21.

[236] Benno – Benno – mein brauner Zigeunerknabe!

Du, du also der Sohn des Kronsyndikus und dieser armen, betrogenen, bemitleidenswerthen Frau –! …

Du, der Bruder einer Angiolina, die das Schicksal in die wildesten Strudel warf und die die Gräfin von Salem-Camphausen werden kann, wenn ein ruchloses Gaukelspiel – – doch, doch nicht ganz misglückte …

»Was du auch in diesen Tagen von mir hören dürftest, ich war schwach« – »um der Liebe willen« – hatte der Onkel geschrieben –

Nein, Onkel! Das war die Liebe nicht, deren heiligste Forderungen du nicht verstandest! Das war ein Hohn, gesprochen den Gesetzen der Natur! Die Natur willst du preisen? Nur in den Sinnen findest du sie! … Onkel, Onkel, Theurer, dessen weiße Hand ich so gern küssen mochte, warum hast du uns das gethan! …

So tiefschmerzlich und zugleich hochaufjauchzend freudig rief es in Bonaventura's Innern, während auch nicht einer der Hörer die Menschlichkeit besaß, zu fragen:[237] Und was wurde denn nur aus jenem Bruder Angiolinens, der doch jetzt vielleicht siebenundzwanzig Jahre zählen müßte? … Sind euch die Sünden des Mannes, dessen Leben so grauenvoll da aufgedeckt liegt, so schon geläufig, daß nicht Terschka, nicht der Präsident, nicht der Provinzial fragt: Wo ist das zweite Kind? Der Sohn? Was wurde aus dem? … Hatte also Benno Recht, so oft er sprach: Alles das muß in den Beichtstühlen verborgen bleiben! …

Terschka, der glatte, jedem ausweichende, immer lächelnde Sendbote, der jetzt vielleicht sogar das Herz einer Armgart bestrickte – wie hält er so seltsam geheimnißvoll die Fäden aller dieser Wirren in der Hand … Er nennt vielleicht doch plötzlich Benno bei dem Namen, der ihm gebührt – Benno, dessen Ehrgefühl so krankhaft ist, wie Verdacht in der Liebe … Nimmermehr dürfen diese Schleier gehoben werden, ohne daß Benno es will … Nie, nie darf ihn dieser gräßliche Fluch seines Daseins überraschen auf dem Boden, auf dem er lebt … Erführ' er davon, er stürmte fort von diesem Schauplatz der Lüge, die selbst deine spätere liebende Sorgfalt, Onkel, nicht veredelte … Furcht war es, was dich bestimmte, Benno's Ursprung zu verbergen … Die Zeiten hatten sich geändert, der Onkel wollte das Stift Sanct-Zeno erhalten, wollte, mußte die Pflichten eines Dechanten üben, erinnerte sich, daß er jetzt den unbescholtensten Priester zu spielen hatte … Ohne Zweifel bat er den Bruder, der aus Spanien zurückkehrte, das Kind als sein eigenes mitzubringen – ohne Zweifel wurde deshalb selbst dem Kronsyndikus[238] jede Spur des Knaben entzogen – Ja man gab ihn für jünger aus, als er war … Benno ist älter, älter als du … Daher die größere Reife seines Verstandes … Alles, alles bot man auf, die Nachforschungen nach seinem Ursprung unmöglich zu machen … Immer wieder mußten sie auf jene Scene zurückführen, bei der ein jetzt in Amtswürden stehender Priester als Meßner einen leichtsinnigen Juden in der ehelichen Segnung unterstützte, einen Juden – der – dann ihn selbst getauft hatte … und in einer Segnung –

Hier verwirrten sich in Bonaventura die Vorstellungen … Kaum hörte er noch der weitern Vorlesung zu … Brachen doch alle diese Thatsachen auf ihn wie Blitze herein … Und dazu dann noch die Nachricht: Lucinde ist dir gefolgt! … Eine Kunde, die ringsum alles in Nacht verdunkelte …

Diese Conferenz fand statt in jenem Zimmer, in dem einst Lucinde und Klingsohr sich hatten finden und vereinigen sollen, um den Kronsyndikus zu schützen … Behagliche Wärme entströmte einem weißen Ofen … Die Sonne schien hell und mild durch die Fenster … Still war alles ringsum … Auf dem Tisch, um den die vier Männer saßen, stand Schreibzeug, lagen Federn und Papierstreifen … Terschka zerdrückte in seiner Ungeduld eine Federspalte nach der andern und kämpfte mit sich – seine Erinnerungen an das kanonische Recht nicht allzu sehr zu verrathen … Scheu blickte er zu Bonaventura auf, als wollte er sagen: Das weißt du doch, daß das Concilium von Trident zu einer Trauung zwar den Ortspfarrer oder dessen zugestandene Stellvertretung[239] und zwei Zeugen verlangt, daß es aber zum Stellvertreter sogar gestattet, einen noch nicht geweihten Priester zu nehmen? Das weißt du doch, daß das, was an einer Ehe das Sakrament ist, sich durch die Verbundenen selbst vollzieht und nicht im mindesten durch den bei allen andern Sakramenten als die Hauptsache vorwaltenden Priester? Das weißt du doch, daß sogar der Segen und alle Ceremonien bei einer Trauung an sich ganz überflüssig sind, wenn ein sich selbst einander die Ehe gelobendes und vollziehendes Paar nur einer Messe beiwohnt; ja daß auch eine Messe zwar gelästert und verunreinigt werden kann durch Misbrauch, aber dennoch ein Opfer bleibt, das, richtig ausgeführt, sich durch seine eigene Kraft vollzieht? Die von einem Priester im Stande der Todsünde gelesene Messe ist wirksam – wie sollte die von einem Juden in Priesterkleidern gesprochene einfache Segnung nicht wirksam gewesen sein bei einem Act, wo die heilige Mystik des Priesterthums wegfällt? … Hier fand eine Trauung ohne Messe statt, in einer Abendstunde, die sonst nicht Sitte, aber wiederum nicht hindernd ist … Endlich – schließt denn der Betrug, den man mit dem Pfarrer spielte, das gläubige und von Zeugen vernommene Ja! der Braut und des Bräutigams aus? Das Mysterium der Ehe liegt in denen, die aus sich selbst wie in Adam und Eva durch die Liebe ein Abbild der Menschheit wiedergeben wollen, nicht im ersten Priester des Paradieses, nicht in Gott, der sie zusammenthat; die Liebenden opfern durch sich, durch die Ehe Gott … In der Ehe empfängt Gott oder der Priester; beide geben nichts …[240]

Das alles sprach Terschka nicht ganz … So heimisch war er nicht mehr in den Prüfungen, die einst »Pater Stanislaus« zu bestehen hatte … Aber Bonaventura las es wie Ahnungen aus seinen Augen, er, der seinerseits allerdings so heimisch in diesen Anschauungen war, wie der Onkel Dechant – in den Wandgemälden Pompejis …

Der im Antlitz wie mit Purpur übergossene Präsident ersuchte den Provinzial weiter zu lesen …

Dieser that es – und in der That lächelnd:

»Eine Scene war es, die uns sogar selbst mit Schrecken überrieselte … Die nächtliche Stille in dem mondbeschienenen Walde … Die Klänge der Orgel … Wir kamen von einem Mahl, das Graf Altenkirchen gegeben hatte … Die Diener blieben zurück … Wir erklärten gegen Mitternacht, vom Kapellenthurm aus im Walde über die Baumkronen hinweg das Spiel der Mondstrahlen beobachten und eine Windharfe hören zu wollen, die über einen Durchhau der Tannen gespannt war … Bereits war ich selbst voraus und fand Leo Perl im Ornat, einsam in der Kirche auf- und abgehend und mit sich selbst redend … Wahrhaft schön sah er aus in seinem langen Kleide; die Stola, reichgestickt, hing über seiner Schulter … Graf Altenkirchen spielte die Orgel … Fulvia Maldachini wurde vom Kronsyndikus geführt … Baron von Liebetreu trug die Schleppe ihres Kleides … Sie schwebte dahin, wie Juno, als sie Zeus vor allen Olympiern zu seiner Gemahlin erhob … Bei ihrem Stolz und Glück hatte sie von allem kein Arg … Die Worte, die der Priester deutlich sprach: ›Willst[241] du diese gegenwärtige Signora Maldachini, Marchesina von Santalto, zu deiner Gattin nach Vorschrift der heiligen Mutter Kirche annehmen?‹ verstand sie nicht, aber den Gebräuchen paßte sie scharf auf … Der Wechsel der Ringe, alles erfolgte nach Vorschrift … Perl war so heimisch in dem, was er zu thun hatte, daß wir darüber erstaunten … Auch nicht eine Eigenheit des Ritus ging verloren … Wir gingen dann zum Schloß zurück … Scheu und in der That schon erschreckt von unserm Frevel … Die Windharfe, von goldenen Mondstrahlen beschienen, klagte geheimnißvoll über die Tannen herüber. Noch klang die Orgel hinter uns her; Graf Altenkirchen blieb bis zuletzt, um die Kapelle zu schließen … Wir hörten das Rascheln unserer Schritte auf dem grünen Wiesenplan, wo uns die Leuchtkäfer umglühten … Der Weg war nicht zu nah bis zum Schlosse … Glücklicherweise war die Italienerin in einer so überspannten Aufregung, daß sie uns alle zu sprechen zwang … Es ging französisch, italienisch, deutsch durcheinander; aber wir fanden erst allmählich den Ton des Scherzes wieder … Einer dann aber niemals mehr – Leo Perl« …

Der Provinzial hielt inne – um das Gericht Gottes zu bezeichnen …

»Der Freund«, fuhr er nach einer Weile fort, »hatte den Gedanken unsers Betruges, mein' ich, ganz ebenso leichtsinnig ergriffen, wie wir … Zusammengesetzt in seinen Principien aus Voltaire und dem Zufall, den die Kabbala lehrt, scherzte er über alles, was Plan und Absicht im Leben … In Alles müsse man sich blind werfen … Auch in die Ehe … Und lächerlich war ihm die Anmaßung[242] dieser Italienerin, die ›soviel Werth auf sich legte‹ … Er war eitel darauf, sich unsers Vertrauens zu erfreuen. Seine Lust an der Sache ging so weit, mit Befriedigung zu zeigen, wie vollständig ihm, einem Rabbiner, der Ritus unserer Kirche bekannt war … Was konnte ihm geschehen bei einer Mitschuld so bedeutender Namen! … Man setzte voraus, daß in Paris der Kaiser selbst lachen würde, erführe er den Betrug … Geld, glaubte man, würde ausreichen, den Handel, wenn er bekannt würde, niederzuschlagen … Da mußte uns denn freilich überraschen, daß wir plötzlich unsers fröhlichen Doctor Leo Perl's Spur verloren … Gleich nach der Trauung war er verschwunden … Mit sich mehrender Verlegenheit suchten wir ihn … Wir erschraken nicht wenig, als wir in Erfahrung brachten, daß er Christ geworden und noch mehr, daß er sich zu Witoborn im Seminar befand … Sofort eilte ich ihn aufzusuchen und hörte zu meinem Erstaunen, daß Leo Perl katholischer Priester werden wollte … Als ich mit ihm sprach, erkannte ich ihn nicht wieder. Scheu blickte er zur Erde und wich allem aus, was ihn an die Vergangenheit erinnerte … Sind Sie aus einem Saulus ein Paulus geworden? fragte ich … Es gibt viel Wege nach Damascus! war seine Antwort. Er deutete an, daß für ihn der Weg zur Erleuchtung über die Mondscheinnacht in Altenkirchen gegangen … Hat Sie der Frevel so erschreckt? fragte ich. Haben die Meßgewänder Sie zu unserm Ritus herübergezogen? … Er verrieth vollkommen, daß er sich hatte taufen lassen im Schauer über seine That,[243] im Schmerz um seinen Leichtsinn und wie von Christus selbst darum angeredet und ermahnt … Er sprach ganz wie Augustinus in seinen Bekenntnissen. Wie diesen sein künstlich sophistisches Redneramt mit Gewalt zum Ernste gezwungen, so geschah es ihm auch mit seiner falschen Rolle … Die Windharfe hätte ihm, sagte er, gerufen, was dem Redner Augustinus, als er unterm Feigenbaum in Mailand über sein stetes Lügen und rednerisches Prahlen weinte, die Kinderstimmen aus dem Nachbarhause: Nimm und lies! Nimm und lies! … Als ich seinen Entschluß lobte und ging, wollten Andere sagen, der Kronsyndikus, der die Entdeckung zu fürchten anfing, hätte ihn mit Geld bestimmt … So viel ist gewiß, daß er später seine erste Messe im Münster von Witoborn lesen mußte, nur damit die gerade anwesende Maldachini ihn sah … Mir gegenüber wollte Perl behaupten, die Ehe derselben wäre gültig … In unserm lebhaften Streit darüber unterbrach uns der Besuch seiner Verwandten … Eine Jugendgeliebte hatte Perl gehabt, an die er Briefe schrieb, wie Plato an Diotima … Er gestand zu, daß sie ein ganz einfaches Judenkind wäre, doch malte er sie sich wie ein hohes Phantasiegebilde aus, das er dann freilich desto leichter aufgeben konnte … Nun fingen die Verwandten an, ihn aufs heftigste zu bestürmen … Seine Schwärmerei war keine nachhaltige … Verstand und Phantasie wechselten von jeher bei ihm … Endlich erschien ihm eines Tages aus einem, seinem Zimmer im Convict gegenüberliegenden Hause am Fenster seine ehemalige Geliebte, geschmückt wie Esther, das Haar voll weißer Perlen und vom bräutlichen Schleier umwunden … War es Traum[244] oder Wirklichkeit, der Eindruck auf ihn wurde so mächtig, daß er zum Rector, dem spätern Bischof Konrad, eilte und sich ihm zu Füßen warf mit der Bitte, ihn wieder freizulassen; er könne nicht Priester werden … Der gute Rector war gern bereit dazu … Da aber soll der Kronsyndikus, Ihr Vater, dazwischengetreten sein, soll Leo Perl auf Neuhof entboten und ihn so in die Enge getrieben, ihn so eingeschüchtert haben, daß Perl ins Convict zurückfloh und wirklich Priester wurde … Gleich nach der Messe im Münster erhielt er durch Ihren Vater eine vortreffliche Pfarre … Seitdem sah ich ihn nicht wieder … Er verfiel in Hypochondrie, blieb ein einfacher Landpfarrer und zeitlebens von einem verschlossenen Sinn … Auch mich überschleicht Trauer und Wehmuth, gedenk' ich jener Tage … Um den Sohn der Fulvia, um Ihren natürlichen Bruder, tragen Sie keine Sorge! Er lebt in Verhältnissen, die zur Grausamkeit machen würden, ihn über seine Herkunft aufzuklären. Ohne Zweifel erhielt Pater Maurus Anweisungen aus Rom. Diese werden, denk' ich, nicht weiter gehen, als daß er die Wahrheit erforschen soll. Er hat Ihnen einen Bevollmächtigten der Ansprüche Angiolina's in Aussicht gestellt. Theilen Sie diesem von allen meinen Geständnissen, die ich vor Gott und meiner Ehre vertrete, so viel mit, als zu seiner Aufklärung nothwendig ist. Ich wünschte, es wäre ein Priester; denn scheue ich mich auch nicht, vor meinen Mitleviten zu bekennen, was wir täglich ausrufen sollen: Mea culpa, maxima culpa! so wünscht' ich doch, die Gräber blieben unaufgedeckt. Was auf ihnen blüht, blüht gesund und schön und ist es auch[245] Irrthum und Sünde – es ist! So unser ganzes Leben. Würde man Wahrheit pflanzen wollen, gedeiht sie – –?« … Noch kamen einige Worte des Grußes an Bonaventura und – an die Lauscherin … Das Bekenntniß war zu Ende …

Die Blicke aller Anwesenden waren auf Terschka gerichtet …

Terschka, zu Bonaventura's Schmerz kein Priester, sondern ein Laie, sollte jetzt sagen, wie weit seine Aufträge gingen …

Der Provinzial schien eine völlig neutrale Rolle zu spielen …

Terschka drückte eine der Federspalten, die er auseinander getrieben hatte, nach der andern wieder zusammen …

Während der ganzen Sitzung, die er durch seine Geistesgegenwart zu beherrschen schien, hatte sein Inneres keine Ruhe gefunden …

Wie – stand es mit ihm? …

Am Morgen der Jagd war er im Kloster Himmelpfort gewesen … Er fuhr dorthin voll äußerster Entschlossenheit … Er wollte sich von seinem Orden losreißen, wollte sich der Gräfin Erdmuthe anvertrauen, wollte sich in ihren Schutz begeben und die Rolle eingestehen, die er auf Roms Betrieb hatte spielen sollen und die durch seine Freundschaft für ihren Sohn gehindert wurde – er wollte die Confession wechseln – wenn anders der trunkene Taumel, der ihm zu allen diesen Entschlüssen den Muth gab, andauerte und andauern durfte, – das Entzücken über Armgart's Hingebung – Armgart's, die schnell, schnell erobert werden mußte vor – den Enthüllungen,[246] über die ihr Schaudern, hatte er einmal ihr Ja errungen – bei seinem Charakter zu spät kam … Den Widerspruch ihrer katholischen Gesinnung glaubte er, einmal im Besitz dieser Eroberung und mit Hülfe der Mutter, nicht ernstlich fürchten zu brauchen …

Vor drei Tagen hatte er Armgart nach dem Stifte Heiligenkreuz zurückbegleitet … Er mäßigte seine Leidenschaft und unterließ doch nichts, was den Wahn des bethörten Mädchens verstärken, ihren Entschluß, ihn durch sich selbst von ihrer Mutter abzuziehen, befestigen konnte …

Zitternd war sie an seiner Seite hingeschritten … Im Waldesdunkel, vom Reiz der Einsamkeit verführt, wagte er, zärtlicher ihren Arm zu ergreifen … Da erschreckte ihn der Mönch, der ihnen gefolgt war, Bruder Hubertus … Dieser gesellte sich zu ihnen, ließ sie nicht wieder allein, ja Armgart hielt ihn absichtlich, nur um nicht von einem Thurm, auf dem sie sich zu befinden glaubte, himmelhoch niederzustürzen … Armgart versprach zur Jagd zu kommen …

Sie wollte, verfolgt von ihrem Gelübde, sich besinnungslos in den Strudel des Lebens stürzen … Sie irrte dahin, nur um alles vergessen zu können, was sie ihrem Opfer zu Liebe that und thun zu müssen glaubte … Ein nicht erfülltes Gelübde! … Einst hatte sie aus Dank über eine Krankheit, die Paula bestanden hatte, Gott gelobt, funfzigmal an einem Tage die Antiphon Salve regina in deutscher Uebersetzung und einen Monat lang zu sprechen. Als sie diese Pflicht nachlässig betrieb, wurde sie sogar von Müllenhoff's mildem Vorgänger[247] als im Stande der Todsünde befindlich erklärt …

Terschka blieb die Nacht beim Verwalter des Stiftes … Die Furcht, der Mönch mit seinen Erinnerungen würde sich ihm aufs neue anschließen, bestimmte ihn, nicht sogleich wieder den Weg zurückzunehmen …

Am Morgen darauf mußte er zum Provinzial Maurus, dann zur Jagd … Er fuhr sich selbst mit einem Jagdwagen und jagte querfeldein wie ein von Furien Verfolgter … Wieder redete ihn auch im Kloster Franz Bosbeck an; wieder fragte er nach seinen Verwandten … Und wenn ihm der Lästige das Dreifache in Aussicht gestellt hätte von dem, was er für seine Erben in Bereitschaft zu halten erklärte, er würde ihn wild angeschnaubt haben: Gehen Sie nach Böhmen! Meinen Namen tragen dort Hunderte! …

Beim Pater Provinzial bebte er erwarten zu dürfen, daß er als Priester begrüßt, für etwaige Renitenz von den Vätern vielleicht selbst mit Enthüllung seines zweideutigen Ursprunges bedroht werden würde … Gefesselt an Leib und Seele folgte er in die Bibliothek …

Pater Maurus theilte ihm ein über Wien aus Rom gekommenes Schreiben mit, demzufolge er sich mit ihm verständigen sollte zur Beantwortung der Frage, die da lautete: Ist Angiolina Pötzl, wie sie von einer Theaterfamilie genannt wurde, die rechtmäßige Tochter der in zweiter Ehe sich Herzogin von Amarillas nennenden Fulvia Maldachini? Welche Umstände haben bei der Trauung derselben mit dem Kronsyndikus Wittekind obgewaltet? …[248]

Höchstes Erstaunen ergriff ihn beim Lesen der genaueren Motivirungen … Angiolina eine Tochter des reichen, vor wenig Tagen bestatteten Kronsyndikus! Eine Tochter seiner Gönnerin in Rom! … Hatte man das Interesse des Grafen Hugo für sein Pflegekind wahrgenommen und dem nachgeforscht? Warum das? … Graf Hugo war es nicht, der ihm die Frage stellte: Ist Angiolina eine mir ebenbürtig Geborene? … Rom fragte es, sein General!

Terschka hätte in der Stimmung, in die ihn die Furcht vor dem endlichen »Ablaufen seiner Stunde«, jetzt die Leidenschaft für Armgart versetzte, nichts gethan, den Vätern der Gesellschaft Jesu zu dienen, wenn ihn nicht die ganze Umgebung des Klosters und der lauernde Hubertus mit Furcht und Schrecken erfüllt hätte … Und Pater Maurus, als Inhaber der Beichte des Kronsyndikus, die er der darin vorgekommenen Reservatfälle wegen seinem General in Rom, dem General der Franciscaner, hatte zuschicken müssen, schwieg zu allem und schon mußte er Terschka mindestens für einen Affiliirten der Jesuiten halten …

So entschloß sich dieser, an einem der nächsten Tage auf Schloß Neuhof ganz im Interesse seines Freundes des Grafen Hugo und der schönen Angiolina zu sprechen …

Er machte die Jagd mit, umschwärmte Armgart mit seinen Huldigungen, begrüßte mit Vertraulichkeit und allen Beweisen seiner gewohnten Galanterie Lucinden, zeigte beim Brande, über den er kein Arg hatte, seinen Thateifer und kam auf Schloß Neuhof mit dem Schein einer völligen Unbefangenheit an … Er stellte sich, wie wenn der empfangene Auftrag ihm höchst lästig wäre und[249] er nur opponirte, um seinen Auftraggebern die unerläßliche Schuldigkeit zu thun …

Den Präsidenten brachten aber seine Aeußerungen über die Legitimität der zweiten Ehe seines Vaters in die leidenschaftlichste Erregung … Ueberhaupt hatte dieser die Relicten seines Vaters verwickelter gefunden, als er erwartete … Sein Ehrgefühl litt unter dem Ruf seines Namens schon lange und vollends gereizt war er über die Sprödigkeit, mit der man ihm und seiner Gattin hier entgegenkam … Bonaventura fand heute an seinem Stiefvater Gefallen … Fast betroffen war er von dem innigen Händedruck, mit dem ihn dieser begrüßt hatte … Die Anrede: Mein Sohn und Freund! war so aufrichtig betont, daß Bonaventura aufs lebendigste für ihn Partei ergriffen hätte, wäre ihm nicht – der Gedanke an Benno, der nun in wirkliche und nach seiner Ueberzeugung legitime Verwandtschaft mit ihm trat, zu bestimmend gewesen …

Terschka sagte auf die ganze Eröffnung des Onkels Dechanten mit einer spitzen und ironischen Betonung:

Ich bewundere den Muth dieser Geständnisse! Aber – die Ehe gilt …

Herr von Terschka! rief der Präsident voll äußersten Unwillens …

Gewöhnen Sie sich doch an diese Vorstellung! lächelte Terschka, Sie sollten Angiolina kennen lernen! Olympia in Rom –? Nein, da ist zu viel Kälte! Lucinde Schwarz hier –? Nein, da ist der Verstand zu zergliedernd … Ei, und ich versichere Sie, ich gönne es Angiolinen, zu erfahren, daß sie an Jahren älter ist, als wofür sie gilt …[250]

Das Fräulein von Wittekind bezaubert ganz Wien durch ihre Reitkunst! Ich weiß es …

Es war nur die Schuld Ihres Vaters, daß das kaum geborene Kind, dessen Alter, wie man in solchen Lagen gewohnt ist, falsch angegeben wurde – unter –

Die Gaukler gerieth! ergänzte der Präsident. Ich werde Sorge tragen, daß an Angiolina Pötzl nachgeholt wird, was versäumt wurde! …

Thun Sie das nicht, Herr Präsident! erwiderte Terschka … Fräulein von Wittekind entbehrt nichts, als ihren legitimen Namen … Sonst ist ausreichend für sie gesorgt …

Am wenigsten gönnen Sie ihr doch wol eine solche Mutter, die man bei ihrem Erscheinen in Wien mit einem Proceß auf Bigamie begrüßen würde! …

Sie kennen die Herzogin von Amarillas? fragte jetzt Bonaventura, um den Eifer der Streitenden zu mildern …

Als ich in der römischen Armee diente, sah ich sie oft und ich gestehe Ihnen gern, die Gründe nicht zu begreifen, die man haben kann, eine hochgestellte Dame mit diesen Nachforschungen zu beunruhigen – …

Diese Gründe sollten Ihnen unbekannt sein? …

Vollkommen! sagte Terschka und stutzte über einen wie Hülfe suchenden Blick, den der Präsident auf den Provinzial warf …

Bonaventura ahnte von Seiten seines Stiefvaters einen noch heftigern Ausbruch der mühsam unterdrückten Stimmung und warf ihm einen bittenden Blick zu … Die Hauptangelegenheit, das Austauschen der vor Jahren[251] stattgehabten Vorgänge war ja beendet; das Aussprechen der Legitimität der zweiten Ehe hing von einer Entscheidung der römischen Gewissensräthe ab … Ihn zog es nun nach Westerhof zu Paula, die nach dem schreckhaften Erlebniß dieser Tage seines Zuspruchs bedurfte … Und Benno, Benno war auf dem Schloß … Benno hatte die mit Terschka verabredete nochmalige Revision des Archivs, die jetzt einer neuen Anordnung gleichkam, auf heute Nachmittag anberaumt … Wie bebte er dem ersten Gruße des Freundes – nun Bruders entgegen …

Da wir unter uns sind, lieber Sohn, begann aufs neue der Präsident, dem Bitteblick erwidernd und das »unter uns« seltsam betonend, so will ich eine Vermuthung aussprechen. Ich gelte schon lange für keinen guten Katholiken …

Als hätte der Präsident das Erschrecken seiner lauschenden Gattin gesehen, verbesserte er:

Ich kenne wenigstens meinen Ruf … Die Regierung schenkte mir Vertrauen und ich habe als Patriot diesem Vertrauen zu entsprechen gesucht … Das Zeugniß kann ich mir geben, daß ich darum meine Religion ebenso liebe wie andere. Nur die Anmaßungen der römischen Curie zu beseitigen, lag in meiner amtlichen Stellung und auch hier verfuhr ich mit Ueberzeugung. Zum Kirchenfürsten ging ich, weil es meine Gattin wünschte. Ich habe ihm offen ins Auge sehen können. Wenn ich es nicht gethan haben sollte, war es, um einen Gebeugten nicht zu kränken. Wir gehören einem gemeinsamen Staate an, der die gegebenen Zustände schont, ohne sich den Verbesserungen zu verschließen. Wollte der Himmel, die[252] Nothwendigkeit der letztern würde nicht zu dringend! Verurtheilen Sie mich nicht, Herr Provinzial! Ich frage Sie – welch eine Institution ist allein schon unsere Beichte, die die geheimsten Athemzüge bis nach Rom vernehmen läßt! …

Ein Rauschen an der Wand verrieth den Schrecken der Gattin …

Erkennen Sie darin keinen Segen? erwiderte der Provinzial mit düster zusammengezogenen Augenbrauen …

Der Präsident beherrschte sich und fuhr fort:

Es ziemt mir nicht, Behauptungen auszusprechen, die ich nicht beweisen kann! So weit aber hat doch mein Amt mich in das innere Leben der Hierarchie einblicken lassen, daß ich vollkommen zu verstehen glaube, welche Zusammenhänge diesen Belästigungen meiner Ruhe und Ehre zum Grunde liegen. Sie glauben, ich würde nicht die Berechtigung der Herzogin von Amarillas, sich meine zweite Mutter zu nennen, anerkennen? Ich würde nicht meine Geschwister an mein Herz ziehen? Sie irren sich! Ich bin bereit dazu, wenn die Ehe wirklich nach bürgerlichen, allgemein gültigen, deutschen Gesetzen als richtig geschlossen gelten könnte. Sie kann dies aber nicht – und ich glaube nicht daran, daß auch irgend Jemand von den Betheiligten in Wahrheit interessirt ist, daß dies geschieht …

Nicht Angiolina, nicht Benno –? rief es in Bonaventura's Innern …

Oder glauben Sie, Herr von Terschka, daß Sie Instructionen erhalten werden, noch eine gerichtliche Untersuchung über den Vorgang, den uns in so edler Offenheit der Dechant erzählt hat, in Angriff zu nehmen?[253] Grell aufgedeckt, aller Welt bekannt soll dieser Vorfall werden? Was schrieben Ihnen darüber – die Jesuiten? …

Terschka bot alle seine Verstellungskunst auf, um auf dies leicht hingeworfene, doch alle erschreckende Wort lächelnd wiederholen zu können:

Die Jesuiten! …

Die Jesuiten! bestätigte der Präsident. Sie sind kürzlich wiederhergestellt worden. Sie sind schon mächtig genug. Aber die Macht des Ordens ist ihm noch nicht die alte. Die übrigen Orden wuchsen inzwischen in zu großer Autorität für ihn empor. Von den frommen Vätern des heiligen Franciscus droht allerdings seinem Ehrgeiz wenig Gefahr. Ihr General, Herr Provinzial, wird den Einblick in die Beichte meines Vaters verweigert haben; aber doch sind Sie angewiesen, die Bemühungen des Herrn von Terschka zu unterstützen. Ich weiß das! Bestreiten Sie es nicht! Die Dominicaner hätten es nicht gethan. Sie würden Ihnen, Herr Provinzial, geschrieben haben: Lehnen Sie jeden Beistand zu Untersuchungen ab, die den Jesuiten gegenüber eine bei uns niedergelegte Beichte compromittiren könnten …

Herr Präsident! wallte der Provinzial auf und blickte auf Bonaventura, der ihm beistehen sollte …

Ich klage Sie ja nicht an, Herr Provinzial! fuhr der Präsident fort und strich sich seine dünnen grauen Haare, als hätte er das Gefühl, wie sie sich unter seiner zunehmenden Erregung aufsträubten … Ich sage nicht, daß Sie heute überhaupt schon zu Herrn von[254] Terschka's Beginnen ein Ja oder ein Nein verriethen. Sie ließen ihn einfach gewähren. Ich will Ihnen aber nur Eines sagen, was Sie überraschen soll … In tiefstem Frieden über alles, was uns hier beunruhigt, lebt in Rom die Herzogin von Amarillas … Ohne Sorge rüstet die hochgestellte Frau sich zu einer Reise nach Wien … Cardinal Ceccone hat sich seit Jahren an sie und ihren Umgang gewöhnt – Olympia, seine – Nichte – Sie kennen ja die Sage über Olympia – beherrscht die römische Welt und beherrscht ihn und die Herzogin – Ceccone, wie uns Männern vom Regiment wol auf unsere alten Tage geschieht, ist der Inquisitionen und Dolche müde. Er hat das Seinige für die dreifache Krone gethan. Aus Furcht ist er sogar – Affiliirter der Jesuiten geworden – Und doch, doch thut er dem Orden nicht genug … Ceccone schließt Concordate, bekämpft die Revolution, bereichert den Index der verbotenen Bücher, verdammt Philosophieen und Glaubenssysteme, selbst die, die der Mutter Kirche ergeben sind, Ceccone läßt Donner und Blitz vom Vatican selbst über die neuen Eisenbahnen rollen – dem General der Jesuiten ist alles das noch nicht genug. Man erwartet, daß Ceccone nach Wien geht. Die Diplomatie und Staatskunst wollen den Frieden der Kirche mit unserm Lande vermitteln. Aber die Jesuiten nehmen diesen Augenblick wahr. Ihnen scheint er für Deutschland, für Europa entscheidend. Jetzt oder erst in einem Jahrhundert! So wollen sie den letzten Rest von Selbständigkeit, den sich der Heilige Vater noch durch seine nächsten Organe erhält, vernichten … Nur den Befehlen[255] des Al Gesù soll er folgen … Nur eine Politik, eine Diplomatie nach kirchlicher Autorität vertreten … Erst sollen Priester, Mönche, Bischöfe sprechen, dann Staatskanzler … So stechen sie jetzt dem Cardinal, einem alten Richter und Advocaten allerdings voller Weltlichkeit, in die Ferse durch die Drohung: Die Frau, ohne die du nicht sein kannst, die Frau, die der Deckmantel deiner zärtlichsten Fürsorge für Olympia ist, verfällt einem Schicksal, das sie und Olympia und dich selbst an den Pranger stellt; sie war die Gattin zweier zu gleicher Zeit lebender Männer! Wozu würde sich nicht Ceccone entschließen, wenn er solche Gefahren von seiner Ehre, von der Ehre der Frauen, die er schätzt und liebt, abwenden muß! Welche Dispense sind da nicht nöthig, um solche Verbrechen zu sühnen! Welche Schwierigkeiten vor demjenigen Theil des geistlichen Ministeriums in Rom, der sich mit den Herzens- und Heirathssachen von hundertunddreißig Millionen Kindern der Kirche beschäftigt! Erkennen Sie nun die Möglichkeit, wie zuletzt dem Staat über solche Intriguen die Geduld reißt! … Ich nehme von dem nichts zurück, was ich für die Freiheit der gemischten Ehen gethan habe …

Das Rücken des Stuhls, auf dem der Provinzial saß, übertönte ein fortgesetztes Rascheln, das an der Wand hörbar wurde und immer noch Niemanden auffiel … selbst nicht dem Präsidenten, der es ausdrücklich hören sollte …

Wie ergriff jedes dieser Worte Bonaventura im Hinblick auf die Empfindungen, die – darüber eben auch – seine Mutter hätte hegen müssen …

Terschka wagte nicht zu widersprechen … Vollkommen[256] von der Wahrheit dieser Enthüllungen überzeugt, sah er im Geist wieder seinen löwenmuthigen General, hörte die vor Jahren in Rom erhaltenen Anreden, sah den Feldherrnblick, der im Al Gesù das Nächste und Entfernteste vom kleinsten Menschen bis zum größten Staatenschicksal zu benutzen versteht …

Wohlan, fuhr der Präsident fort, ich bin beruhigt, wenn mir Herr von Terschka sein Ehrenwort gibt, vorläufig nichts weiter in dieser Sache zu thun, nicht in Witoborn oder sonst auf den Archiven verdächtigende Nachforschungen anzustellen, sondern vorläufig nach Wien oder – Rom hin zu berichten, daß dieser Handel von unsern Auffassungen und Gesetzen abgemacht und die Herzogin von Amarillas nicht die Frau von Wittekind ist …

Was nur lähmte Terschka die ihm sonst so geläufige Zunge und ließ ihn über die scharfe Betonung des Wortes: »Sein Ehrenwort« erschrecken? …

Der Präsident sagte noch einmal: Geben Sie Ihr Ehrenwort! …

Terschka schwieg …

Ihr Ehrenwort! Als Cavalier! …

Als Terschka auch jetzt noch sinnend niederblickte und schwieg, sprach der Präsident mit ergrimmter leiser Stimme:

Ich vergesse – – Herrn von Terschka bindet an die Obern das Gelübde des Gehorsams! …

Die Wirkung dieser Worte war mächtig …

Der Präsident erhob sich; alle andern blieben sitzen wie gelähmt … Terschka bleich mit halbgeöffnetem[257] Munde … Der Provinzial mit hoch aufgezogenen Augenbrauen … Bonaventura mit einer Ahnung, die im Hinblick auf – den ketzerischen Grafen Hugo im Nu – die volle Wahrheit erkannte …

Nehmen wir ein Frühstück, meine Herren! sprach im Gefühl seines wenigstens jetzt unwiderlegbaren Triumphes der Präsident und wollte, scheinbar unbefangen, vorangehen, um die Thür zu öffnen …

Die drei Priester waren zwar auch aufgestanden, blieben aber noch immer wie erstarrt stehen … Kein Wort kam von ihren Lippen … Das Wort des Präsidenten konnte für einen Scherz gelten – aber man erkannte zu deutlich – der Falsche, Abtrünnige, der »Segestes«, wie ihn sein Vater genannt hatte, war zu diesem Kampf wohlgerüstet erschienen …

Um die Vernichtung Terschka's, der, mit tausend Dolchen durchbohrt, sich am Stuhl zu halten suchte, zu mehren, ging der Präsident in leichtem, scherzendem Ton zu den Worten über:

Will Graf Hugo seine Güter hier selbst antreten, so würde er allerdings gut thun, sich erst in den Schoos der alleinseligmachenden Kirche zu begeben und Sie – Herr Pater Stanislaus, werden schon dafür sorgen …

Ein Einspruch gegen diese Worte, die nur wie ein ironischer Scherz fielen, war nicht möglich; denn schon hatte der Präsident geklingelt, schon traten Diener ein. Nicht lange, so erschien Frau von Wittekind. Man setzte sich zu Tisch. Der Präsident entwickelte eine Heiterkeit, eine Fülle von Kenntnissen, die ihn scheinbar zum Sieger über seine Gegner machte, trotzdem, daß er ahnte, wie[258] ohne Zweifel mit der Zeit zwei legitime Geschwister sich ihm zur Seite stellen würden …

Bonaventura brach früher als die andern auf …

Wie hätte er mit Terschka noch länger allein sein können …! Wie noch länger den Blick ertragen mögen, der in Terschka's Augen der der tiefsten Vernichtung war! …

Welche Enthüllungen! … Terschka ein Jesuit! … Abgesandt zur Convertirung des Grafen Hugo! … Und mit welchen Mitteln sollte er ihn bekehren … Mit welcher Kunst der Verstellung! … Bonaventura's Erschaudern über Rom konnte bei der einen Thatsache nicht verweilen, denn schon die andere verdrängte sie … Sah er auch im katholischen Sakrament der Ehe, das abweichend von den sechs andern, sich ohne den Priester, rein nur durch die Liebe vollzog, wieder seine vollen schönen großen Rosen in den Münstern glühen, was sollte er – mit Benno beginnen? … Sollte er ihn lind und sanft auf seine Jugendtage zurückführen? Auf einen Kronsyndikus als Vater! Auf eine in Rom unter Verhältnissen, die sich aller klaren Beurtheilung entzogen, lebende Mutter! Auf eine Schwester in zweideutiger Lebensstellung … Benno war, jetzt begriff er es ganz, älter, als man geglaubt … Wie auch anders konnte Benno in seinen Erinnerungen das Bild einer schönen Frau haben, die aus einer prächtigen Kutsche stieg und ihn so oft voll Schmerz und Liebe betrachtete! … Wer konnte dies anders gewesen sein, als die Frau, die eine rechtmäßige Geburt verbergen mußte und sicher den erlebten Betrug erst spät ahnte … Als sie in die allgemeine Flucht des westfälischen[259] Hofes gerissen wurde, blieb ihr kaum darüber ein Zweifel … Da sie die tiefere Kenntniß der ihr beistehenden Kirchenlehre nicht besaß, ergriff sie Furcht, Haß, Scham, sodaß sie nichts mehr vom Vergangenen besitzen mochte und in ein neues Lebensverhältniß trat, leichtsinnig genug vielleicht … Erst hatte Max von Asselyn, der aus Spanien zurückkam, Benno als seinen Sohn mitgebracht, dann erzogen ihn die Hedemanns, dann kam er in die Dechanei … Alles das war verabredet um des Dechanten willen, dessen Existenz von einer plötzlich streng gewordenen Censur abhing. Ein Zug der Natur war es, daß sich Benno so eifrig die Sprache seiner Mutter aneignete und oft Bonaventura selbst anfeuerte, sich in ihr zu vervollkommnen … Und neben Angiolina – neben einer zweiten Lucinde, neben einer in gewissem Sinne zweiten Rivalin Paula's – Graf Hugo liebte sie – dann noch Lucinde selbst … Zuletzt hafteten alle seine Gedanken nur noch allein an dieser … Gefolgt war sie ihm aufs neue … Ewig sie sein Schatten! … Auf Schloß Münnichhof, unter dem Schütze einer Frau von Sicking, wagte sie zu erscheinen … Nichts fürchtete sie von Klingsohr, nichts von allem, was Bonaventura über ihr Leben aus ihrer unvergeßlichen Beichte wußte … Es durchbebte ihn, gedachte er dieser Fessel seines ganzen Lebens … Das war sie und das blieb sie und – zum Hasse, zum glühenden Hasse Lucindens konnte er sich nicht einmal erheben … Nur fliehen mußte er sie … Wer weiß, ob sie nicht rücksichtslos auf Schloß Westerhof erschien, Paula sich vorstellte und die Schmerzen, die sonst die Leidende in ihrer[260] Nähe fühlte, erneuerte … Wie er im verschlossenen Wagen seines Stiefvaters dahinfuhr zur Ebene nieder, da war es ihm doch, als müßte Lucinde ihm nachfliegen, umschwärmt von Raben, mit einem Zauberstab auf die Brandstätte deutend als den Anfang all des Unheils, das sie ihm vorausgesagt hatte …

Indessen – auf den Feldern lag ein so milder Sonnenschein … Der Frühling fing an sich so mächtig zu regen … Die Wälder in der Ferne hatten in einer Nacht einen Schein bekommen, als trieben die Bäume schon ihre verjüngenden Säfte … Heller, hoher Mittag war es … In der Ebene mußte er den Schlag öffnen, um ganz die Sonne hereinzulassen …

Und wenn es ihm allmählich wurde, als müßte schon die Lerche seines Frühlingsliedes steigen, so war es, weil sich zuletzt doch siegreich nur noch allein Paula's Bild in milder Anmuth auf sein inneres Auge senkte … Das Gewitter in ihm verrollte … Nur noch einzelne Schläge, nur noch das Zucken seines Auges vor einem letzten Leuchten des Blitzes – dann zogen die drohenden Geister der Luft immer ferner dahin … Auch der innere Himmel blaute wieder und all sein Leben ruhte im Blick hinüber auf Westerhof …

Dennoch, dennoch klagten die innern Melodieen:


Muß ich es ewig sehn! In deine Locken

Flicht doch dereinst den Kranz die fremde Hand!

Der Myrte silberweiße Blütenflocken –

Doch schimmern sie dir einst aus fernem Land!

Unsterblich Loos, an Sterbliche gegeben,

Dich zu umfangen für ein ganzes Leben!
[261]

O lächle nicht zu hold! Du kannst nicht wissen,

Wie Lächeln wird zu Hoffnungdämmerschein!

Wie sich das Licht entringt den Finsternissen

Und hüllt die Welt in Rosenwolken ein!

Du ahnst es nicht, wie deinem Zauberworte

Zu sel'gen Träumen sich erschließt die Pforte!


Es kann nicht sein! Es soll nur still verhallen!

Wie Zephyrhauch am holden Frühlingstag!

Wie in dem Strom die stillen Tropfen wallen!

Nur wie die Knospe bricht im Rosenhag! …

Und rief's die Welt im Chor – Dennoch entsage!

Spräch' immer nur des Echos leise Klage – –


In Witoborn wurde Bonaventura von dem alten Meßner Tübbicke angehalten … Dieser bat ihn aufs dringendste, erst nach Sanct-Libori zu fahren, wo Norbert Müllenhoff plötzlich erkrankt war und das Bett hütete … Eben entbot er ihm einen Vicar und vielleicht, bat er, hätte der Domherr auch die Freundlichkeit, den Pfarrherrn in seinen Functionen zu unterstützen … Beichten, Messen, alles würde in Stocken gerathen, wenn die Krankheit andauerte …

Bonaventura mußte den Umweg über Sanct-Libori nehmen … Sonntag war vor der Thür, aber nichts erschreckte ihn mehr, als die Aussicht auf Beichthören … Er billigte als Aushülfe einen Vicar aus dem Seminar – aus demselben, aus dem einst Leo Perl gekommen …

An der Besitzung der Frau von Sicking brauchte er jetzt nicht, wie er gefürchtet, vorüberzufahren …

Den Pfarrer fand er in der That im Fieber … Müllenhoff behauptete, sich beim Brand erkältet und[262] über das Fräulein Benigna von Ubbelohde geärgert zu haben … In Wahrheit aber waren nur die beiden Wiegen, die vor seiner Thür gestanden hatten, der Anlaß seiner Krankheit … Wie der Gensdarm von der Schmeling zurückgekommen war und den ganzen Hausstand derselben geschildert hatte, auch die Anwesenheit des verunglückten Dieners auf Westerhof, auch die der Finkenhofer Lene und ihrer Umstände, da legte er sich ins Bett …

Der Geschäfte gab es für den Eiferer so viele … Gerade war der Kirchenconvent gekommen … Er kam, um Strafen zu verhängen, um die neue Tanzordnung für den Finkenhof zu ordnen, um den Jünglings- und Jungfrauenbund für die Ostern einzuleiten … Bonaventura mußte alle diese Neuerungen auf einen andern Tag verschieben … Müllenhoff, wie sich bei einer so markigen und kernhaften Natur erwarten ließ, wand sich in ungeberdiger Ungeduld auf dem Lager. Vor Aufregung und Erhitzung durch den Thee, den ihm die Kathrein zu trinken gab, sah er wie zum Schlag treffen aus …

Bonaventura sprach ihm zur Beruhigung … Besaß doch auch nur er diesen sanften Ton, der Herder's Behauptung widerlegen müßte, daß die Sprache von den Menschen erfunden ist … Diesen Ton, der tröstend zu den Leidenden spricht, der wie ein Balsamhauch über brennende Wunden fährt; den nicht die Zunge, den das Herz selbst einsetzt und gerade so einsetzt, wie der Schmerz seine Klage … Diesen allein tröstenden Ton, den ein Arzt hat, wenn er, ein weiser[263] Heilkünstler, in das Zimmer eines Kranken tritt … den ein Vater hat, wenn er ein' Kind an sein Herz zieht und es ermuntert nur ihm, ihm allein seine jungen Leiden anzuvertrauen, ihm allein die Erstlinge seiner Schmerzen zu opfern … Müllenhoff meinte zaghaft: Ich möchte Ihnen wol beichten! …

Bonaventura hielt dies Wort für ein Zeichen der Todeserwartung, für ein Begehren, schon die Sterbesakramente zu empfangen … Er bat den excentrischen Mann, sich nicht aufzuregen … So unterblieb das Abschütteln einer, wie es schien, drückenden Last …

Ein normirtes Vespergebet mußte Bonaventura im Stift Heiligenkreuz halten … Das war unerläßlich; – wer zählt die religiösen Pflichten, die sich an die Altäre der alleinseligmachenden Kirche auf Stunde und Minute knüpfen! … Kein Gotteshaus, und wär' es noch so klein, es hat seine Ordnung und seine bestimmten Tage, die nur ihm allein angehören … Geburtstage im Kalender der Heiligen (die Geburt eines Heiligen ist sein Tod) gibt es mehr, als Tage im Jahre … So reicht die Zeit kaum aus für die Reihe der Zeugen und Bekenner, deren Gedächtniß die Kirche feiert … Jede Diöcese besitzt ein Programm seines Kirchenjahrs, so festgeordnet auf Ort und Minute, wie die Astronomie die Constellation der Gestirne bestimmt …

Der Wittekind'sche Wagen blieb zu Bonaventura's Verfügung … Er fuhr damit nach Heiligenkreuz und hielt das Vespergebet zu nicht geringer Ueberraschung der Stiftsdamen … Gib Acht, du kommst nach Westerhof[264] und triffst schon Lucinden! … Dieser Gedanke verfolgte ihn … Lange aber hatte ihm eine einfache kirchliche Function so wohlgethan, wie heute nach allen Aufregungen dies stille Murmelgebet in der kleinen dunkeln Kapelle des Stifts …

Und das hätte dann allerdings den Damen behagt, wenn Bonaventura ihnen Beicht abgenommen … Sie hätten sämmtlich ihren gewöhnlichen Arzt, Müllenhoff, sofort aufgegeben und dem neuen von sich weit, weit mehr, als nur Fastengebotverstöße eingestanden … Wie »bedeutend« hätte sich jede in ihren Zweifeln und Beunruhigungen hingestellt! … Fräulein von Merwig, die »Anflickerin«, hätte ihren starken Geist gedemüthigt und ein Mittel gegen den Ehrgeiz begehrt, nur um zu verrathen, daß es Dinge gab, worauf sie ehrgeizig sein konnte … Fräulein von Absam hätte »Neid« in der Brust gehabt und damit verrathen, worauf ihre geheimen Sehnsuchten gingen … Fräulein von Tüngel-Appelhülsen, eines der jüngern Mitglieder, erst im Anfang der vierziger, hätte vielleicht eine Indiscretion gebeichtet, die beinahe wie eine Rache herauskam. Sie war eine Verwandte der Schwester Scholastika, Aebtissin der Hospitaliterinnen in Wien. Aber die Tüngel-Heides und die Tüngel-Appelhülsens wichen voneinander ab wie Tag und Nacht. Unbekannt mit diesem Unterschied ging Monika jene Portiuncula unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, ob sie nicht bei ihr mit fremdem Namen absteigen und in Armgart's Nähe einige Tage leben und sich ihrer Nachbarschaft einwohnen könnte, ohne daß sie es wisse. Und auf diesen Brief hatte das Fräulein geantwortet,[265] ganz so steif, ganz so beschränkt, wie ihrem Charakter entsprach. Monika hatte diesen Brief nicht vertrauenerweckend gefunden und nur noch kurzweg um Entschuldigung gebeten und ihre Hülfe abgelehnt. Aber – dumme Menschen sind immer gefährlich und gerade die klugen Leute machen dann auch noch gerade die dümmsten Streiche. Portiuncula hatte sich, aus Rache für diese Ablehnung, gestern Abend in ihrer ganzen Glorie gezeigt … Zu Armgart, die seit dem Brand in Westerhof blieb, hatte sie unter Kichern und zweideutigen Anspielungen, ganz im Geist des Stiftes, gesagt: »Na ja, Fräulein von Hülleshoven, jetzt kann ich Ihnen doch sagen, Ihre Frau Mama ist schon in Eschede! Sie wohnt bei Schönians. Die Müllern, die Angelika steckt sogar von Paris aus dahinter! Ja, und von da geht sie noch heute zur Frau von Sicking, und denken Sie! wer wird sie da eingeführt haben? Niemand anders, glaub' ich doch, als die Person, die mir mein ganzes Lebensglück ruinirt hat, Sie wissen ja – die Schwarzin! O, ich könnte in Neuhof die Erbin so gut sein wie andere! Aber, wenn Sie morgen Abend beim Thee in Westerhof sitzen, da passen Sie mal auf, dann ist die Mutter da und hält Ihnen die Augen zu! Sie hat sich mit Benigna hinter Ihrem Rücken ausgesöhnt! Und wollen Sie von Ihrem Vater hören, so müssen Sie – aber verrathen Sie mich nicht – zu Hedemann nach Witoborn! Lassen Sie doch Ihren Herrn von Terschka da anfragen – Freilich – bei Hedemann wohnen Herr von Asselyn und Herr de Jonge … Er – Sie Kleine, Sie fangen ja schon früh an! – –« Und nun kam alles so heraus, wie[266] es ist in der Welt, wenn der Mensch sich einbildet, sein Leben und sein Handeln wäre nur für ihn allein da; alle wissen davon und oft mehr, als wir …

Diese Beichten blieben jedoch aus …

Es war schon Abend, als Bonaventura in Westerhof eintraf …

Er fand das Schloß in eigenthümlicher Bewegung … Im Vorhause hörte er aufs lebhafteste sprechen … Die Diener standen in Gruppen … Fast übersah man das Anfahren seines Wagens …

Er achtete wenig darauf, da er sich schon erleichtert fühlte, nur kein Anzeichen zu sehen, das auf eine etwaige Anwesenheit von Besuch und wol gar Lucindens schließen ließ …

Herr Domherr! hieß es. Bisjetzt haben Herr von Asselyn auf Sie gewartet und Herr de Jonge … Beide empfahlen sich zur Rückreise und hätten Sie gern noch einmal gesprochen …

Benno schon zurück? …

Bonaventura hoffte, daß er ihn und Thiebold morgen noch in der Stadt fand …

Ueber Terschka erfuhr er, daß in der That dieser und Benno, Thiebold und der Onkel, wie sie gewollt, am Nachmittag das Archiv geordnet hatten …

Vom Hof aus leuchteten die Laternen, die, um Unglücksfällen vorzubeugen, die düstere Brandstätte erhellten …

Klingeln erschallten von da und dort …

Ist Paula – doch nicht – krank? dachte er bangend[267] und wagte nicht zu fragen, ob dies Klingeln und Laufen der Gräfin gälte –

Die Herrschaften sind alle oben! hieß es ungefragt … Und Herr von Terschka kleidet sich um … Und auch Herr von Hülleshoven …

Wozu umkleiden? dachte er …

Eine Kammerjungfer des Hauses eilte an ihm vorüber, blieb stehen und sagte:

Herr Domherr – Sie wissen doch schon? –

Sein Blick deutete das Gegentheil an …

Das Document – die langgesuchte Urkunde –

Eine Klingel zwang die Sprecherin, in Eile abzubrechen …

Bonaventura blieb wie mit einem Riß durch sein Herz … Indem stand ihm plötzlich Onkel Levinus zur Seite …

Da sind Sie! Nun, Domherr, sprachen Sie schon Ihren Vetter Benno? …

Was ist? …

Sie hörten doch? Die Urkunde ist gefunden! Beim Räumen des Archivs! Sehen Sie, so hab' ich mich umkleiden müssen! Vor Ruß und Brandgeruch! Auch Herr von Terschka! Ein Wunder ist's! Staunen Sie nur! Unbegreiflich! Aber Sie wissen doch, die Urkunde, der zufolge Graf Hugo nicht erben soll, wenn nicht die Religion stimmt! Paula bleibt die Erbin! Darüber ist jetzt kein Zweifel …

Bei allen Heiligen –

Wunderbar! Aber kommen Sie! Sehen Sie das[268] Document! Wir fanden es mitten unter den geretteten Papieren …

Schon stand Bonaventura in der geöffneten Thür des großen Vorsaals … am Weihwasserbecken … Besinnung hatte er nicht, sich zu benetzen … Die Gruppe, die sich seinen Augen bot, ließ auch nichts anderes aufkommen, als zunächst den Gedanken: Paula stirbt! …

Beleuchtet von Kerzen, die Diener und einige Mädchen in die Höhe hielten, stand Paula mit einer Pergamentrolle in den Händen, leichenblaß, Wachsfarben, wie ein Cherub des Himmels und wie schwebend im Chor der Seligen … Armgart, zu ihr aufsehend, hielt sie in Andacht und Schrecken … Die Tante Benigna hielt sie ebenso mit ihrer Rechten … Paula las zwar, aber ihr Auge stand starr und wie gebrochen … Die Worte: »Vorbehaltlich daß die jüngere Linie meinem Beispiel folgt und bis dahin in den Schoos der alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrt ist« standen wie mit Geisterhand aus ihrer Stirn zu lesen … Onkel Levinus sprach diese Worte … Und nun trat Bonaventura ein … Da erlosch Paula's Auge ganz … Ihre Kniee wankten … Mit einem Hauch des Schreckens verging ihr die Kraft, sich zu halten … Ohne Bewußtsein lag sie in den Armen der Hinzuspringenden, die sie nebenan auf ein Sopha trugen …

Wie mit Donnerton wollte Bonaventura rufen: Aber die Urkunde ist ja falsch! … Doch auch ihn entwaffnete der Anblick derselben. Er kannte so viele solcher alten Urkunden. Diese trug die Spuren ihrer[269] Echtheit unverkennbar … Das Pergament war zermürbt, mannichfach zerbrochen, altersbraun … Die Buchstaben der Handschrift im steifen Kanzleigeschmack der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege … Während Paula nebenan ins grüne Zimmer getragen wurde, erzählte der Onkel die Art des Fundes, die Ueberraschung Benno's, die Zweifel Thiebold's, seine eigenen Untersuchungen …

Aber Terschka? fragte Bonaventura außer sich …

Betroffen – natürlich – erschüttert – Es ändert sich vieles – wenn nicht – …

Alles! rief Bonaventura …

Der Onkel bestätigte dies … Sonst hörte er nichts und sah nichts, als die wahrscheinliche Geschichte der Urkunde … Er bewies an den Brüchen des Documents, wie dasselbe zwei Jahrhunderte lang an der hintern Wand eines Schubfachs hätte müssen eingeklemmt gewesen sein … Er hatte das Siegel der Dorstes nie in so richtiger Prägung gesehen … Drei Sterne fand er wieder, die gerade Maximilian von Dorste zuerst in das Wappen des Hauses einführte … Er bewunderte die damalige Schreibart einiger Dorfschaften, die zu den gräflichen Gütern gehörten … Längst von ihm geahnte Ursprünge derselben sah er jetzt bewiesen …

Paula blieb inzwischen auf dem Sopha; Armgart kniete vor ihr und barg thränenvoll ihr Haupt …

Tante Benigna sagte halb bangend, halb von ihrem Standpunkt schon freudestrahlend:

Eine große Wendung! Paula – die Herrin des Ganzen! Das steht nun fest und bleibt unwiderruflich …[270]

Und auf ein Wort, das sie eben von den Rücksichten der Etikette beginnen wollte, trat Terschka ein, in schwarzen Kleidern, in völlig veränderter Haltung gegen sonst, bleich wie der Tod …

Die Augen Bonaventura's wagte er nicht auszuhalten …

Er verbeugte sich und blinzelte auf alle Umstehenden von der Seite, während er aufs neue die Urkunde ergriff …

Wie oft hatte man sich aus Wien bereit erklärt, sich ihr unterwerfen zu wollen, falls sie gefunden werden könnte und überhaupt je ausgestellt wäre … Es handelte sich um eine veränderte Stellung aller der Fragen, die bisher Rück vertreten hatte. Es handelte sich um die weitere Erbfolge, die eine völlig verschiedene wurde, wenn sie von Paula als Herrin ausging, als wenn von der jüngern Linie. Blieb Paula die Besitzerin, so hatte auch die weibliche Linie der Dorstes Erbrechte und da ergab sich auf diese Art nicht nur der berechtigtste Antheil drüben in der Person des Präsidenten auf Neuhof, durch diesen in Bonaventura selbst, sondern auch für viele entfernter wohnende Angehörende … Gerade von dieser Seite aus war schon lange und besonders durch den Kronsyndikus wie eine felsenfeste Nothwendigkeit die Convenienzregel hingestellt worden, daß, wenn Graf Hugo nicht mit dem Erwerb dieser großen Güter, weil er nicht katholisch wäre, durchdränge, doch Gräfin Paula dann seine Hand annehmen müßte, um ihn und die jüngere Linie von ihrem tiefen Verfall emporzubringen … Ein solcher Receß, wie er nun jetzt eintrat,[271] gestattete Paula nicht die freie Disposition über ihr Eigenthum; Vettern und Muhmen und Kirche und Landschaft nahmen an den Pacten einer Ehe theil und legten die mannichfachsten Beschränkungen der vollen Besitzergreifung auch für Paula auf … Paula, die darum aber doch die reiche Erbin blieb und höchstens aus freiem Willen, aus Hinopferung ihrer Hand etwas für die jüngere Linie thun konnte – für den Grafen Hugo, den Lutheraner, den Freund Angiolina's – den Freund des Freifräuleins von Wittekind, der Schwester Benno's! – Paula erhielt an die Freiheit ihres Willens Berufungen, denen wenigstens jetzt ihre Kraft nicht gewachsen war … Alles das übersah Bonaventura voll Schrecken und Wehmuth …

Terschka erklärte mit scheinbarer Ruhe und mit einer den Onkel und die Tante wohlthuend berührenden Mäßigung nur seine Ueberraschung zu diesem Schicksalsschlage … Seinen unbedingten Glauben an die Urkunde verweigerte er nicht …

Er erwähnte die Anstalten, die er getroffen hätte, sofort durch einen Courier nach Wien die neue Wendung wissen zu lassen, die man jedenfalls – er verbeugte sich gegen Paula – hoch in Ehren zu halten hätte …

In seinem Innern kämpften die Entschließungen, die er fassen sollte … Seine irrenden Augen suchten Armgart, die die ihrigen verbarg …

Die Beichtworte, die Bonaventura von Hammaker und Bickert gehört hatte, lauteten auf »Feuersbrunst« und »falsche Urkunde« … Ein Wie? ein Wo? und Wann? hatte er von keinem von beiden erfahren können[272]  … Vielleicht hatte er in der That diese beiden Geständnisse in eine zu rasche Verbindung gebracht mit den Scherzreden Benno's bei jenem Abendspaziergang am Ufer des Stroms, die gelautet hatten: »Die Kunst, in alten Lettern auf Pergament zu schreiben, ist in unserer Stadt heimisch« … Konnte er auch eine Wendung, die zunächst eine scheinbare Glückswendung für Paula war, so ohne weiteres auf diesen seinen Verdacht hin als ein Werk des Betrugs erklären? … Wie er Terschka lesen und lesen sah, kam ihm sogar der Gedanke: Hat wol gar, in falscher Freundschaft für den Grafen Hugo, ein Jesuit dies Verbrechen gefördert – fördern müssen – in majorem Dei gloriam? … Reißt man Paula mit Gewalt zu dem Mann hinüber den sie in den Schoos der Kirche führen soll und – führen wird! … Sicherte man sich in Rom zwei Magnete zur Bekehrung: Paula – und Angiolina? …

Paula erholte sich und ihr Auge suchte Bonaventura. Sie wollte den Rath der geliebten Stimme hören …

Den Rath – des entmannten Abälard – an Heloisen …

Die Aufregungen des Onkels, der Tante dauerten fort …

Benno, der bisjetzt kaum von der Tante genannt wurde, erhielt plötzlich von ihr die höchste Anerkennung und Thiebold de Jonge verschwand. Eine Neigung zum Skepticismus, die Thiebold beim Anblick des wunderbaren Fundes und beim dadurch bedingten Rückgängigwerden seines Waldankaufs verrathen hatte, verdächtigte ihr Thiebold's Gemüth, sogar seine Grundsätze …[273] Die Tante sprach kein Bedauern aus, daß der junge sonst so liebenswürdige Herr von Jonge heute und nun für immer fehlte …

Bonaventura verließ endlich das Schloß, dessen Bewohner sich nicht sammeln konnten …

Terschka schien zögernd mit ihm sprechen zu wollen … Er entriß sich ihm voll Grauen …

Wie die Nebel um ihn her aufstiegen, wie rings alles in ein undurchdringliches Dunkel sich hüllte, so umnachtet in seiner Seele schritt er dahin und fast den Weg verfehlend …

Erst die Glocken von Sanct-Libori wiesen ihm die rechte Straße … Sie läuteten schon seit einigen Tagen auf die kommende Fasten-, Leidens- und Osterzeit …

Aber in seinem immer tiefer und schwerer belasteten Innern griff das Kirchenjahr schon weiter hinaus – schon zum Tag der Verklärung und der Himmelfahrt:


Ostern! Ostern! Dein Erwachen

Führt nur himmelwärts den Nachen

Aufwärts aus der Erde Noth! –

Ach, zu tödlich ist der Tod! – –

Wer entronnen seiner Truhe,

Sucht auf Erden nicht mehr Ruhe.


Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 6, Leipzig 1860, S. 236-274.
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