11.

[322] Im Leben der Seele ist es eine eigene Erfahrung, daß sie in Momenten ihrer höchsten Anstrengung Erleuchtungen wunderbarer Art erlebt.

Wie vorhin Lucinde in schwindelnder Angst das Lachen eines Theaters hörte, wie hundert Vorstellungen vom Schicksal Klingsohr's, dem zerstörten Plane seiner Flucht, ihrer eigenen Gefahr, dem nun gewissen neuen Herabsturz von der Höhe, auf der sich ihr Lebensschicksal befand, ja der sofortigen Gewißheit, ein Opfer Nück's zu werden, ihr Inneres fiebernd durchliefen, sah sie plötzlich nichts weiter vor sich, als den Tag, wo sie im vorigen Jahre den St.-Wolfgangberg hinauffuhr, die Stunde und den Moment, wo der Knecht aus dem Weißen Roß am Fuß der Maximinuskapelle vor ihr herging und lauernd von dem Begräbniß des alten Mevissen in St.-Wolfgang sprach.

Denn als sie aus der Thür auf den Corridor hinausgespäht hatte, fiel gerade der Schein der von dem Knecht hochgehaltenen neu wieder angezündeten Laterne so grell auf seine Züge, daß sie im Moment des Hinausschlüpfens[323] sich sagte: Das ist ja jener Knecht, der den Sarg erbrochen hat! … Ebenso schnell wußte sie den Namen Bickert und ebenso schnell baute sie auf diese Entdeckung, deren Wahrscheinlichkeit wuchs, einen Plan der Rettung.

Noch schien man, mit der Verhaftung Klingsohr's beschäftigt, ihrer nicht wieder gedacht zu haben. Von Secunde zu Secunde, wo sie es wagen zu dürfen glaubte, machte sie einige Schritte weiter zu einer nächsten Thür, an die sie sich andrückte. Glücklicherweise waren diese Zimmer ohne Bewohner. So lebendig es auch inzwischen im ganzen Profeßhause geworden war, so zahlreich am entgegengesetzten andern Ende des Corridors Neugierige aus den Zellen kamen und einer gewaltsamen Abführung des Paters Sebastus mit Staunen zusahen, in ihrer nächsten Umgebung blieb es still. Schon war sie an einer Stiege angekommen, die einen Stock höher ins Dach, hinunter ins Erdgeschoß führte …

Eben zögert sie, ob sie den letztern Weg wählen soll oder nicht, eben sieht sie Klingsohrn aus seinem Zimmer schreiten, barfuß, barhaupt, ohne andere Habe, als die Kratzer, in ein Bündel zusammengelegt, hinter ihm herträgt; da scheint plötzlich die ganze Aufmerksamkeit von fünf Menschen zu gleicher Zeit auf die Erinnerung an sie allein gerichtet zu sein …

Das Herausschreiten aus der Zelle Nr. 16 war nun schon ein Suchen nach ihr …

Die Worte: Noch ein Bursche war da? Wo? Wann? Noch eben hier? Niemand ist doch hinausgegangen! schollen durcheinander. Das Offenstehen der zweiten Thür[324] wurde ebenso schnell als Zeichen heimlicher Entfernung erkannt und nun war sie schon mit behendem Fuß die abwärts führende Treppe hinunter …

Die nachkommenden Schritte, das Suchen der Rufenden hörte sie, als drohte ein Welteinsturz … Herr von Enckefuß gebot mit lauter Stimme, alle Ausgänge zu besetzen … Ihr klang es wie Todesurtheil. Der Commissär fing an, rasch nacheinander alle Klinken der oben liegenden Zellen niederzudrücken … Wie ein laufendes Gewehrfeuer klang es … Kratzer's Ehre war im Spiel. Klingsohr hatte versichert, daß der Bursche nicht mehr bei ihm war.

Lucinde lag an die Mauer gelehnt. Ein kalter Schweiß trat auf ihre Stirn … Die Stiege brachte sie offenbar vollends ins Verderben, denn unten war der Raum abgeschlossen. Die einzige Thür, die in ein Souterrain führte, wich keiner der Anstrengungen, die sie machte, sie zu öffnen. Sie mußte zurück, mußte ihren Verfolgern in die Hände fallen …

Schon hörte sie Schritte und mit Verzweiflung warf sie sich wieder auf die Vorstellung: Käme jetzt der Knecht! Wär' es wirklich jener Bickert! Könnte, müßte er dich nicht retten? … Er trägt die Schlüssel! Ich höre sie klirren! Oeffneten sie vielleicht diese Thür? …

So stand sie mit glühenden Augen, krampfte sich mit der einen Hand an die Lehne der Treppe und blickte von der untersten Stufe empor, um, wenn wirklich der Knecht kommen sollte, ihn mit der andern festzuhalten. War er es, schaffte er nicht Hülfe, so riß sie ihn mit ins Verderben …[325]

Ja, die groben Fußtritte des Knechts waren es, die immer näher kamen … Er fluchte und tobte laut, lachte, schien seine Dienstbereitwilligkeit im allerglänzendsten Lichte zeigen zu wollen …

Lucinde kämpfte vor Spannung und Furcht gegen ein Ohnmächtigwerden …

Geh' nach unten! rief Kratzer … Hanne! Hanne … Ich suche oben! Licht!

Auch die Hanne antwortete mit einer lauten Lache …

Der Commissär versicherte dazwischen, seinen Augen trauen zu dürfen … er hätte Niemanden hinausgehen sehen … Glücklicherweise klang diese Stimme noch ziemlich entfernt …

Nahe aber, ganz nahe sprach in dem landesüblichen, fast künstlich betonten und Lucinden nicht geläufigen Dialekt der Knecht des Profeßhauses fortwährend durcheinander. Sie verstand nur: Hier vielleicht! Da! Im Ratzenfange! … Dann tappte Jemand die Treppe niederwärts und ringsum verbreitete sich ein Lichtschimmer …

Lucinde ließ, jetzt sich ergebend, den Feind näher kommen, immer näher … sie machte sogar ein leises Geräusch, nur um ihn vollends niederwärts zu locken. Auf diese Art brachte sie ihn dicht an die verschlossene Kellerthür.

Wie er jetzt triumphirend vor ihr stand, jauchzte ihr Herz auf, es war ihr kein Zweifel mehr: Es war der Leichenräuber! Derselbe halb verschmitzte, halb stumpfsinnige Ausdruck des Antlitzes! Dieselben lauernden Mienen, wie damals unter dem Nußbaum, als Bonaventura die Grabrede sprach!

Ha, ha, ha! lachte der Ankömmling grell auf …[326]

Aber mit dem Rufe: Bickert! sprang sie dem sich zu einem Triumphgeschrei, das alle herbeilocken sollte, eben Anschickenden entgegen …

Da hielt der Mensch inne … Schon der Anruf seines Namens entsetzte ihn …

Dieb! Leichenräuber! Kennt Ihr mich nicht mehr aus St.-Wolfgang? fuhr sie mit tonloser, aber energischer Stimme fort …

Der Verbrecher taumelte zurück … Er erkannte auch die Verkleidung ...

Geht hinauf! fuhr Lucinde mit unterdrückter Stimme, doch fest und bestimmt fort. Sprecht, hier wär' ich nicht! Oder ich rufe laut Euern Namen, Euer Verbrechen! Ich reiß' Euch mit ins Verderben! Fort!

Der Mensch taumelte wie angedonnert zurück und stammelte helllaut hinaus ein wiederholtes:

Da – ist – niemand! Da nicht – da ist niemand –

Nun hörte man die Stimme des Assessors, hinter ihm den Ruf des Commissärs:

Ist denn also unten ein Ausgang?

Bewußtlos halb vor Freude, halb vor erneuter Furcht sank Lucinde an die Kellerthür und halb auf den Fußboden zurück. Sie wußte nicht mehr, wo sich halten ...

So lag sie einige Secunden ...

Daß dann Schlüssel rasselten, hörte sie … daß eine Thür aufflog, daß sie plötzlich von tiefster Finsterniß umgeben war, daß sie die eine Hand ausstreckte, um sich zu halten und nur die Thür wieder faßte, die ebenso schnell wieder zugedrückt und geschlossen wurde … alles das[327] war ein einziger bewußtloser Augenblick. Erst das Gefühl, der nächsten Gefahr entronnen zu sein, rief ihr die entschwundenen Lebensgeister zurück. Sie hätte aufjubeln mögen vor Freude, aber auch sich ausweinen in Thränenströmen vor Jammer der Seele, von den Thorheiten ihres Herzens getrieben, sich in solche Lagen gewagt zu haben …

Rings um sie her blieb alles dunkel und still …

Eine dumpfe, feuchte Luft wehte sie aus der Tiefe an …

Bei einigen Schritten, die sie, sich langsam erhebend und behutsam tastend, versuchte, bemerkte sie, daß sie sich beim Anfang niederwärts gehender steinerner Stufen befand …

Daß sie vor der nächsten Gefahr, in ihrer Verkleidung erkannt zu werden, jetzt geborgen war, schien ihr bei der Verschmitztheit Bickert's fast gewiß zu sein.

Wie aber, wenn sie nur der einen Gefahr entronnen war, um einer andern entgegenzugehen? … So in diesem Dunkel und im Beginn jener unterirdischen Gänge, von denen sie so oft gehört hatte, kam sie durch eine nahe liegende Gedankenverbindung auf die Vorstellung des Lebendigbegrabenwerdens. Sie sah sich selbst in jenen Leichentüchern, die einst ein Räuber entweihte, den gerade ihre wühlerische und unruhige Phantasie verführt hatte, in ihnen Schätze zu suchen. Wie, wenn sie der Verbrecher, der die Entdeckung fürchtete, aus Rache, mindestens aus Furcht nicht mehr ins Leben zurückließ? Wenn sie ohnmächtig und vergeblich an dieser Thür rütteln müßte? Wenn sie hier den Tod der Verzweiflung sterben sollte, schon am Ende ihrer – die dunkelste Zukunft ihr schon immer zu bergen scheinenden Lebensbahn?[328]

Eine Gefahr des Augenblicks konnte Lucinden ganz beherrschen, wie jedes andere zagende Weib. Hatte sie aber Zeit, sich erst auf eine Gefahr zu rüsten, so lag völliges Verzweifeln nicht mehr in ihrer Natur. Auch gleich das Schlimmste festzuhalten war nicht auf die Länge ihre Art, wenn auch sogleich im ersten Schrecken höhnisch alle Dämonen sie anlachten, die im Benehmen der Menschen gegen uns und noch mehr in den Situationen, namentlich für die, die nicht das beste Gewissen haben, liegen können. Sie malte sich aus, was draußen geschah. Man wird mich vergebens suchen, die Polizei entfernt sich mit Klingsohrn – das Bellen der Hunde hörte sie – Kratzer wird Befehl erhalten, die Haussuchung fortzusetzen, Bickert wird meine Entdeckung fürchten und vielleicht mein Bundesgenosse werden, vielleicht aber auch …

Wieder befiel sie Furcht …

Unter der Blouse war sie glücklicherweise warm gekleidet. Kühl fühlte sie sich nur angeweht, so lange sie erhitzt blieb. Ihre Stirn trocknete sich allmählich, sie gewöhnte sich an die Luft, die sogar über die steinernen Stufen von unten her wärmer heraufströmte. Schon entdeckte sie, daß man etwa mit acht Stufen im Beginn eines ausgemauerten Raumes war, der auch noch einen andern Ausgang haben konnte; denn unten umhertastend fühlte sie wiederum neue Stufen. Es lag hier jene Oeffnung, die in den Hof ging. Ein scharfer Zugwind, der aus einem entgegengesetzten Winkel kam, schien auf andere Oeffnungen zu deuten. Vielleicht begannen dort die Gänge, die, wie man sagte, fast unter[329] der ganzen Stadt hinliefen und in jenen Palast mündeten, in welchem einst die hohen Kirchenfürsten, als sie noch souverän waren, oft von ihren eigenen Unterthanen belagert wurden. Jetzt waren diese Gänge theilweise verschüttet, doch nicht ganz. Ein Zusammenhang sollte noch immer z.B. mit dem »steinernen Hause« des Herrn Maria statthaben, auch hie und da eine Thür sich befinden, die in Kirchen und geistliche Wohnungen führte.

Alles das stand gespenstisch vor der Phantasie der ungeduldig Harrenden …

Sie stieg die Stufen wieder hinauf, die an die von Bickert verschlossene Thür führten …

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, als sie endlich Geräusch vernahm … Es waren die Schritte eines Mannes, der sich vorsichtig näherte … Die Thür wurde aufgeschlossen … Auch ohne Licht sah ihr an die Dunkelheit inzwischen gewöhntes Auge ihren – fraglichen Retter vor sich stehen.

Eine Weile erst wie prüfend sie anstarrend bedeutete er sie, jedes Geräusch zu vermeiden … Im Hause wäre alles im Glauben, sie müßte sich irgendwo versteckt haben. Wenn sie nicht um Mitternacht, bis wohin er wiederkehren würde, von einem näher von ihm bezeichneten Fenster an einer Strickleiter hinuntersteigen wollte, würde sie erst am folgenden Tage entfliehen können, wenn vielleicht Kratzer ausginge und Frau Hanne in der Küche beschäftigt wäre. Das Hausthor wäre bis dahin heute verriegelt und der Schlüssel von Kratzern selbst schon abgezogen worden … Ein Steigen über[330] die Mauer war der wachsamen Hunde wegen nicht möglich …

Nimmermehr! rief Lucinde. Ich muß fort! Fort! Sogleich!

Sie erbebte bei dem Gedanken, wie sie ihr Ausbleiben im Kattendyk'schen Hause entschuldigen sollte …

Bickert, der plötzlich eine ganz andere, auffallenderweise mit französischen Brocken gemischte Sprache redete, als vorhin und als sie auch auf dem St.-Wolfgangberg von ihm gehört zu haben sich erinnerte, Bickert erklärte, dann wäre kein anderer Ausweg möglich, als hier durch die unterirdischen Gänge … Die Schlüssel hätte er, sagte er … Wollte sie, so könnte er sie an die nächste Oeffnung führen, durch die sie vielleicht ins Freie käme … Mais – nun wandte er sich mit einer drohenden Geberde, ergriff ihren Arm und sah ihr mit aufgerissenen Augen ins bleiche Antlitz …

Seid ruhig! antwortete sie. Rettet mich und ich schwöre Euch Verschwiegenheit! … Dann wiederholte sie, wie sehr sie Eile hätte … Schaudernd blickte sie in die Tiefe, die sie wie ein Grab anstarrte …

Fürchten Sie sich nicht! wiederholte Bickert. Aber schwören sollen Sie mir unten am Muttergotteskreuzweg, daß Sie mich nicht denunciren!

Am Muttergotteskreuzweg? wiederholte Lucinde …

In einer guten halben Stunde sollen Sie so gut naß werden, wie jetzt jeder andere draußen – schon wieder regnet es –

Lucinde bemerkte erst jetzt, daß sie bei all diesen Momenten des Schreckens ihr völlig unbewußt sowol den[331] alten Regenschirm, der Veilchen gehörte und leicht eine Entdeckung hätte herbeiführen können, wie die Druckermappe krampfhaft in den Händen festgehalten hatte …

Bickert wollte wissen, wie sie zu dem Pater käme, und lachte höhnisch und zweideutig … Aber bei alledem gingen sie schon vorwärts … Er voran …

Lucinde nahm die Frage nach dem Pater nur insoweit auf, als sie sich erkundigte, was mit ihm geschehen wäre …

Sie haben ihn au collet genommen, sagte Bickert, sie haben ihn in den Wagen gesetzt, monsieur le commissaire nebenan und so um die Stadt herum! Ich denke, sie fahren ihn in sein Kloster zurück, von wo er hergekommen. Pst! … unterbrach er sich selbst, blieb stehen und horchte auf, als wenn sie gestört werden könnten …

Lucinde hielt sich an der feuchten Mauer …

Ich will Ihnen lieber etwas zu soupiren bringen, sagte er nach einer Weile; und auch einen alten Mantel … Sie werden Angst kriegen vor – vor – und bleiben die Nacht lieber hier –

Wovor Angst? Nimmermehr! hielt ihn Lucinde zurück … Ich fürchte nichts!

Bickert untersuchte seine Schlüssel und tastete vorwärts … Mit einem Streichhölzchen machte er Licht und zündete eine kleine Laterne an, die er aus der Tasche zog … Rings sah man, wie in einem Bergschacht, nur feuchte Wände; doch konnte man bequem und aufrecht stehen …

Inzwischen ging Bickert wieder voran … Lucinde folgte klopfenden Herzens …[332]

Plötzlich hielt er inne und sagte mit fürchterlicher Drohung: Mais –: Wissen Sie, daß Sie mein Verderben ganz allein gewesen sind?

Lucinde wich entsetzt zurück …

Sie haben mir's in den Kopf gesetzt … o mon Dieu! Ich war auf einem so räsonnablen Wege …

Fast die Zähne knirschend stand er mit geballter Faust vor ihr …

Lucinde blieb starr und sprachlos …

Ein Gefühl der Erlösung sprach sich erst in einem laut ihr entschlüpfenden Ah! aus, als Bickert im Gehen fortfuhr:

Und das Beste ist, der Pfaffe aus St.-Wolfgang ist hier, und ich komme neulich in seinen Confessional und sag' ihm alles. Ich selbst! Sapristi!

Lucinde hörte nur, ohne zu verstehen …

Aber ich erhielt mon fait! Ich hatte in Frankreich zwanzig Jahre Galeere! Warum blieb' ich nicht räsonnabel!

Lucinde blieb hinter dem entsetzlichen Menschen zurück. Sie überlegte, ob sie folgen konnte …

Courage! Courage! rief er. En avant! Das erste mal hatt' ich auch noch keine Courage! Die Ratz meinen's besser als sie aussehen! Stoßen Sie sich nicht! Warten Sie! Das Licht brennt méchant!

Lucinde war ohne Athem. In kurzen fiebernden Schlägen klopfte ihr Herz. Sie sah, wie Bickert die Gläser seiner Diebslaterne heller putzte … Und der Mauerspalt wurde immer enger und enger …

Ihrem Pater, au prisonnier, hab' ich auch einmal hier den Weg gezeigt – Wenn der jetzt wüßte, daß[333] Sie – Figurez vous! Ich beichte dem Pfarrer und habe versprochen, ihm alles, was ich damals auf dem Kirchhof aus dem halben Geripp herauswickelte – zu schicken! Qu'avez vous?

Ein Schrei des Schauders entfuhr – aus doppeltem Anlaß – Lucinden …

Bickert blieb stehen …

War's eine? lachte er …

Er meinte eine Ratte … Schon hörte man ein Huschen und hastiges Dahinspringen …

Worauf tritt man denn hier ewig? fragte Lucinde, wieder über eine andere Erfahrung erbebend …

Der Führer beleuchtete den Boden …

Das war gut! sagte er. Da liegen sie! Tous crevés! … Nehmen Sie nur nichts mit von dem Biscuit, das hier auf dem Boden liegt! Die dicken Kerle, messieurs les rats, haben gedacht: Das legen wir noch zurück für ein andermal! Die Ratz sind hier immer satt … weil es todte Katzen und Hunde genug hier gibt …

Lucinden war es, als athmete sie Gift und Pesthauch aus der Luft … Jetzt blieben ihre Vorstellungen haften bei dem Gedanken an die »Frau Hauptmännin«, an Hammaker, an das Schaffot, an Nück's grauenvolle Rede …

Die Wanderung durch einen kaum drei Fuß breiten und sechs Fuß hohen Gang glich in jeder Beziehung dem Besuche eines Bergwerks. Die Wände oben und zur Seite waren gemauert, aber so feucht, daß sie von Schimmel und Schnecken bewachsen waren. Der Boden unten war festgetretene Erde, aber schlüpfrig zum Ausgleiten. An Stellen, wo die Decke eingestürzt war,[334] mußte man über die Trümmer hinweg und den Kopf bücken. Die Luft war schwül und giftig, sodaß die Wanderer sich wol Muth durften einflößen lassen durch die zuweilen von Mauersteinen hervorgebrachte Form des Kreuzes, vor dem auch Bickert regelmäßig sich verbeugte …

Wenn wir nur erst an die großen Keller kommen, rief er, so haben wir bessere Luft!

Dabei lärmte und polterte er fort und fort und huschte vor sich hin. Diese Vorsicht galt den Ratten, die auf die Art vor ihnen hergejagt wurden …

Die Ueberzeugung, der Verbrecher vertraute ihrer Verschwiegenheit und hätte nichts Uebles im Sinn, gab Lucinden Muth und schon nahm sie ihr Erlebniß von seiner abenteuerlichen Seite. Ihr jedesmaliger Aufschrei, wenn sie auf ein Opfer des kürzlich gestreuten Giftes trat, wurde beiden schon zur Unterhaltung …

Der Gang erweiterte sich und zeigte an einigen Stellen runde, stark vergitterte Oeffnungen. Eine derselben war so groß, daß man in einen Keller sehen konnte, in den Bickert hineinleuchtete …

Da, sagte er, da möcht' ich manchmal die Eisenstangen ein wenig poliren – er meinte feilen – Sehen Sie die großen Fässer! Die gehören Monsieur Moppes. Ich glaube, sie werden aufgespart für die Gerechten beim Jüngsten Gericht!

Lucinde kannte Herrn Moppes junior, seinen Humor und seine vortreffliche Stimme. Noch gestern hatte im Kattendyk'schen Hause sein Genius geleuchtet … Welch ein Unterschied der Situation! Gestern sie mit ihm im Salon[335] und heute – sein Name ihr hier gesprochen unter der Erde! … Auch des Stephan Lengenich gedachte sie … Sie folgte mit beklommenem Athem …

Jetzt kamen die Stellen, die schon lange Veranlassung gegeben hatten, diese Gänge theilweise zu verschütten. Sie kreuzten sich auf eine gefährliche Weise mit den Kanälen der Stadt. Schon war vorgekommen, daß diese oberhalb sich hinwegziehenden Rinnen durchgebrochen waren und die tiefer liegenden Gänge überfluteten. An diesen Stellen befanden sich Stützgerüste und doch rieselte es von oben herab, ja Bickert sagte, daß man bei großen Regenwettern bis ans Knie im Wasser stünde, von dem man dann weder wisse, wo es herkäme, noch wie es abflösse …

Der Weg durch die Stützbalken konnte den Beherztesten erbeben machen. Man mußte sich hindurchzwängen mit Gefahr, eine der Palissaden einzureißen. Dabei waren die Moppes'schen Keller noch nicht zu Ende …

Eine Ermuthigung lag in dem Anblick einer kleinen uralten Gottesmutter, die in der That an einer Stelle, wo der Gang sich in zwei Theile spaltete, in einer Mauernische stand. Bickert beleuchtete sie mit der Laterne. Er schien nicht die Empfindung Stephan Lengenich's zu haben, daß dies alte Steinbild Lucinden glich … Und doch hatte in einem Punkt der alte Geisterseher Recht … In dieser schauerlichen Einsamkeit war der Anblick des wohlerhaltenen alten Steinbildes wenigstens wirklich, als wenn man ihm Leben hätte zuerkennen müssen. Die Augen, der Mund, die Stirn unter dem weit über sie hinfallenden Schleier hatten auch eine gewisse Aehnlichkeit mit[336] Lucinden. Das Kind auf dem Arm der kleinen Figur schien wie lebendig, ja wie sprechen zu können. Lucinde fühlte selbst, wie mächtig der Eindruck war, der einen Räuber bestimmte, hier die Mütze abzuziehen, die Laterne auf den Sims der Nische zu stellen und den steinernen Saum des Kleides der hier in dunkeln Grabesgrüften wie mit Bewußtsein wachenden Gruppe zu küssen …

Dann bekreuzte er sich und ließ Lucinden näher treten …

Wenn ich damals auf dem Cimetière in St.-Wolfgang, sagte er, diese hier im Sarge gefunden hätte, wäre ich schon früher zur Erkenntniß gekommen … Es ist mein Fluch, daß ich Bickert heiße, eigentlich Picard, Mademoiselle! Das ist die alte Chochemfamilie, die ihre Vettern am Galgen hat paradiren sehen, la bonne famille de Damian Hessel und manchem andern da oben am Hundsrück! Sie haben alle den Schwur gehabt, nie Blut zu lecken, und doch sind sie durch die Luft und mit dem großen französischen Balbiermesser aus der Welt gegangen. Ah! Ah! … Nun treiben sich die Enkel und Nachkommen umher, haben sich auch umgetauft, wie mein Vater selig schon, der mit fünfundzwanzig Jahren travaux davonkam und mich heilig machen wollte wie einen Kanonikus. Aber es liegt im Blut und erst die da – sehen Sie, jetzt wird sie sprechen! – Die da sagt mir immer hier unten, wo mich die alte Jeanette unterbrachte – eine Connaissance von meinem Vater selig – Picard! Picard! sagt sie, dein Großvater war zwar ein Jude, aber in deiner Großmutter Dina Jakob und Rebekka, ihrer Schwester, war Stolz;[337] beide haben auch darum, aus Eifersucht und Rache, selbst ihre Männer an den Galgen gebracht. Vom Großvater und vom Großonkel hast du's, daß du noch immer den Hahn nicht krähen hören kannst, ohne an Brecheisen und Rennbaum zu denken! Aber nimm dich zusammen, Picard! Komm zu mir, so wird es gehen und du wirst noch Rathsherr werden in Gröningen, wo deine Ahnen wohnten!

Lucinde hatte einen Augenblick der Ruhe nöthig … Sie lehnte sich an das Marienbild und hörte den Worten des Räubers schauernd zu … Auch ihr sprach das Bild …

Das Wunder belebter Statuen und augenbewegender Bilder beruht, wenn auch nicht immer, doch meist auf der Einbildungskraft und dem Zauber der Kunst. Wem würde ein lange betrachtetes Bild nicht zuletzt mit dem Auge geblinkt haben! Welcher gemalte oder richtig plastisch geformte Mund würde nicht leise zucken, den man beobachtet im Zusammenhang mit allem übrigen, was an einem Bilde oder an einer Statue dem Leben abgelauscht wurde? Einem Künstler sprach die Sixtinische Madonna: Komm' in mein Himmelreich! Er hatte deutlich die Worte gehört, dieser berühmte Kupferstecher, der Linie um Linie die majestätische Himmelskönigin mit dem Grabstichel wiedergeben wollte. Der Wahnsinn umnachtete sein Gemüth für immer; der Glaube ist eine Umnachtung für den Augenblick.

Die schauerliche Einsamkeit hier unter der Erde, die edle Gesichtsform des Bildes, die Beleuchtung durch die wenigen Lichtstrahlen der Laterne, die Stimmung und Prädisposition des Gemüths, alles kam zusammen, daß[338] auch Lucinde auf Verlangen des grauenvollen Menschen feierlich bei diesem Bilde betheuerte, den Zufluchtsort, den hier ein Verbrecher im alten Profeßhause gefunden, nie zu verrathen.

Noch mehr … Bickert hob an der Madonna einen Stein auf, zog ein schmuziges Bündel hervor und sagte:

Ich mag nicht mehr an die Galeere! Ich wollte hier im Lande Pferdehandel treiben! Mais – ich kam auch da wieder auf falsche Fährte. So wurd' ich Knecht im Weißen Roß. Niemand kannte mich. Ich simulirte einen ganz andern Menschen. Es ging – mais! Da müssen Sie kommen, Mademoiselle, Sie – n'ayez peur! Siebenundvierzig bin ich jetzt, Mademoiselle. Ich ginge lieber – nach Amerika, wenn ich das Geld dazu hätte! Verdienen konnt' ich's schon, aber der Weg kam – un peu trop etroitement da vorbei, wo neulich Monsieur Hammaker gehabt hat un très mauvais accident –

Kannten Sie – auch den? hauchte Lucinde, aufs neue erbebend …

Monsieur Hammaker sah mir gleich den alten Picard an – wie ich – il y a cinq mois – hierher bin geflohen und ich saß ihm vis à vis im Trankgäßchen und mir schmeckte nicht der Heurige. Den Posten hier verschafft' er mir durch die ihm bekannte Madame Jeanette, eine alte Freundin meines Vaters. Er verlangte blos als don gratuit von mir – eine kleine Affaire – den rothen Hahn auf ein Schloß – à peu près zwanzig Meilen von hier –

Westerhof? rief Lucinde entsetzt …

Comment –? fiel Bickert überrascht ein und hielt das[339] Bündel, als wollt' er es Lucinden übergeben, die schon vor Abscheu nur vor seinem Aussehen die Hand zurückzog …

Sapristi, wo wissen Sie – Ich kenne einen, der alle Tage auf mich wartet! Tausend Thaler, und dann nach Amerika! sagte Monsieur Hammaker, und auch zusammen wollten wir gehen. Aber er hatte noch nicht genug, le petit maitre, er wollte Extrapost. Die hat er bekommen! Als ich ihm die Nacht begegnete, wo er in die Sieben Berge machen wollte mit einem sehr hübschen Koffer, sagt' er mir: Adieu Picard! Folgen Sie mir bald! Machen Sie nur ein compliment – an – an –

Den Oberprocurator Nück –?

Diacre! Woher wissen Sie –? Mademoiselle! Ich ging nicht. Ich dachte, er wird mich zum Hause hinauswerfen, wenn ich um die tausend Thaler komme – für Reisegeld! Mais – Neulich, da zog ich an der Klingel – ich hatte das Leben hier – nein, nein, denken Sie nur nicht Marcebillenstraße – Aber es stand wieder einmal quarante sept mit mir. Hier das Leben unter den Ratten, die schlechte Kost, die Furcht; ich dachte: Du verdienst dir dein Reisegeld, gehst erst in den Dom und sagst's en confession – Ich bin versucht, wollt' ich sagen, ein groß Feuer zu legen und ein Papier – so war le mot d'ordre – dans une bibliothèque – und ich thät' es gern; wer kann hier leben! Unter den Ratten! Hunde füttern! Hanne Sterz um den Bart gehen! Einen Bart hat sie, Mademoiselle! … Da knie' ich im Confessional und fange an zu sprechen und sage meine Sünden und ich sehe auf und …

Ihr seht den Domherrn von Asselyn![340]

Einen Geist, der mir spricht: Was enthielt damals der Sarg? …

Gestanden Sie es ihm?

Da! Nehmen Sie, Mademoiselle!

Jetzt griff Lucinde nach dem Bündel in heftigster Bewegung. So abschreckend feucht das Tuch war, sie empfand keinen Widerwillen mehr …

Plaudern werden Sie nicht! wiederholte Bickert und beleuchtete unheimlich die Gestalt und äußere Erscheinung der Verkleideten … Und eine wiederum ballend erhobene Faust deutete die Möglichkeit seiner Rache an …

Dann aber sagte er:

Gut! Geben Sie das –

An den Domherrn von Asselyn –

Im Kapitelhause –

Und was enthält es?

Eine Schrift – kein Geld – nur eine Schrift – in Latein – tant je crois –

Damit ging er weiter …

Und die Reise nach Amerika? Schloß Westerhof? Das Papier? rief sie hinter ihm her …

Der Knecht hörte nicht die verhallenden Worte und ging voraus …

Lucinde folgte athemlos … Sie hatte das kleine Bündel in ihre Mappe gezwängt und sich dabei aufgehalten … Mit dem Schirme tastete sie, um dem Schimmer der Laterne zu folgen …

Noch einige hundert Schritte in dem links sich erstreckenden engern Gange ging es so fort.[341]

Dann standen sie an einer kleinen, mit verrosteten Eisenklammern beschlagenen Thür …

Bickert gab Lucinden die Laterne und zog sein Schlüsselbund …

Leise steckte er einen mit wunderlichem Zierrath versehenen alten Schlüssel in das noch wohlerhaltene Schloß …

Mit knarrendem Tone ging noch ein Riegel zurück und die Thür öffnete sich …

Halten Sie sich an mich! sagte der Führer und stieg einige sich windende steinerne Stufen in die Höhe, während die Laterne zurückblieb …

Bald kam eine zweite Thür …

Bickert horchte … Er wollte lauschen, ob niemand in der Nähe war …

Wo kommen wir hinaus? fragte Lucinde, von den Anstrengungen erschöpft …

Statt zu antworten schärfte Bickert sein Ohr nur noch vorsichtiger …

Jetzt war es Lucinden, als hörte sie einen heiligen Gesang. Es war wie ein Strom klingender Luft, der auf sie niederwallte. Die Töne schwollen und erhoben sich. Wie aus erquickenden Quellen ringssprühender Staub, so rieselte sie es an … Nach so langer dumpfer Stille wurde ihr der Ton fast zum Licht, das Licht zur Welle, Geistiges wie leiblich sie Berührendes … Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten …

Les chanteurs! Es ist die Domschule! flüsterte Bickert und öffnete …

Es strömte wie Lobgesang des Lebens auf sie ein …[342]

Hier jetzt den Corridor hinauf, dann à travers la maison!

Bickert drängte Lucinden schon vorwärts …

Nach einem noch einmal weniger drohend, als schon hoffnungssicher gesprochenen: Mais Mademoiselle –! stand sie plötzlich allein … Bickert war verschwunden.

Ein schmaler Gang zwischen zwei hohen Mauern führte Lucinden in einen größern, mit Quadersteinen gepflasterten Hof und aus diesem über einige Stufen in ein alterthümliches Haus. Auch auf der großen Diele war alles wie von Musik erfüllt. Links von ihr sangen die Chorschüler Uebungen. Ein altes Klavier begleitete die Accorde …

Eine Weile lauschte sie …

»Deposuit potentes de sede et exaltabit humiles!«

Dazwischen sprach ein Priester Erläuterungen … Die Stimme war ihr fremd … Aber die Worte klangen ihr in der Tonart des Gesanges … kein Dur folgte auf Moll, kein Allegro auf ein Andante … selbst die Belehrungen über die zu machenden Pausen, die gegeben wurden, waren nur der Aushall des verklungenen Tones … Alles, alles war ihr Harmonie …

Gern hätte sie glauben mögen, es würden ihr die beiden Arme zu riesigen Flügeln, die sie hätte ausbreiten mögen, die wieder errungene Freiheit zu erproben …

Aber nur wie eine verscheuchte Fledermaus huschte sie durch die Flur und an die Hausthür. Diese war unverschlossen … Sie war im Freien, im Regen mit ihrem Bündel, aus dem sie ein zerknittertes starkes Papier herausfühlte …[343]

Mußtest du diese Schrecken erleben, um das zu erlangen, was du vielleicht brauchst, um morgen mit – ihm zu sprechen, vielleicht zum letzten mal – Dies führt dich bei ihm ein, auch wenn er dir die Beichte abschlägt!

Sie hätte sogleich zu Bonaventura fliegen mögen … Fast hatte sie ihre Knabentracht vergessen.

Sie breitete den Schirm aus und schoß auf einen Fiaker zu …

In die Rumpelgasse! rief sie. Zu Nathan Seligmann!

Die Adresse war bekannt …

Eine Viertelstunde darauf war sie bei Veilchen Igelsheimer, die um sie auf den Tod gezittert hatte. Ihre Begleitung an das Profeßhaus hatte sie abgeschlagen. Veilchen erfuhr zu ihrem Entsetzen, daß alles gescheitert war und Lucinde nur mit Lebensgefahr ihre eigene Freiheit gerettet hätte …

Zu Aufklärungen für das »trotz Spinoza verzweifelnde« Mädchen, Aufklärungen, die Lucinde auch ohnehin schwerlich gegeben hätte, blieb keine Zeit … Sie gab ihre Kleider zurück, nahm die ihrigen, entleerte die Mappe, die sie Veilchen ließ, riß das schmuzige Tuch Bickert's fort und wollte eben die Einlage, einige Bogen Papier in amtlichem Briefformat, einstecken …

Da erblickt Veilchen die Aufschrift und ruft:

Gott im Himmel!

Was ist? fragte Lucinde, halb schon im Gehen … Herr Nathan war noch nicht wieder daheim …

Das ist – das ist ja – die Handschrift –

Veilchen öffnete die Bogen, die Lucinde jedoch zu[344] gleicher Zeit schon wieder zurücknahm, nur um sie rasch zu bergen, weil sie Eile hatte …

Nur einen Blick, Fräulein! …

Was haben Sie? fragte Lucinde drängend und auf dem Sprunge …

Schon gab Veilchen die Bogen zurück, wie mit einem Schauder – Ein Siegel, das neben dem Namen stand, der die Bogen unterschrieben hatte, schien ihr die Besinnung zu geben …

Lucinde sah ein Kirchensiegel – das Bild des Gekreuzigten …

Sie forschte nicht länger … blieb ihr doch die volle Muße eigener Untersuchung und die Gelegenheit der Wiederkehr … Sie hatte nicht Zeit, sich von dem wie bewußtlos ihr nachblickenden Veilchen die Ursache ihres Schreckens erklären zu lassen …

Eine Stunde später saß sie zum Thee bei der Commerzienräthin, die vor Ungeduld nach ihr »fast vergangen war«. Denn seltsamerweise blieb sie heute allein … Aus Furcht vor Pitern ließen sich selbst die Hausfreunde nicht sehen. Das Haus war von seinem beginnenden Strafgericht in Belagerungszustand erklärt. Johanna hatte von ihrem in aller Frühe abgereisten Verlobten schon per Expressen einen Brief voller Vorwürfe über die Frau Oberstin, die übrigens gestern schon vor dem plötzlichen Tumult gegangen war … Dann kam die Frau Oberprocurator angefahren und brachte die Kunde, daß morgen Abend der Domherr von Asselyn nach Witoborn reise und eine Demonstration der Huldigung stattfinden würde mit Blumen, Gedichten, ja persönlicher[345] Anwesenheit seiner Verehrer … Ob die Mutter ginge? Was man dazu anzöge? … Endlich hörte man Pitern sich lärmend in den Hinterzimmern ankündigen … Alles zitterte … Zum Glück hörte man zu gleicher Zeit den Besuch des Oberprocurators von der andern Seite … Lucinde hatte keine Antwort aus dem Kapitelhause vorgefunden. Sie erhob sich, schützte Kopfweh vor, schoß an Nück vorüber und flüchtete sich auf ihr Zimmer.

Hier ergriff sie einen Bogen Papier, eine Feder und schrieb die Worte:


»Hochwürdigster Domherr! Ich beschwöre Sie! Wenn Sie nicht einen Seelenmord begehen wollen, so bitt' ich um Antwort – wegen meiner Generalbeichte!


Lucinde.«


Sie convertirte, klingelte und schickte einen Diener mit diesen Zeilen ins Kapitelhaus an den Domherrn von Asselyn – wie schon heute in der Frühe …

Schlug ihr Bonaventura den Empfang ab, so hatte sie ein letztes Mittel. Den Auftrag Bickert's … Nach allem, was sie von Benno über den Eindruck wußte, den damals die im Sarge des alten Mevissen gefundenen Dinge auf Bonaventura gemacht hatten, durfte sie annehmen, daß dieser sie dann unmöglich zurückweisen würde, wenn sie an ihn ein drittes Schreiben richtete mit der Bitte, ihm wenigstens noch die Dinge, die ihr der Knecht aus dem Weißen Roß gegeben, persönlich einhändigen zu dürfen …

Nun klopfte es …

Nück meldete sich …

Ich bin krank! sagte sie an der Thür, rasch verschließend –[346] schaudernd vor dem Manne, bei dem für Bickert – tausend Thaler harrten und der ihr selbst –

Sie wissen – –? sprach schon Nück dringender.

Nichts! Nichts!

Der Pater ist gefangen …

Darauf schwieg sie …

Man führt ihn in sein Kloster zurück …

Doch! doch! sprach sie bebend, aber nur für sich …

Darf ich –? Ich bitte dringend …

Ich bin krank!

Schrieben Sie doch nicht dem Pater? …

Sie schwieg …

Wenn man Ihren Brief mit Beschlag belegt hätte! Oder wie verständigten Sie sich mit ihm? …

Sie athmete auf, wie kein Verdacht vorlag, daß sie selbst zu Sebastus gegangen …

Bestellen Sie die Pferde ab! Sonst nichts! Gute Nacht! sagte sie, sich ermuthigend, und brach kurz ab.

Nück's murmelnde Stimme hörte sie nicht mehr … auch sein Fortgehen verhallte …

Dann holte sie das verwitterte, nicht zu alte Schreiben, einen langen Brief in lateinischer Sprache, unterzeichnet »Leo Perl«.

Nun verstand sie den Schrecken der Jüdin …

Sie las und las … übersetzte und – stockte endlich …

Um den Brief völlig zu verstehen, mußte sie nach dem Wörterbuche greifen, das ihr Benno gekauft hatte …

Darüber schlug es elf …

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 4, Leipzig 1859, S. 322-347.
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