein physischer Bau ließen ihn dabei wenigstens äußerlich so jung erscheinen, wie die neunzehnjährigen …

Seltene, aber glückliche Stunden waren es, wenn die rothgekleidete Schar in den ihr eigenthümlich angehörenden Weinberg wandern durfte, um dort einen Nachmittag, meist ballschlagend und wettlaufend zuzubringen. Dieser Weinberg lag nicht weit von seiner ehemaligen Kaserne, auf den Höhen des Monte Cölio, dicht an einer Kirche, die von außen die merkwürdigste, von innen die abschreckendste aller römischen Kirchen ist. Gerade den deutschen künftigen Priestern hat man die Rotunde[313] des heiligen Stephanus gewidmet, einen alten, sehr denkwürdigen Bau, der mit Bildern grauenhafter Art geschmückt ist. Ausschließlich scheint sie dem Martyrium gewidmet. Da liegt die vom Henker abgerissene blutige Brust der heiligen Agathe auf der Erde; ein Tiger krallt seine Tatze in das Fleisch eines nackten Jünglings; der heilige Hippolyt wird, mit seinen Füßen an flüchtige Pferde gebunden, dahingeschleift – es ist eine blutige Anatomie, eine Morgue, in deren Anschauung gerade die deutschen Jünglinge in Rom – Erholung finden müssen! Wahrhaft erquickend war dann der zuweilen gewährte Besuch in den Gärten des Heiligen Vaters auf dem Quirinal. Die blauen, gelben, grauen Jesuitenschüler erfreuten sich damals dieser Gunst noch öfter, als die rothen; jetzt lernt man auch die Bedeutung dieser rothen Jünglinge schätzen. Wie berauschend, wie ewig an Rom fesselnd, bei Sonnenglut in diesen herrlichen, haushohen, kühlen Boskets von geschnittenen Myrten zu wandeln und da Trucco, ein Kegelspiel, zu spielen! Unter dieser Fülle von Oleandern, blühenden Aloes und Cactus! Unter diesen zahllosen Orangenbäumen, deren Blüten die Luft mit berauschendem Duft erfüllen! Ringsum tobt und wogt das lärmende Rom, die Wagen fahren, die Brunnen schäumen – auf diesem hochgelegenen Hügel verbirgt sich hinter einer chinesisch absperrenden hohen Mauer, dicht an dem Palast der zweiten Residenz des Heiligen Vaters (der Lateran, die dritte, ist ein Stiefkind der Päpste geworden), ein Garten, geschmückt mit allen Reizen der Natur. So dicht gezogen und beschnitten sind die edelsten Platanen, daß es unter ihnen bei glühender[314] Mittagshitze kühl ist, Springbrunnen plätschern, die Lacerten schleichen unter den großen, bis zum Boden wuchernden Feigenblättern dahin, Marmortische und Sessel laden zur Ruhe in den erquickendsten Schatten, den jene zwei Stockwerk hohen geschnittenen engen Myrten- und Ligusterhecken hervorbringen helfen – sie sind in der Breite so schmal, daß man fast nur allein, nicht im Selbander durch sie hindurchschreiten kann. Hier reinigte die balsamischste Luft alle vier Wochen einmal die Brust vom erstickenden Schulstaub. Terschka, der Mann, der schon auf einer ansehnliche Höhe des Lebens Angekommene, der mit Erinnerungen schon für ein halbes Leben Ausgestattete, konnte hier eine Weile vergessen, daß er wieder zum Kinde geworden, konnte die marmornen Hermen bewundern, die rings von Epheu und Myrte umschlossen in den Boskets standen und oft Frauenbilder der alten Römerzeit von seltener Schönheit darstellten. Zwei dieser Hermen erklärte er in still unterdrückter, noch nicht abgeschworener Liebesglut für die Herzogin von Amarillas und das künftige Jungfrauenbild der Olympia. Sie sind noch jetzt von jedem zu finden vor dem kleinen Casino des Papstes, dicht in der Nähe der Treibhäuser, unter Gruppen von Aloes, zwei weibliche Köpfe voll Starrheit, Verwegenheit und jener Sphinxschönheit, die Terschka in seinem spätern Leben nur zweimal wiedersah, bei jener Angiolina in Dalmatien und bei Lucinden – unter den Offizieren in Kiel sagte er's damals …

Nachdem Terschka nach zweijährigen Studien ins Collegium wieder hinunterzog, gaben seine Generalbeichten mancherlei Anstoß. Sein vergangenes Leben[315] widersprach den Ansprüchen, die die Kirche an die Unbescholtenheit ihrer Priester macht. Sie duldet keine Entstellung des Rufes wie des Körpers, keine schwächlichen, krankhaften Gestalten, nichts, was irgendwie dem Makel der Welt verfallen ist und etwa dem Geist das Uebergewicht verleiht – auch Pater Sebastus hatte nicht die Weihen empfangen. Aber Wenzel von Terschka bot alles auf, sich Erhörung zu verschaffen und eine Vergessenheit der Jahre, wo er als Kind und Knabe unter Räubern und Gauklern lebte. Eine thatkräftige Natur muß zu einem Ziele, das sie sich einmal gestellt hat, irgendwie hindurch. Sie bereut vielleicht später die Anstrengungen, die sie machte, um des nicht befriedigenden Lohnes willen; aber den Werth des Lohnes, wenn man auch schon seine Geringfügigkeit ahnt, erwägt der nicht, dem eine Laufbahn Mühen macht und dessen Kopf voll Ehrgeiz steckt. Selbst den schon unbedingt gegen ihn entscheidenden Anstoß des Brandmals auf seinem Arme, das durch nichts hinwegzutilgen war, das jeder chemischen Beize, jeder blutigen Operation widerstand, überwand seine Geduld, sein inbrünstiges Bitten, zuletzt seine Intrigue; denn so unmöglich es fast war, außerhalb des Collegiums einen Briefwechsel zu unterhalten, Terschka übersandte wieder einen Brief an die Herzogin von Amarillas und dichtete wieder ein Sonett an Olympia Maldachini …

Die Kleine, die als Italienerin von fünf Jahren schon so entwickelt und willensstark war, wie eine Deutsche von acht, setzte ihrem heiligen Georg Schild und Lanze durch …

Die Väter lächelten und schienen eigenthümliche Pläne zu haben.[316]

Terschka erhielt die Sottane, den schwarzen Leibgurt, die schwarzen Strümpfe und Schuhe … sein Haupthaar wurde geschoren.

Ecco un nuovo fratello! rief eines Tages bei Tische der Novizenmeister den übrigen Novizen zu …

Gräfin Erdmuthens Ausruf hatte damals Recht gehabt … Terschka war Jesuit.

1

Thatsächlich.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 5, Leipzig 1859, S. 280-317.
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