7.

[203] Unter den rauschendsten Acclamationen hatte bereits die Baßposaune das berühmte Lied an die Rose geblasen und ein stürmisches Dacapo veranlaßt …

Schon waren die enormen Schwierigkeiten der Arie »Ocean, du Ungeheuer!« von einer alle Wände und Stockwerke durchschneidenden Stimme überwunden worden …

Lange war es über neun Uhr. Schon kam das Eis – und noch immer saß in ihrem saubern Zimmer mit dem kleinen Porzellanofen und dem weißen Sopha und dem Bettschirm Lucinde, ohne daß sie sich hatte entschließen können, in die menschenüberfüllten Räumlichkeiten hinüberzugehen …

Einmal schon war, athemlos, die Commerzienräthin dagewesen und hatte sie wie im Sturm ermahnt, doch endlich, endlich zu kommen, da alle Welt schon vor Verlangen nach ihr brenne …

Zweimal war Johanna dagewesen, einmal sogar in Begleitung des Außerordentlichen, der die »Jerichorose« um ihre Kenntniß der lateinischen Sprache ebenso wie[204] um ihre Botanik bewunderte; denn Lucinde kannte alle Kräuter des Waldes, alle Bach- und Wiesenblumen … Ein schöner Strauß, den ihr Treudchen verehrt hatte, lag zu ihrem Eintritt in die Gesellschaft schon bereit …

Auch die Frau Oberprocurator Nück, die schon im Hause hin- und herrannte – nur nicht hinauf in den stillen obern Stock zu ihrer Schwester – um sich abzukühlen von dieser »wieder unerträglichen Hitze« in den Zimmern – sie war die erste, deren Liebe nach Pitern suchte, um ihm Vorwürfe zu machen –, auch Josephine Nück war bei dem »guten Fräulein« gewesen, um sie zu ermahnen, doch bald zu kommen; denn sie entbehrte zu schmerzlich die Bewunderung, die das Fräulein vor ihrer Toilette aussprechen sollte; ein Bedürfniß, das nicht im mindesten auch den Tadel ausschloß. Denn Josephine hörte es gern, daß sie einen Fehler gemacht hätte mit dieser Farbe oder mit jenem Besatz oder mit jenen gemachten Blumen, die auf ihrem Kopfputz sich nicht gut ausnähmen oder ihrem z.B. so leicht echauffirten Teint nicht stünden. Dann hatte sie doch einen Grund für ihre gesellschaftliche Verstimmung. Dann konnte sie doch in einer Ecke, nicht am Ofen, sondern dicht am Fenster, das sie zuweilen öffnete, mit dem Fächer in der Hand sitzen und über ihre Putzmacherin und ihre weibliche Bedienung klagen, als wenn es nur eine Verschwörung der ganzen Welt und vorzugsweise ihrer eignen geschmacklosen Umgebung wäre, wenn sie nicht ebenso brillirte, wie die jungen Frauen und Mädchen, die da alle lachend und bunt und schönheitsstrahlend in den belebtesten Gruppen saßen …[205]

Lucinde nahm ihr zu ihrer innigsten Freude und Dankbarkeit heute ein Uebermaß von Blumen von den Schläfen hinweg, führte sie an ihren kleinen Spiegel, leuchtete und bewies ihr, daß sie sich jetzt viel vorteilhafter ausnähme. Der nun gleicherweise wiederholten Aufforderung, doch bald auch zu kommen, erwiderte sie ein einfaches: Ich komme, ganz gewiß! – und doch entsank ihr wieder der Muth, als sie allein war …

Nicht der religiöse Grund, den sie seither alle Tage gegen diese Gesellschaft vorgeschützt hatte, fehlte ihr, sie stand an ihren Ofen gelehnt in vollständigster Toilette. Treudchen war eine ganze Stunde bei ihr gewesen und hatte sie geschmückt wie eine Braut – etwa eine Braut, die sich zu einer Zeit vermählt, wo sie um irgendeinen Anverwandten zu trauern hat. Ihr Kleid, bestehend aus einem leichten, wallenden, aschgrauen Stoff mit reichem schwarzen Spitzenbesatz, war ein Geschenk der Commerzienräthin. Das dunkelbräunliche Incarnat der offenen Arme und des Halses wurde durch diese Farbe gemildert, die auch ihre ganze, einer Creolin ähnliche Erscheinung minder scharf heraustreten ließ. Das Haar war nach vorn einfach getheilt, nach hinten sammelte es sich in zwei schweren runden Flechten, die in Kreisform aufgebunden, von einem schwarzen Sammetgewinde bedeckt waren. Unter den beiden Rundungen der Flechten quollen hinter jedem Ohr bis in den Nacken vier Locken hervor. Es war zum ersten mal wieder, daß sich Lucinde wie seit lange nicht gegeben hatte; sie hatte es in der Gewalt, aufzufallen oder ganz zurückzutreten.

Der reiche Spitzenbesatz am obern Rande des Kleides[206] erlaubte in bloßem Halse zu erscheinen. Auch war der obere Arm von einem offenen Spitzengehänge halb verdeckt. Die kleine Juwelenschnalle auf einem schwarzen Sammetband, das den Hals bedeckte, war ein Weihnachtsgeschenk der Frau Oberprocurator. Ein Armband von einem als Schlange ausgearbeiteten blutrothen Korallenzweige, reich mit Goldverzierung, hatte sogar Piter geschenkt.

Silbergraue lange Handschuhe lagen auf der Sophalehne. Sie waren schon von ihr anprobirt gewesen und wurden wieder ausgezogen. Treudchen hatte Lucinden schon fast bis an den Eintritt in den Saal begleitet und wieder war sie zurückgegangen. Treudchen durfte oben beim einfachen Thee ihrer Herrschaft nicht fehlen; sie mußte Schlag acht Uhr von ihrer Gönnerin sich trennen und konnte ihr: Bitte! Bitte! Gehen Sie doch! Ach! die Menschen werden Augen machen! nicht öfter wiederholen …

Die Furcht, die Lucinden zurückhielt, unter die Menschen zu treten, beruhte auf dem Gefühl, daß sie sich in einer Weise elektrisirt fühlen würde, die ihrer ganzen bisherigen Haltung und wahren Stimmung widersprach. Nur mit Noth erwehrte sie sich schon lange der Huldigungen, die bei dem regen Verkehr im Kattendyk'schen Hause nicht fehlen konnten. Im Personal des Bureau gab es Blicke, die sie verfolgten; unter Piter's Freunden, in den Kirchen, auf der Straße erregte sie Aufsehen. Oft auch schon meldete sich in ihrem Blut die Zeit von Hamburg und Kiel. Nicht, daß sie eine gewöhnliche Gefallsucht gehabt hätte, nicht, daß ihre Sinne glühten – ihre Sinne schienen kalt. Ihr erster »Kindskopfwahn«, wie[207] sie ihn nannte, der sie hatte bestimmen können, mit Oskar Binder nach Amerika gehen zu wollen, hatte ihr eine ganze Gattung von Männern verleidet. Wenn sie sich sagen mußte: An welchen Fäden hing schon oft deine Zukunft! und sie sich gestehen durfte, daß sie in alle diese Lagen fast ohne Bewußtsein und wie nur von einem Instinct der Selbsterhaltung und einer das Höchste anstrebenden Zukunft geführt wurde, bangte ihr vor dem Gedanken, jemals wieder so nahe an Abgründe zu treten … Klingsohr, dessen dauernde Anwesenheit in dieser Stadt, mögliche Beziehung zu Bonaventura sie oft in Verzweiflung brachte, Klingsohr war ein Phantast gewesen. Die merkwürdige Erscheinung, daß die Verirrung, die diesen beinahe rettungslos dem Trunk zugeführt hätte, mit einer Abneigung gegen Frauen verbunden zu sein pflegt, zeigte sich schon in Kiel, wo er moralisiren konnte. In jener schauerlichen Nacht auf Schloß Neuhof bestanden seine Zärtlichkeiten im Knieen wie vor einem Gnadenbilde, im Küssen der Locken, des Kleides, in Eingebungen einer Phantastik, die seinem Wesen entsprach, dem Leben nicht in der Wirklichkeit, sondern im Erträumten und Schattenhaften. Jérôme von Wittekind berührte Lucinden nicht. Sie war ihm eine Erscheinung aus dem Reiche der Märchen. Klingsohr's Entmannung, wie wir seinen Zustand nennen möchten, war nicht die Verrücktheit des tollen Kammerherrn und des Paters Ivo, nicht die Empfindung glühender, nur sich beherrschender Liebe, sondern das Bedürfniß, das er mit seinen hamburger Freunden theilte, sich auf den Trümmern der Unschuld ein letztes »reines Gnadenbild«,[208] eine Madonna, eine Laura, eine Beatrice zu dichten …

Sie fürchtete sich vor der Gesellschaft, weil in ihrem Innern ein Vulkan tobte. Sie glaubte nicht länger sich verleugnen zu können. Unterdrückte sie auch seit Monaten ihren Spott, ihren Humor, selbst ihre Kenntniß des Pianos, nur um nicht in Versuchung zu kommen, ein Allegro zu spielen, so wußte sie, was in ihrer Brust wuchs und ausbrechen mußte und nicht länger zu halten war. Daß man immermehr ihrem vergangenen Leben nachspüren würde, erfüllte sie mit dem Gelüst, sich vertheidigen zu wollen. Halt aber an dich! Halt an dich! sagte sie sich oft und das aus Furcht, daß sie plötzlich so nicht mehr fort konnte. So andächtig besuchte niemand die Messe, so für unwürdig der Communion erklärte sich niemand (freilich mußte sie sich den Genuß versagen, da sie seit der geschilderten Scene nicht wieder beichtete), so sittsam blickte niemand auf der Straße nieder, so bescheiden äußerte sich niemand in Gesellschaft, so geringschätzend sprach niemand von seinen Ansprüchen auf Anerkennung, so gelassen gab sich niemand einer etwaigen Anspielung auf sein früheres Leben preis. Sprach man selbst bei Frau Walpurga von jener schönen Stadt mit den Wachparaden und den berühmten Wasserkünsten, ja sogar von dem Aufenthalt der ermordeten Frau von Buschbeck daselbst, von bösen Dienstherrschaften, von leichtsinnigen jungen Commis, von dem dunkeln Geiste, der auf dem Hause Wittekind-Neuhof ruhte, von dem Mönche Sebastus, der noch immer in der Stadt verweilte[209] und das alte Profeßhaus der Jesuiten nicht verlassen durfte, von seinem Vater, dem Deichgrafen, von dem gefangenen Küfer Stephan Lengenich, von einer nahe bevorstehenden Auflösung des Kronsyndikus, von dem Stiefvater des Domherrn von Asselyn, ja von Hamburg, Kiel; und plauderte selbst der »gemüthliche« Pötzl einmal von einer Schauspielerin namens Konstanze Huber, die die Jungfrau von Orleans nur bis zum dritten Act durchgeführt hatte – was war ihr das alles! Sie saß – und nähte – oder las dabei –, sie erhob sich auf jeden Wunsch der Commerzienräthin oder Johannens, ließ ihr goldenes Kreuz aus der Brust gleiten und sprach mit leiser und zurückhaltender Stimme von den geistlichen Exercitien und der Wallfahrt, die die Commerzienräthin für die glückliche Entbindung ihrer Tochter Hendrika und die rechtgläubige Taufe ihres Enkelkindes gelobt hatte … Mit Beredsamkeit sich vertheidigen, gewährt oft ein schönes Schauspiel; mit Beredsamkeit sich anklagen kann ein schöneres sein. Schweigen aber, schweigen, um sich zu vertheidigen, ist Heldengröße; und schweigen vollends, schweigen um sich anzuklagen, Märtyrerglorie … Was sind alle diese Vergehen, lag in Lucindens Mienen, deren ihr mich anklagt, wenn die Seele, wie der Rhein, der unter dem Bodensee hindurchzieht, aus geringen und unbedeutenden Anfängen nach kurzer Läuterung wieder und dann wie groß und majestätisch hervorbricht! Aus der Fremde that sie wie nur in die Heimat gekommen, aus der Lüge zur Wahrheit, aus dem Irrthum zur Erkenntniß. In der großen Gemeinschaft der Kirche durfte kein Gläubiger zu[210] dem andern sagen: Deine Vergangenheit schändet dich! Die Tag- und Jahresgebete, die Abendandachten, der Rosenkranz, der englische Gruß, die Anbetung des allerheiligsten Sakraments, das heilige Meßopfer, alles das ist eine Kette, die zu Leibeigenen Gottes und durch das Erlösungswerk zu Kindern seiner Liebe macht. Lucinde kannte diese Formeln. Sie waren an sich für sie todt; sie belebten sich aber – im Hinblick auf eine Entscheidung, die endlich kommen mußte – kommen sollte.

Der Mann, den sie ein Jahr lang in der Stadt, wo sie katholisch geworden, angebetet, den sie zwei Jahre vergebens zu vergessen gesucht hatte, den sie in St.-Wolfgang, in Kocher am Fall, hier mit glühend aufschlagenden Flammen des Herzens wiedersah, wollte jetzt nach Westerhof reisen zu Paula. Sie wußte das seit einigen Tagen und da hatte sie erklärt, zu dieser Gesellschaft, fehle ihr die Stimmung. Gebeten hatte man sie, sich zu überwinden … Wol stand sie in ihrem kleinen, schon von ihr und Treudchen sofort wieder aufgeräumten Zimmer wie ein Wesen, das nicht schüchtern eintreten konnte bei so auffallender Erscheinung. Es riß und zog auch in der That an ihr, die Wahrheit ihrer Natur zu enthüllen. Wie hob sie's, den gesenkten Kopf zurückzuwerfen, zu lachen, die acht schönen Locken im Nacken zu schütteln, die freie, gescheitelte Stirn zu erheben, statt Wehmuth um die Lippe Stolz und Bitterkeit zu zeigen, aus den Augen das Feuer einer unter der Asche drohend glimmenden Leidenschaft hervorbrechen zu lassen … War sie nicht wie auf der Flucht? Wie gehetzt von Gespenstern? Nie, nie liebt' ich diesen Klingsohr, der jetzt hier vielleicht gegen mich zeugt![211] hätte sie in die Welt, in die Messe hinausrufen mögen, wenn sie Bonaventura celebrirte. Im »Kirchenboten« des Beda Hunnius, mit dem sie ihre Correspondenz nach der Katastrophe des Kirchenfürsten hatte abbrechen müssen, las sie die »Stufenbriefe«. Klingsohr schrieb sie allerdings nur für Lucinden. Es waren Empfindungen, wie sie Abälard, nach der ruchlosen That seiner Feinde, an Heloise geschrieben haben konnte … Aber wenn nun Bonaventura gar nach Westerhof ging! Nach Schloß Neuhof, Kloster Himmelpfort, wo ihre ganze Vergangenheit mit ihm zusammentreffen konnte … Täglich mußte sie von der »Seherin von Westerhof« hören! … Selbst der kühle Benno konnte nicht in Abrede stellen, daß vernünftige Menschen von Paula's Visionen und Heilungen mit Bewunderung sprachen. Jetzt wollte Bonaventura nach St.-Libori reisen und – darüber war kein Zweifel – einen Seelenbund erneuern, der fürs Leben geschlossen wurde, wenn Paula, wie man vermuthete, nach dem Verlust ihres Processes den Schleier nahm … Lucinde kannte die Glückseligkeit, die den heiligen Franz von Sales mit Frau von Chantal vor und nach der Stiftung des Ordens der Visitandinen verband. Sie wußte, daß Fénélon, der sanfteste der Priester, Seelenbündnisse mit Madame Guyon und Fräulein von Maisonfort hatte. Sie wußte, daß selbst der strenge, so trockene und pedantische Bossuet von einer Frau von Cornuan, deren Geistesbildung etwa der der Commerzienräthin Kattendyk gleichkam, in einer Weise belästigt wurde, die zuletzt trotz alles ihm von dieser Frau verursachten Aergers ihm zum Bedürfniß werden konnte,[212] also, wie Lucinde gelegentlich bitter vor sich hinsprach – ebenso gut wie die Ehe war … Ein Wort, das der Außerordentliche einmal sprach, nun würde mit dem Domherrn von Asselyn auf Schloß Westerhof der wahre »Doctor ekstaticus« erscheinen, machte sie zittern vor Eifersucht … Stündlich stand sie auf dem Sprunge zu Bonaventura und ihm zu rufen: Reise, doch erst morde mich!

An demselben Abend war sie damals die »Jerichorose« gewesen. Sie verstand zum ersten mal gewisse durchbohrende Blicke des Oberprocurators, eines Mannes, vor dem sie sich anfangs entsetzt hatte, weil er ihr gewesen wie ein Gebilde von Eis. Alles scharf, kantig, schneidend an ihm. Doch fiel ein Sonnenstrahl nach dem andern auf diese Erscheinung und ließ sie immermehr in allerlei Regenbogenfarbenlicht, wenn auch wie aus tausend Eiskrystallen, leuchten. Der Mensch ist ja merkwürdig! sagte sie sich. Und als sie alles vernommen, was die Welt von Dominicus Nück wußte, als sie ihn vor Gericht den Mörder vertheidigen sah, der ihm selbst schon einmal hatte aus Leben gehen wollen, als sie den Blick beobachtete, mit dem Nück die vielbesprochene Prise verweigerte, erschien ihr seine Häßlichkeit, sein Cynismus, seine Charakterkraft überraschend. Klingsohr's Narben im Antlitz hatten sie nie gestört. Wie war sie nicht in düstere Lebenslabyrinthe eingedrungen! Sie wußte, daß jener in Serlo's Papieren erwähnte Advocat, der bei dem Strafgericht des Bruders Hubertus über den Pater Fulgentius nicht zu entfernt gestanden, der hingerichtete Mörder ihrer Hauptmännin war. Schaudernd überliefen[213] sie die Rückerinnerungen an alles, was sie von den Verirrungen des menschlichen Geistes schon in Erfahrung gebracht. Die Leichenschminkerin stand ihr oft mit Blumen wieder vor einer Todten und redete: Bist du nun auch erlöst, armes Weibchen? Lache, lache, armes Kind, das zu gut war für diese Erde! … Diesem Nück konnte sie seit der »Jerichorose« nicht mehr begegnen, ohne daß es ihrem Innersten war, wie dem Knaben im Erlkönig. Sie sah sich fortgerissen in Nacht und Wind und stieß einen Hülferuf aus vor einer Hand, die unsichtbar sie umfing; ein Leids fühlte sie, das ihr angethan, ein so tiefes Weh, daß nur das einfache Vorüberstreifen des grauen Mannes an ihr, sein Blick zu ihr empor nöthig war, um sie einer Ohnmacht nahe zu bringen. Gespenstisch war schon die Stille, die eintrat, wenn sein magisches Wesen vorübergezogen.

Noch mehr! Schon seit mehreren Tagen war ihr seltsam gewesen, daß eine Frau, die immer höchst elegant gekleidet neben ihr in der Messe auf einem der gemietheten Stühle kniete, sie anredete, am Tage darauf sie sogar verfolgte auf einem Gange, den sie in die Rumpelgasse machen wollte. Eine Jüdin, Namens Veilchen Igelsheimer, hatte in den ehrerbietigsten Ausdrücken an sie geschrieben, sie kenne, wie sie wisse, den Pater Sebastus. Der Aermste säße krank und elend und zwar um ihretwillen in einer Haft, aus der ihn weder die jetzt machtlose geistliche Behörde erlösen könnte, noch die weltliche erlösen wollte; ob sie nicht ihre einflußreichen Verbindungen, besonders die Fürsprache des Oberprocurators[214] Nück in Anspruch nehmen wollte, um den Unglücklichen vielleicht freizubekommen oder wenigstens ihm die Rückkehr nach dem Kloster Himmelpfort zu ermöglichen, worein die weltliche Behörde der vielen Untersuchungen wegen, in welche auch der Pater verwickelt wäre, nicht willigen wollte, oder ob sie vielleicht sonst etwas Durchgreifenderes zur Erlösung des Armen ersinnen könnte; sie möchte ihr die Ehre gönnen und sie unter ihrem armen Dache besuchen … Dieser Brief hatte Lucinden vollends aufgeregt. Klingsohr zurück nach Kloster Himmelpfort? Zugleich mit dem ihm vielleicht schon lange nahe stehenden Bonaventura? O daß eine Vergangenheit so furchtbar lastend auf dem Weibe ruht! … Sie hatte die Zuschrift der Jüdin mündlich beantworten wollen … Da war ihr die fremde Dame nachgegangen und ermuthigt durch die verdächtigen Umgebungen der Rumpelgasse, sprach sie Lucinden in einer Weise an, die diese so erschreckte, daß sie ihren Vorsatz, die Jüdin zu besuchen, aufgab. Die Frau sagte ihr Schmeicheleien über ihre Schönheit. Sie lud sie zu sich ein, forderte sie sogar auf, sofort bei ihr Chocolade zu trinken. Lucinde wies die Frau zurück. Wer stellt dir so nach? Wer verdächtigt dich? …

Endlich noch mehr! Heute plauderte Treudchen von der offenbar ganz gleichen Bekanntschaft, die auch sie mit einer sie verfolgenden Frau gemacht hätte … Treudchen erzählte, daß der fromme Pfarrer Rother, der die Frau vor seinem Hause auf sie warten gesehen, ihr jede Beziehung zu ihr verboten hätte. Auch wäre sie von ihr seitdem unbehelligt geblieben …[215]

Warum gehst du nur so oft zu diesem Pfarrer? fragte Lucinde sinnend …

Denken Sie sich, das fragte mich neulich jemand anderes auch! Der Herr Oberprocurator! … Die Pfarrei vom Berge Karmel liegt frei auf dem Platz und wie ich oben beim Pfarrer bin, zeigt er mir in der Ferne noch einmal die Frau, wie sie an einer Ecke gerade mit dem Oberprocurator spricht …

Mit Nück –?

Mit Herrn Nück! Und heute früh begegne ich ihm und da sagt' ich ihm, daß ich ja so gern auch bei den Damen auf dem Römerwege bin, weil ich meine Geschwister im Waisenhause habe …

Lucinde hörte der Erklärung kaum zu; denn Nück, Nück im Gespräch mit jener Frau! Dies Bild weckte ihr eine Vorstellung, die sie eiskalt überlief … So unwürdig denkt dieser Mann –? Gehört auch er zu jenen »Bemitleidenswerthen«, denen es eine unheilbare Krankheit geworden, an Frauentugend nicht mehr glauben zu können? Muß es nicht elend in einer Seele aussehen, die vielleicht ein unwiderstehliches Bedürfniß der Liebe hat und den trügerischen Schein davon nur auf solchem Wege finden kann? … Oder stellt man dir Fallen und wiederholt sich der alte Unglaube an das, was du dir doch – »bei alledem« konnte sie selbst hinzufügen – bewahrt hast? …

Da kam denn Josephine Nück und Lucinde mußte sich sagen: Freilich, ein Mann von Geist und Leidenschaft und ein solches Weib!

Düstere Falten zog die Stirn, die sich nun unter[216] dem rauschenden Gewühl heiter und sorglos zeigen sollte …

Nachdem hatte Treudchen so viel von der großen Begebenheit des Hauses, vom Zank mit Delring zu erzählen, daß das Gespräch von diesen dunkeln Gegenständen abkam … Lucinde mochte die »obere Gesellschaft« nicht. Hendrika hatte die Abneigung aller Frauen gegen sie, eine Abneigung, die Lucinde für einen Beweis der »Gewöhnlichkeit« erklärte. Delring war ihr der Repräsentant jener »blonden« norddeutschen Weise, die ihr soviel Schmerzen und Demüthigungen bereitet hatte. Sie stellte ihn in die Reihe der hamburger »Respectabeln«. Sie vermied seine »kalten« »wasserblauen« Augen, die ganz den Tausenden von Augen glichen, vor deren tugendhafter Kritik sie sich einst nach dem Tode Jérôme's von Wittekind in der Sommerwohnung des Herrn Nikolaus Carstens und seiner plattdeutschen Schwestern hatte drei Tage lang verbergen müssen.

Das Rufen und Klingeln und der zunehmende Lärm im Hause unterbrach zuletzt alles weitere Gespräch mit Treudchen und mit sich allein … Endlich brach sie alles, was sie bestürmte, ab, faßte sich Muth, zog ihre Handschuhe an, nahm ihr Bouquet und schlüpfte in das vordere Zimmer, wo im lebhaftesten Gespräche Herren standen, die sogleich Chaine machten, um die überraschende Erscheinung hindurchzulassen.

Der erste, der sich der hohen Gestalt »erbarmte« – denn Erbarmen kann man wol die erste Begrüßung und Anrede eines in menschenüberfüllte Räume Neueintretenden nennen –, war der alte Pötzl, der die beiden Bologneserhündchen,[217] die bei der Gesellschaft nicht fehlen konnten, unterm Arm hielt. Auch der Medicinalrath, ein kleiner dicker Herr, sprang hinzu und nun wäre alles zurückgewichen vor dieser königlichen und fremdartigen Gestalt, wenn nicht Frau Nück, die am feucht beschlagenen Fenster saß, sie erblickt und sogleich nur für sich in Beschlag genommen hätte, um sie hinter den Gardinen zu fragen, ob sie noch immer so echauffirt aussähe? …

Ein Flor von Jugend und Schönheit und Pracht der Toiletten war zugegen … Dennoch machte Lucinde einen Eindruck, der die Aufmerksamkeit aller auf sie gezogen haben würde, wenn nicht gerade jetzt der Stolz der Stadt, das berühmte Moppes'sche Quartett, intonirt und die Stimmung des Flügels mit einem angegebenen Accord in Einklang gebracht hätte. Alles rannte, um zum Sitzen zu kommen. Die Krystalle in den Kronenleuchtern wackelten vor dem Sturm. Alles mußte still sein … nur der Außerordentliche sprach über die Baßposaune noch seinen Satz aus. Er widersetzte sich einer natürlichen Erklärung des Wunders, daß die Mauern von Jericho durch Posaunen wären niedergeblasen worden. Denn Beamte aus dem ghibellinischen Heerlager, rationalistische Zweifler, fehlten keineswegs und der alte Herr de Jonge hatte für seinen leider abwesenden Sohn die Neckereien übernommen. Während man mit Fanatismus dem Außerordentlichen zischte und Lucinde sich still für sich selbst sagte: Vielleicht bestanden die Mauern von Jericho aus nichts, als Gärten von Rosen! und nach dem Manne der echauffirten Frau sich umschaute, die neben ihr[218] saß und die Ueberfüllung mit Menschen verwünschte, die nicht einmal möglich machte Pitern zu entdecken, entfaltete sich das Bouquet des Abends. Waren es auch nur immer dieselben »Gute Nacht!« und dieselben »Schlaf wohl!« und dieselben humoristischen »Speisezettel«, die die Sänger vortrugen, die Thatsache stand fest: Beim letzten Hauche konnte man den entsprechenden Accord des Flügels anschlagen – und nicht um eine Viertelnote waren diese jungen Kaufleute in ihrem Vortrag gesunken, worüber die alten regelmäßig in Enthusiasmus ausbrachen. Wie regierten sie aber auch mit strenger Gewalt die Musikzustände der Stadt! Wie bestimmten sie den Erfolg jeder Oper, jeder neuen Messe! Was sie verwarfen oder guthießen, fiel oder stand in der öffentlichen Meinung.

Lucinde blieb hinter den Gardinen und beobachtete … Sie kannte solche Gesellschaften nur aus Kiel und aus der Zeit ihres dreijährigen Wirkens im orthopädischen Institut, wo es genug vornehme Beziehungen gegeben hatte …

Die Wonne des Entzückens machte niemanden lebendiger, als die Commerzienräthin. Glich sie schon sonst in ihrem ganzen Leben einem jener kleinen Würmchen, die auf einer flachen Tafel hin- und herrennen, stutzen über nichts, links und rechts schwenken und da wieder hinlaufen, wo sie eben hergekommen sind, wie erst heute! Trotzdem daß ihr Kopfputz, eine Art Turban mit purpurrothen Sammettroddeln und goldenen Fransen, ihr die feierliche Haltung eines Schlittenpferdes vorschrieb, drängte sie sich durch alle Bravis und Dacapos, durch alle Erfrischungen[219] und Staats- und Kirchengespräche hindurch mit wiedererwachtem Jugendmuth. Blieb auch ihr Shawl an einigen Frackknöpfen der Herren, an einigen der aufgestellten Rhododendren oder am Kettchen eines neuen Halsbändchens ihrer Hunde hängen, sie war überall und nirgends und zuletzt auch bei Lucinden, die sie hervorzog und auf die Stirn küßte. Sie flüsterte ihr zu: Wie lieb' ich Sie! Aber ich muß Sie vorstellen! Und noch ehe sie eine Antwort bekam, war sie schon wieder bei einer andern Gruppe und eigentlich suchte sie auch nur immer Pitern und sagte das auch laut. Aber obgleich die Gesellschaft schon zwei Stunden beisammen war, entbehrte doch niemand den Schöpfer dieses brillanten Abends. Die jungen Herren, seine Freunde, hatten mit den jungen Damen zu thun und der Außerordentliche machte die Honneurs des Hauses, so klein er war, mit einer Entschiedenheit, die imponirte.

Wiederum hatte man in einer Extra-Arie die berühmte Schule und die Bocktriller der Sängerin bewundert … Lucinde war endlich von dem beschlagenen Fenster erlöst, aus Umgebungen, wo sich einige Beamte und gemäßigte Commerzienräthe, die einen ghibellinischen Orden im Knopfloch trugen, durch den Gesang der Primadonna nicht hatten hindern lassen, von den Zeitläufen zu flüstern … Pamphlete, die in Belgien gedruckt waren, wurden erwähnt; Vorgänge im Kapitel spannten ihre Neugier; der Severinusverein hatte mit einem evangelischen Handwerkerverein gestern eine blutige Schlägerei gehabt; Plakate in einem eigenthümlichen alten Drucke, »Himmelsbriefe«, waren von den Straßenecken abgenommen[220] worden; die Worte: Rom, Gesandtschaft, wiener Staatskanzlei fielen … Lucinde konnte nicht verweilen, da sie der Gegenstand allgemeiner Neugier wurde und aus einer Vorstellung in die andere kam.

Sie selbst suchte nur Benno. Als sie hörte, der fehle und wäre schon nach Witoborn, entsank ihr jede Kraft und Sammlung … Denn mitten unter all diesen Huldigungen blieb, was sie auch an Männern sah, nur Grund zur Vergleichung – mit Dem, für den sie leben und sterben wollte …

Die Commerzienräthin zog sie in einen Kreis, wo sich eine lebhafte Debatte entsponnen hatte …

Eine Dame, der sie hier vorgestellt wurde, saß in einem kleinen Eckdivan, umgeben von einer Anzahl Herren und Damen, die sich ebenso an der Erscheinung wie an der Conversation dieser Frau zu erfreuen schienen. Sie trug ein hellfarbiges, mit seidenen Streifen durchwebtes einfaches Tüllkleid und darüber eine große schwarze Atlasmantille, mattblau gefüttert, fast wie einen Shawl, aber auch wieder wie eine herabhängende Toga, mit Schnüren auf der Brust und an den Aermelöffnungen. Die ebenfalls blaue Auslage des rundgezackten schwarzen Kragens verdeckte fast den Hals und gab diesem eine eigenthümliche Einfassung, wie wenn er neckisch sich in ihm versteckte. Das Merkwürdigste für alle Umstehenden war der Kopf dieser schönen Frau, der halb der Jugend, halb dem Alter angehörte. Aus einem Halbhäubchen von schwarzem Flor, besetzt mit blauen Blumen, quollen eine Anzahl grauer Locken hervor.

Die Commerzienräthin sprach von »der Frau Baronin«.[221] Daß Lucinde vor Armgart's Mutter stand, mußte sie sich erst selbst allmählich entnehmen.

Lucindens Erscheinen fiel auch hier auf. Jemand, der der Dame am nächsten saß, sprang sogleich auf und bot ihr zuvorkommend seinen Sitz. Ein paar feurig durchbohrende Augen warf er dabei auf Lucinden, die erröthete. Der Gefällige vergaß fast, daß er es war, der das Wort führte und daß alle bisher an seinem Munde gehangen hatten.

Mit einer fremdartigen Betonung, aber außerordentlich geläufig und einschmeichelnd erzählte er Vorgänge, die Lucinde sogleich als auf die Gräfin Paula sich beziehend erkannte. Das waren Wetterschläge in ihr Herz … Die Lage des Camphausen'schen Processes war ihr geläufig genug, um zu begreifen, daß der Sprecher jener Bevollmächtigte der wiener Erben, Herr von Terschka war, jener Terschka, der einst schon in Kiel sie gesehen und damals durch eine Debatte über ihre Nase die nächtliche Scene mit dem Kronsyndikus veranlaßt hatte …

Terschka wiederum, in dessen Ohr noch bei dem Worte: Fräulein Lucinde Schwarz! die Bezeichnung: Eine ultramontane Emissärin! von der Villa der Gebrüder Fuld nachklang und der sich seitdem gleichfalls auf die Tage von Kiel besonnen hatte, Terschka begleitete alles, was er sprach, mit Blicken, die sich zwischen Lucinden und Monika theilten.

Monika saß in tiefem Ernst und spielte zerstreut mit ihrem Fächer. Terschka war vor wenig Stunden angekommen, um noch die Gräfin vor ihrer Weiterreise zu[222] begrüßen. Ohnehin zu spät eingetroffen, mußte er in dieser Nacht wieder zurück … In seinem ganzen Wesen lag die Elasticität der Aufregung, die für Monika vollkommen verständlich gleichsam ausdrückte: Auch nur eine Stunde in deiner Nähe verweilt – und ich bin überreich belohnt!

In dem Bericht über die außerordentlichen Heilungen, die man Paula verdankte, fiel bei Erwähnung der Gesichte, die Paula sähe, das Wort:

Der Teppich, auf dem der Domherr von Asselyn als Archipresbyter zu Sanct-Libori nächstens die erste Messe lesen wird, stellt eine Vision der Gräfin vor. Der sogenannte Philosoph von Eschede, Doctor Laurenz Püttmeyer, hat diese Vision gezeichnet und vierundzwanzig Stiftsdamen und Freifräulein der Umgegend stickten bisher Tag und Nacht daran. Das Ganze ist jetzt vollendet und sieht sich an wie eine Offenbarung Dante's …

Für Lucinden lagen in jedem Worte dieses Berichts durchbohrende Nadeln und Stacheln des Neides und der Eifersucht …

So würden wir ja, nahm eine ihr wohlbekannte Stimme die Rede auf, die Erscheinung der heiligen Hildegard noch einmal haben, die bekanntlich schon ebenso viel von der Natur wußte, wie Alexander von Humboldt, und noch dazu in einem viel wahreren Geiste …

Der Sprecher war der Außerordentliche. Mit einem artigen Gruße an Lucinden hatte er sein: »Bekanntlich« gleich im Ton als »unbekannterweise« gegeben und fuhr deshalb docirend fort. Er ahnte nicht, daß zufällig eine anwesende Person im Leben jener Heiligen, deren »Physik«[223] seit einiger Zeit durch die Bekenner der »frommen Naturwissenschaften« bekannter geworden, sehr heimisch war …

Sie kennen Bingen, meine Herrschaften? fuhr der Professor mit hochliegender Stimme fort. Sie kennen den höchst vortrefflichen Scharlachberger der Beste Klopp und die Lokalerinnerungen an Kaiser Heinrich IV.? In der Nähe dieser gegenwärtigen Victoria-Hotels und Bellevues lag sonst das Kloster Disibodenberg, dessen Aebtissin vor achthundert Jahren Hildegard gewesen ist, die Tochter eines adeligen Vasallen der Grafen von Sponheim. Schon im dritten Lebensjahre hatte sie Visionen. Sie gab ihr Erbe auf, schenkte es der Kirche, wurde Benedictinernonne und lebte schon hienieden im Geruch der Heiligkeit. Sie sah den Himmel offen, heilte, that Wunder, schrieb, ohne die Sprache gelernt zu haben, im entzückten Zustande Latein. Sie war eine Gotterleuchtete, die nach allen Richtungen hin Spuren ihres Geistes zurückließ. Ich nenne nur ihre Einsichten in die Naturwissenschaften. Sie hat vom Bau des menschlichen Körpers, von den Kräften der Luft, des Wassers und Feuers mehr gewußt, als die atomistische Physik des achtzehnten Jahrhunderts!

Lucinde dachte bebend an Paula …

Die Frau aber mit den silbernen Locken, die sich von der Hitze des Zimmers lösten und lang in ihren Ueberwurf hinunterglitten, den sie jetzt öffnen mußte, erwiderte plötzlich scharf und bestimmt:

Die heilige Hildegard war im Gegentheil beinahe eine Vernunftgläubige![224]

Alles horchte auf …

Wie so? fragte der Außerordentliche, stutzig über den Muth der Interpellation und ein in dieser Gesellschaft gebrauchtes anstößiges Wort …

Monika erwiderte:

Jede Zeit hat ihre eigene Art, den Antheil für edlere Dinge auszudrücken. Was in unserm Jahrhundert die Philosophie ist, war vor achthundert Jahren das Christenthum …

Bitte! Erlauben Sie! unterbrach der Professor hocherstaunend … Aber ein Glück für den Vater, daß dieser in einem hintern Zimmer am Whisttische saß. Sonst hätte er erlebt zu hören, daß die allgemeinste Spannung über die gelehrte muthige Frau seinem Sohn, seinem Stolz, ein zischendes St! rief – und das in einem Kaufmannssalon …

Frau von Hülleshoven fuhr bei der im Zimmer eingetretenen lautlosen Stille fort:

Wenn eine Zeit voll Barbarei der Wunder bedarf, um sich dem göttlichen Weltplan zu fügen, so geschehen auch Wunder. Der Mensch macht seine eigenen Thaten dann selbst dazu und läßt immer nur Gott die Ehre. Die Eingebungen einer Hildegard kamen aus der Sphäre, ja geistigen Sprache her, die damals allein verstanden wurde und allein wirkte. Das Christenthum in der Bedeutung, wie wir es jetzt zu citiren pflegen, ist dabei ganz unwesentlich!

Das ist ja offene Ketzerei! warf der Gegner dazwischen, lächelnd freilich und noch verbindlich … Aber wieder[225] mußte er erleben, daß ihm gezischt wurde. Man zischte auch über das harte Wort gegen eine Dame …

Nennen Sie es, wie Sie wollen! fuhr mit einem eigenthümlich bittern Lächeln die jugendliche Sprecherin fort. Ich verweise Sie nur auf die vielen Bestätigungen, die Hildegard für meine Behauptung gegeben hat. Sie hat bei ihren Visionen immer nur das praktische Leben und die Besserung der Sitten im Auge gehabt. Hildegard war eine kleine schwächliche Person, immer kränklich, jedenfalls von einer somnambulen Anlage …

Gräfin Paula ist schlank wie eine Tanne! warf Terschka hinein, artig – doch offenbar in der Absicht, Monika zur Mäßigung zu mahnen …

Diese fuhr jedoch fort:

Hildegard sah Erscheinungen, Engel und sie heilte. Aber ihre Visionen waren von einer strafenden und ermahnenden Tendenz. Ihre Heilungen erfolgten nicht ohne Beistand ihrer Kräuterkunde und die Beobachtung des menschlichen Körpers. Sie ermahnte den Papst, der kranken Kirchenzucht zu helfen. Sie gerieth in Streit mit dem Erzbischof von Mainz über die Beschuldigung, einen Excommunicirten auf dem Gottesacker ihres Klosters bestattet zu haben. Sie machte sogar Reisen. Daß sie dabei nur die Klöster besuchte, lag im Charakter einer Zeit, wo es noch keine Victoria-Hotels gab und eine Frau mit einigen weiblichen Begleiterinnen nicht auf Ritterburgen übernachten konnte. Die Klöster waren für jene Zeit vortrefflich. Sie waren die Herbergen, die Gasthöfe jener Zeit. Sie besuchte Paris. Denken Sie[226] sich eine Reise nach Paris in jener Zeit! … Eine Reise nach Paris für eine Frau!

Auf einer Reise nach Paris würde man jetzt allerdings nicht mehr in Klöstern absteigen! warf eine Stimme hinter der sich mehrenden dichten Gruppe ein …

Nück's Stimme! sagte sich Lucinde, als alles lachte …

Sie und die Sprecherin waren der Mittelpunkt geworden und Terschka's Augen ließen weder von ihr, noch von Monika …

Monika fuhr in dem Gemurmel der Freude, den volksthümlichen Nück zugegen zu wissen, fort:

Wie vernünftig, wie praktisch diese Heilige war, beweist auch der Umstand, daß sie zwar bis in ihr achtzigstes Jahr Wunder verrichtet haben soll, aber im Tode gänzlich damit aufhörte …

Ein Geflüster und Lächeln …

Bitte! unterbrach der Professor der gläubigen Naturwissenschaften. Der Erzbischof von Mainz verbot der Todten ausdrücklich, noch Wunder zu verrichten!

So viel Ghibellinen hatte Piter eingeladen, daß jetzt sogar die Welfen über diese Aeußerung mitlachen mußten …

Man muß das anders erklären! erwiderte Monika, während der Außerordentliche sich im Kreise rundum schaute und strafende Blicke nach allen Seiten austheilte. Es wäre manchmal sehr schön, wenn man die Reize des Niederwaldes und die Aussicht vom Victoria-Hotel auf Rüdesheim auch den Engländern in Bingen verbieten könnte. Der Zudrang zum Grabe der Heiligen wurde so groß, daß man den daraus entstehenden Unordnungen[227] steuern mußte. Deshalb verbot der Erzbischof der todten Aebtissin die Wunder. Und die Heilige erschien dann dem Erzbischof von Mainz und erklärte ihm, sie wollte ihm auch noch im Tode gehorsam sein. Das war aber lediglich eine Ironie der vortrefflichen Frau; sie hatte ihr Lebtag so viel Aerger mit den Vorgesetzten der mainzer Erzdiöcese gehabt, daß sie ihnen auch noch im Tode gelobte, ihren Willen zu thun.

Ein schallendes Gelächter brach aus …

Die Entrüstung des Außerordentlichen steigerte sich so, daß sie jetzt schon von Johannen, seiner Verlobten, heimlich beschwichtigt werden mußte …

Lucinde, die nur ruhig beobachtete, würde mehr aufgethaut sein, wenn sie nicht fast physisch gefühlt hätte, wie Nück, den sie nicht sah, sie beobachtete …

Aber, fuhr die scharfe Frau zur Mehrung ihres Triumphes fort, aber auch wahrhaft liebende und geistvolle Freunde hat die Aebtissin gehabt! Das müssen Sie schon darum zugeben, weil sie des Lateinischen unkundig war, nur im magnetischen Zustande etwas davon wegbekam und doch soviel Schriften gerade in dieser Sprache hinterlassen hat. Ein einfacher Beichtvater, von dem die Welt nur weiß, daß der Treffliche Pater Gottfried hieß, war ein so treuer Freund ihrer Seele, daß er alles niederschrieb, was sie in den Wolken gesehen zu haben vermeinte, und es dann noch später mit ihr ausarbeitete. Dieser bescheidene Mönch war also noch etwas mehr, als Goethen sein Eckermann. Er war der Geist einer Frau, die keinen Körper, nur eine Seele gehabt zu haben scheint. Gottfried selbst stand unter dem Eindruck ihrer Bezauberung.[228] Er hörte seine Freundin, die auf dem Bette lag, phantasiren. Sie dictirte ihm die Briefe an die, die ihren Rath begehrten. Sie sprach deutsch und sein Ohr hörte und seine Feder schrieb Latein. Er übersetzte nichts, er schrieb die Gesichte seiner Freundin gleich in seiner geistigen Muttersprache nieder. Das war gerade so, wie Plato den Sokrates Dinge sagen läßt, die er nie gesprochen und die Plato darum doch nicht log. Aus Sokrates' Geiste dichtete Plato seine Dialogen; die Dichter lügen nicht, wenn sie auch noch soviel erfinden. Oder glauben Sie nicht, daß Sokrates somnambul war? Jeder große Geist ist somnambul. Jeder Genius hat einen Dämon wie Sokrates. Jeder Heroe handelt unzurechnungsfähig. Diese Hildegard war die einzig mögliche Diotima des Mittelalters. Aber welche Thorheit, wenn man noch jetzt in ihrer alten Sprache lallen wollte! Ich möchte wol wissen, wenn man die Gräfin Paula fragte, was Hildegard gefragt wurde, als der Dechant Philipp von Köln an sie schrieb, ob sie in ihren Visionen nichts über den kölner Klerus gesehen hätte? …

Ueber den kölner Klerus? rief man durcheinander … Lucinde lachte mit in den Chor hinein. Sie fühlte Schadenfreude – über eine Gegnerin Paula's …

Gewiß, gewiß! sagte Monika. Die Nonne von Dülmen hätte schwerlich auf diese Frage wie Hildegard geantwortet! Sie hätte ohne Zweifel alle Domherren von Köln für künftige Heilige erklärt!

Ein neuer Sturm …

Aber Hildegard? Was sagte sie denn? drängte man … Die Zahl der Umstehenden nahm immermehr zu …[229]

Hildegard antwortete zuvörderst: Der ewige Gott, der da ist, war und sein wird, wird alle Runzeln der Zeit ausglätten! Wer ist dieser Gott? fährt sie fort. Die Sonne ist das Licht seiner Augen, der Wind sein Gehör, die Luft sein Geruch, der Thau sein Geschmack. Der Mond ist Gottes Uhr, die Sterne sind sein Denken, denn in ewigen regelmäßigen Kreisen dehnt sich alles Denken … Hat wol die Nonne von Dülmen jemals die Gottheit so erhaben definirt? Sie sah nur Nägelmale und blutende Heilandswunden!

Eine Todtenstille trat ein …

Man würde Hildegard jetzt für eine Pantheistin erklären! bemerkte Terschka vermittelnd, während der Außerordentliche vor Staunen und Befremdung über diese Sprache in aller Blicken zu lesen suchte …

Noch mehr! fuhr Monika unerschrocken fort. Die heilige Hildegard war Vulkano-Neptunistin, schon achthundert Jahre vor den Theorieen Cuviers über die Bildung der Erdrinde. Sie sagt an jener Stelle, Gott spräche: Steine hab' ich aus Feuer und Wasser gegossen und die Erde aus Feuchtigkeit und Keimkraft dargestellt. Ich habe Gewölbe ausgeweitet, welche die Körper tragen, um dieselben her befindet sich die Feuchtigkeit zu ihrer Befestigung. Hätten die Wolken nicht das Feuer und das Wasser, so würden sie wie Asche sein …

In das Erstaunen der Zuhörer und der Bewunderung vor dieser seltsamen, jetzt fast feierlichen jungen Frau, mischte sich wieder von hinterwärts her die helle und scharfe Frage aus der Menge:[230]

Aber bitte, bitte! Was sagte sie über die kölner Geistlichkeit?

Lautes schallendes Lachen …

Es war wieder die Stimme des geliebten, populären Redners … Lucinde sah ihn nicht …

Sie vergleicht die Würde der Geistlichkeit zuerst den höchsten Erscheinungen in der Natur! fuhr Monika fort und eklipsirte den Außerordentlichen heute bis zur vollständigen Nullität. Abel, Noah, Abraham, Moses, alle wären Priester gewesen, sagte Hildegard, und hätten in Gottes Haushaltplan der Schöpfung eine große Rolle durchgeführt; die vier Propheten wären wie die vier Weltgegenden zu betrachten, die die Erde begrenzten. Und die kölner Geistlichkeit – nun von der, sagte sie, die – ich wiederhole wörtlich – die – blase schlecht auf der Posaune der Gerechtigkeit …

Die Erinnerung an die Baßposaune erzeugte ein fortgesetztes Gelächter. Denn selbst die Welfen waren mit den jetzigen Kundgebungen ihres plötzlich über den Kirchenstreit eingeschüchterten Kapitels nicht im mindesten einverstanden …

Eine Posaune, fuhr Monika, als die Zuhörer sich beruhigt hatten, fort, ist ein so erhabenes Instrument, daß es seine Intervallen haben muß. Bei aller Verehrung vor dem Talente, das uns vorhin die süßesten Arien auf ihr vorgetragen hat, würden Sie doch von diesem erhabenen Instrument keinen Walzer hören wollen (Piter hatte allerdings gerade einen Strauß'schen Walzer auf der Baßposaune als die Girandole des Abends und den Uebergang zum gemüthlichen »Ulk« bestellt gehabt).[231] Die kölner Geistlichkeit aber blies sozusagen die Posaune der Gerechtigkeit in diesen Sechszehntelnoten, d.h. wie die Heilige sagt, »ohne Einhaltung passender Zeiten« und manchmal gar nicht und manchmal im »Uebermaße« und manchmal heftig und dann ganz abbrechend, kurz ohne jede wahre musikalische Empfindung …

Ein allgemeines beifälliges Murmeln deutete an, daß man diese Ungleichmäßigkeit des priesterlichen Wirkens vollkommen verstand …

Sie will sagen, fuhr Monika fort, ihr übt euer Amt gedankenlos, seid streng aus Gewohnheit, verhängt Strafen ohne zu überlegen, wie die Fälle sind! Ihr seid, schreibt sie, eine finsternißathmende Nacht, ein Volk, das aus Ueberdruß an zu vielem Licht nicht länger darin wandeln mag! (»Ueberdruß an zu vielem Licht« – Lucinden fiel ein Schlaglicht – auf den gefangenen Klingsohr.) Sie tadelt die kölner Handwerksmäßigkeit in der Uebung des Priesteramts. Auch die Sünden der Leidenschaft fehlten nicht und doch wolle man daselbst »die Ehre der Heiligkeit ohne Anstrengung« gewinnen. Sie vermißt das reine Feuer und den Duft der Lieblichkeit …

Das Gemurmel wurde so groß, daß der Außerordentliche sich dem Beifall anschließen mußte und sogar für die Bemerkung: Und vergessen Sie nicht, gnädige Frau, daß die Heilige selbst in Köln gewesen ist! Beifall erntete …

Um so mehr also! ergänzte Monika. Und sollte man nicht glauben, daß sie schon die Neigung der Kölner für Männergesang und Carneval gekannt hat, wenn sie – ich bitte die lieblichen Sänger von vorhin um Vergebung[232]  – sagt: »Ihr aber seid schon durch jeden fliegenden weltlichen Ruhm überwunden, sodaß ihr euch sogar als singende Possenreißer hinstellt!«

Bravissima! rief glücklicherweise das ganze Quartett selbst; es war vom Erfolg seiner Lieder im höchsten Grade befriedigt … Moppes gab das Signal … Monika sprach auch so lächelnd, daß sie nicht verwunden konnte … Ihre grauen Locken hatten etwas so lieblich Elegisches, daß jeder entwaffnet war …

Terschka freilich wurde immer unruhiger und wechselte wieder Blicke mit Lucinden, die aufs neue durch Nück's Stimme erschreckt wurde …

Und die Kaufleute! Die Kaufleute! rief Nück, gleichsam den Uebermuth der Kaufleute, die hier so viel auf Kosten anderer lachten, strafend …

Sie spricht nur von der Geistlichkeit! fuhr Monika fort. Die Pfründen wirft sie ihnen' vor, wenn sie sagt: »Wegen eures Reichthums unterweist ihr eure Untergebenen nicht und gestattet nicht einmal, daß sie bei euch Belehrung suchen, indem ihr sprecht: Alles können wir nicht ausrichten!«

Wiederum ein schallendes Gelächter … Selbst der Kanonikus war vom Spieltisch vorgekommen, zog in dem allgemeinen Jubel seine Dose und fand die Moral auch jetzt im höchsten Grade noch anwendbar. Denn wie oft war nicht gerade erst kürzlich bei der Ernennung eines so jungen Domherrn, wie Bonaventura, in der engeren Curie gesagt worden: »Alles können wir nicht ausrichten!« … Die Commerzienräthin stand in der Nähe. Sie war vielleicht die einzige, die nicht[233] wußte, wovon die Rede war, aber sie lachte mit, da sie den Kanonikus lachen sah.

Ich will die dann folgenden Rügen gegen die mangelnde Sittlichkeit der kölner Geistlichen nicht wiederholen! fuhr Monika fort. Auch sind mir die Ausdrücke entfallen. Nur die ganz besonders überraschenden, die ich noch kürzlich las, weil meine Reise mich auch nach Köln führen soll, prägte ich mir mit Vorliebe ein. So macht sie der kölner Geistlichkeit den Vorwurf der diplomatisirenden Nachgiebigkeit …

Aha! murmelten die Fanatiker …

Das Predigen und Lehren, das starke Zeugen für Gottes Gesetz wäre dort nicht an der Zeit mehr!

Aha! Aha!

Ja, daß die Heilige dann den Kölnern die Reformation prophezeit, ist allbekannt …

Wie? fragten die Ghibellinen staunend … Unter den Welfen verbreitete dies Stichwort sofort eine ängstliche Stille.

Terschka winkte Monika … Aber sie fuhr fort:

Nein! Nein! Fürchten Sie nichts! In diesem Punkt ist die heilige Hildegard so beschränkt wie die Nonne von Dülmen und wahrscheinlich auch wie – die »Seherin von Westerhof« …

Terschka wurde immer unruhiger und sprach mit seinen flammenden Augen: Mäßigung! Mäßigung!

Trotz des Schweigens, das nun eintrat, fuhr Monika fort:

Wo ist jetzt wol eine Ekstatische, die so den Papst, die Erzbischöfe, die Domherren und Priester strafte, wie[234] diese Aebtissin! Aber leider – in Einem war sie schwach. Sie lebte in einer Zeit, wo es der Ketzer schon genug gab, in einer Zeit, wo man die Albigenser und Waldenser in Frankreich und in den piemontesischen Thälern mit Feuer und Schwert vertilgte. Die Glaubensgerichte konnten nur den ketzerischen Lehren, aber bekanntlich nicht den vortrefflichen Sitten der Ketzer beikommen. So ergibt sich Hildegard in diese Gewißheit, daß auch die künftige große Reaction gegen die kölner Geistlichkeit zwar vom Teufel ausgehen, aber ein außerordentlich klug gewähltes Gewand tragen würde. Sie sagt, das Volk würde diesen gemäßigten, in Zucht und Ehren lebenden neuen Predigern allerdings anhängen. Der Teufel stünde mit verborgenem Leuchter, daß man ihn nicht sehen könne, und spräche: Ha, ha! Da glauben sie immer, ich müßte in Gestalt von Thieren, von Drachen oder von Fliegen kommen! Aber ich mache mich auch einmal den Propheten »ein wenig ähnlich!« Nun will ich machen, daß man tugendhaft nicht blos scheinen, sondern auch sein kann und doch nicht in Gott lebt!

Und ehe man noch über die Schärfe dieser Reden sich sammelte, wiederholte Monika:

Tugendhaft sein, nicht etwa blos scheinen, sondern sein, und doch nicht von Gott stammen!

Monika wollte die Verurtheilung dieser Verblendung.

Aber der Außerordentliche rief:

Das ist ja ein erhabenes Wort! Das ist ja die Selbstherrlichkeit Ihrer Philosophie! Trefflich! Trefflich! Darin findet die Heilige die künftige Hölle der kölnischen[235] Geistlichkeit! Die scheinbare Logik der Kirchenverbesserung ist es ja, die scheinbare Tugend ihrer Bekenner, die scheinbare Aehnlichkeit mit den Propheten, die scheinbare Größe der, wie man sich rühmt, reiner erkannten Schrift, dies ewige Frösteln in der gemäßigten Temperatur des Rationalismus, das zu sehen, das der Menschheit genügend finden zu sollen, ja allerdings das kann und muß für jede rechtgläubige Seele schon auf Erden die Hölle sein!

In ein Murmeln der Ghibellinen hinein entgegnete Monika:

O häufen Sie nicht soviel Schmach über das arme kleine kranke Mütterlein, das da in seiner binger Klosterzelle so Großes und so Entsetzliches träumend lag! Wer weiß, ob ihr treuer, mit ihr alt gewordener Freund, der Benedictiner Gottfried nicht zitterte vor dem, was sie sah und er gehorsam der Hocherleuchteten nachschreiben sollte! Immer hatte sie den schönsten, liebenswürdigsten Wahrheitsdrang, den es nur in einem Frauenherzen geben kann, aber daß sie vor einem andern Lehrsatze erschrickt, als dem, in dem sie unterrichtet wurde, das ist die Unreife ihrer Zeit. Und daß sie noch so gerecht ist und dem Teufel einräumt, ein so guter Schauspieler zu sein! Die Ketzer sind tugendhaft, sagt sie, aber traut dieser Tugend nicht! Diese Tugend stammt nicht einmal aus Verstellung – das schreibt sie wörtlich – nein, der Teufel gab den Albigensern und Waldensern, die Innocenz III. mit Feuer und Schwert vertilgt wissen wollte und deren er allein bei Schloß Castellungo im Piemontesischen Hunderte verbrennen ließ, die Kraft, wirklich tugendhaft zu sein,[236] wirklich die Sitte der Frauen zu schonen, wirklich enthaltsam zu sein, aber – der Teufel erfüllte nur die »Luft mit solchen Geistern«, daß sie sagten: O wir sind heilig und vom Heiligen Geiste durchgossen! Das Volk wird sich, fährt sie fort, an ihrem Wandel erfreuen, wird ihnen folgen; sie werden sogar die guten Streiter der rechtgläubigen Kirche schonen, hören Sie, schonen d.h. diese Unglücklichen werden, wenn sie einmal ein klein, klein wenig Macht haben, gegen Andersdenkende liebevoll und tolerant sein … aber alle diese Beweise von Milde und Güte sieht die arme kleine unglückliche gebrechliche Frau nur als Lügen an; alles muß der Teufel gemacht haben, alles, alles, was sie beinahe schon liebt, schon bewundert! Ist das nicht entsetzlich? Die Albigenser und Waldenser wurden mit Feuer und Schwert vernichtet, sie starben in den Flammen mit einem Hosianna, sie waren liebevolle Väter, treue Gatten, zärtliche Gattinnen, aufopfernde Mütter, gehorsame Kinder; aber – daß sie alles das waren, das hatte der Teufel nur so in die Luft »gezaubert«! Gezaubert! Das die Welt glauben zu machen, war von Seiten Roms gewiß die größte Zauberei!

Die junge Frau hatte sich erhoben …

Zwar stand ihr die Leidenschaft, mit der sie ihre Ueberzeugungen aussprach, herrlich schön … Ihr Auge blitzte voll göttlichen Feuers … Ein Zug des Schmerzes um die beredten Lippen gab ihrem Vortrage und der Geltendmachung ihrer Kenntnisse soviel Ueberzeugtes und Ueberzeugendes, daß sie die Königin des Abends gewesen wäre, wenn nicht eine ängstliche Stille[237] ihrer Rede gefolgt wäre, alles auseinander ging und Terschka, aufspringend, bemüht gewesen wäre, wenigstens scherzend die Stimmung wieder in den für diese Stadt und solche Gesellschaft angemessenen Geist hinüberzulenken. Sie sind krank! flüsterte er ihr heimlich zu'; dann rief er mit schnell sich fassender Geistesgegenwart:

Gnädige Frau, das erinnert mich ja ganz an eine Aeußerung Ihres Fräuleins Tochter! Fräulein Armgart bekam durchs Loos an dem Teppich für den Domherrn von Asselyn einen Theil zu sticken, auf dem ein häßlicher Drachenkopf abgebildet ist. Erst war sie darüber ganz außer sich! Hernach sagte sie, daß sie den Drachenkopf schon ganz lieb gewonnen hätte und sie nun wohl einsähe, wie man sich so auch durch längern Umgang an den Teufel gewöhnen könnte!

Der noch gebliebene Kreis ging auf Terschka's gute Laune ein und rasch fuhr er fort:

Ja, meine Damen! Das wird ein Prachtstück werden! Es ist, wie gesagt, eine Vision der Gräfin! Der Körper des heiligen Liborius wurde aus Frankreich hierher herübergebracht zum Geschenk von Kaiser Ludwig dem Frommen. Dem Schrein voraus, erzählt die Legende, zog wunderbarerweise ein Pfau, der sich der feierlichen Procession angeschlossen hatte und nicht weichen wollte. Der Vogel des Stolzes wurde der Vogel des Triumphes. In der Vision der Gräfin ist er riesengroß und schlägt ein majestätisches Rad durch alle Himmel und über die Erde und über die Hölle. Der Regenbogen ist es, den die letzten Augen seines Schweifes[238] bilden. In den Ecken sitzen geflügelte Löwen und Leoparden und tief unterwärts Drachen und Lindwürmer. Nach Comtesse Paula sollte der Pfau, der der Verherrlichung des heiligen Liborius gewidmet ist, auf seinem Haupte die dreifache Krone tragen. Da man aber vom hochwürdigsten Sitz des Heiligen Vaters leicht ein unehrerbietiges Bild darin hätte sehen können, substituirte man als Haupteszierde des Pfauen ein Kreuz …

In dem Geplauder fing man an sich zu zerstreuen …

Eine Furcht vor einer so über alles Maß hinausgehenden Meinungsäußerung wie bei Monika schien sich der Meisten bemächtigt zu haben und der Außerordentliche triumphirte …

Da es zum Souper zu gehen schien, erhob sich auch Lucinde, die sonst in der Laune war, zu jedem Fiasco, das jemand machte, schadenfroh zu lachen …

Die Gräfin las den Dante! sagte sie zu Monika und suchte durch ein Lächeln die hier verfehlte Wirkung ihrer Vertheidigung der Reformation zu zerstreuen …

Mit Ihnen! ergänzte Terschka, sich schnell einmischend …

Sie hatte allerdings mit Paula zusammen italienisch gelernt …

Lieben Sie Dante? fuhr Terschka fort …

Lucinde schüttelte den Kopf … Es war ihr in ihrem Leben von Klingsohr so viel über Dante gesprochen worden, daß sie ihn schon deshalb nicht mochte …

Recht, mein Fräulein! sagte Monika, bitter lächelnd über die Welt der Vorurtheile. Auch ich mag ihn nicht, diesen finstern Italiener …[239]

Der Professor kam, um den Wirth zu machen, mit Tellern und offerirte verbindlich und ironisch …

Wen? fragte er … Wen mögen Sie nicht leiden?

Dante, Dante! sagte Terschka …

Wie? lautete ein ironisches Erstaunen; Dante nicht, der – den Päpsten doch fluchte?

Sie lieben ihn also! Und warum? entgegnete Monika und stellte den Teller sich zur Seite auf einen nahe stehenden Tisch, da sie nicht essen mochte und sich zum Gehen rüstete …

Weil Dante für seine Zeit der größte aristokratische Dichter war! Und für unsere Zeit ist er der katholischste!

Damit entschlüpfte er triumphirend …

Ich mag ihn nicht, grollte Monika düster vor sich hin, während Terschka einen Tisch arrangiren wollte und sie zurückhielt …

Fast wäre sie geblieben, als sie aus Lucindens Munde durch folgende Worte überrascht wurde:

Ich finde an Dante peinlich, sagte das ihr jetzt erst auffallende schöne junge Mädchen, wie er sich müht, Martern zu ersinnen, die er seine Gegner erleiden läßt! Weil ihn seine Mitbürger aus Gründen nicht mochten, ruft er die Fremden zu Hülfe, will Italien mit Feuer und Schwert von den Ghibellinen und den Deutschen verwüstet haben und läßt alles, was ihm persönlich oder seinem Princip misgünstig scheint, in der Hölle gemartert, gesotten und gebraten werden. Eine grellere Einbildungskraft hat es noch nie an einem Dichter gegeben, als sich hinzusetzen und zu grübeln) welche Qualen dem oder jenem[240] seiner Feinde einst zu Theil werden würden! Und wen wirft er nicht alles in seine Hölle! Einen Brutus, einen Cato, einen Cassius! Ueberall wittert er Unordnung in seinem Sinn und Freiheit und was darunter die florentinischen Gilden verstanden haben mögen, die nur seinen hohen Werth nicht anerkannten, nicht seine gelehrten Verse mochten, in die er, wie er sagte, seine Feinde lebendig einmauern wollte. Beatrice liebte er, nur um ein Ideal für seine Phantasie zu haben; im Leben und als Person war sie ihm völlig gleichgültig. In der That, wenn ich die wie mit Gift geschriebenen Verse Dante's lese, diese lang hingezogen sich ringelnden Terzinenschlangen und Molche, diese dem Verstand abgequälten Bilder und Allegorieen, zu denen man, um sie zu verstehen, dicke Commentare lesen muß, so könnt' ich mich wie eine welfische Löwin fühlen, die mit dem demokratischen Haß eines Vorstehers der florentinischen Schustergilden dem Adler der Ghibellinen den Kampf anbieten könnte. Ich sympathisire dann mit den Mönchen, die auf den Zinnen der italienischen Mauerthürme gegen die Ghibellinen kämpften –

Ein Savonarola war unter ihnen! fiel Monika voll Staunen und gesteigerter Theilnahme ein …

Pötzl, der Träger der Bologneser, unterbrach eine fast leidenschaftliche Annäherung Monika's und sprach heimlich mit Lucinden …

Monika fuhr inzwischen fort:

Und da muß ich wieder Mutter Hildegard eine wunderbare und liebliche Poetin nennen. Die blickt auch in die Hölle, aber sie schmort und kocht und foltert die[241] Gottlosen doch nicht so greulich, wie dieser Dante, dessen Bild mit seiner langen Nase und dem dicken über die Kapuze gezogenen Lorberkranz ich nie sehen kann, ohne an ein altes Weib zu denken …

Lucinde wurde zur Commerzienräthin abgerufen, die bei ihrem fortwährenden Patrouilliren und dem dutzendmal wiederholten Worte: »Haben Sie denn auch ein Glas?« naturgemäß jetzt überall auf Pitern zurückkommen mußte. Das Muttergefühl und die Sorge der Hausfrau siegte über die Liebe zu den Bolognesern und zu den Hausfreunden und zu hundert Fremden, mit denen sie Conversation begann und nach fünf Worten wieder abbrach. Lucinde bekam den bestimmtesten, ja von »Verzweiflung« dictirten Auftrag, eine Recherche nach der jetzt constatirten »ja furchtbar ängstlich werdenden und ein Unglück ahnen lassenden« Abwesenheit Piter's anzustellen.

Sie mußte sich besinnen, daß sie hier im Hause eine Dienende war …

Monika sah, daß Terschka ihr einige Schritte folgte …

Wer ist das schöne, seltsame Mädchen? fragte sie, als er zurückkehrte …

Sie stand allein und Terschka nützte seinen Vortheil. Zwar machte er ihr ernstliche Vorwürfe, doch wurden sie von der Glut seiner Huldigungen gemildert …

Monika hörte nur wenige seiner Worte, riß sich los und trat wie fliehend aus dem Zimmer …

Der Abend rauschte und wogte dahin …

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 4, Leipzig 1859, S. 203-242.
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