Geständnisse über Religion und Christentum

[106] Ich will über den Glauben der Völker sprechen. Aus dem melancholischen Schweigen des Heidelberger Schlosses hol' ich mir abendlich die Geheimnisse jener frommen Naturreligion, für die ich glühe. Alles Historische aber, was ich zu fixieren habe, knüpf' ich an jene kleine Herberge jenseits des Neckar an, wo Luther auf der[106] Reise nach Worms sein Frühstück zu berichtigen vergessen haben soll, ein Frühstück, das der Protestantismus dem Katholizismus so teuer hat bezahlen müssen.

Religion ist Verzweiflung am Weltzweck. Wüßte die Menschheit, wohin ihre Leiden und Freuden tendieren, wüßte sie ein sichtbares Ziel ihrer Anstrengungen, einen Erklärungsgrund für dies wirre Durcheinander der Interessen, für die Tapezierung des Firmaments, für die wechselnde Natur, für Frost, Hitze, Regen, Hagel, Blitz und Donner, sie würde an keinen Gott glauben. In progressiver Entwicklung folgt hieraus dreierlei: der natürliche Ursprung der Religion, die Accomodation der göttlichen Begriffe an den jedesmaligen Bildungsgrad und zuletzt die Unmöglichkeit historischer Religionen bei steigender Aufklärung.

Dem Begriffe Offenbarung läßt sich vielleicht eine philosophische Unterlage geben, pantheistischer Art; aber im herkömmlichen theologischen Sinne ist die Offenbarung eine Verfälschung der Natur und der Geschichte. Eine saubre Insinuation, sich Gott als Priester zu denken, der im schwarzen Talare zu dem ersten Menschenpaar hinzugetreten wäre und ihm Unterricht gegeben hätte in glaublichen und unglaublichen Dingen! Sie machen aus Gott einen Souverän, einen Patriarchen, einen Geistlichen. Sie lassen Gott in sehr unvollkommnen Sprachen reden, zu Zeiten, wo es an stilistischer Vollkommenheit noch überall fehlte. Niemand war in diesen anthropomorphistischen Konsequenzen einer supernaturellen Offenbarung kecker als die Apostel Jesu; denn: alle Schrift von Gott eingegeben heißt: in der Lehre von der Inspiration Gott zum Mitschuldigen aller der Solöcismen und inkorrekten Konstruktionen machen, welche sich im griechischen Texte des Neuen Testamentes finden. Gewisse Kapitel gibt es in den dogmatischen Systemen unsrer Theologen, die sich besser für Grimms »Kindermärchen«[107] oder »Tausend und eine Nacht« schicken würden. Dazu gehören die kriminalisch strafbaren Dogmen von der Offenbarung und Inspiration.

Je naiver die Völker sind, desto sinnlicher und äußerlicher ihre Begriffe vom Weltzwecke: je gebildeter jene, desto geheimnisreicher diese. Die Verwechselung endlicher und unendlicher Ursachen der Weltregierung lag nahe, und so kam es, daß das Altertum so viel Historisches in Mystisches, Mystisches wieder in Himmlisches verwandelte. Der Naturmensch versteht die Welt nur so weit, wie sein Auge reicht. Alles, was über den Sehkreis seiner sinnlichen Vorstellungen hinausliegt, scheint ihm die erklärende Veranlassung der Unerklärlichkeiten zu sein, die ihn in nächster Nähe umgeben. Daher die zahllosen Details im Glauben der alten Völker: daher die Übertreibungen der Phantasie, das Ungeheure in Zahlen und Formbildungen. Die alten Religionen sind so ausschweifend wie alles, was man, ich sage nicht, nicht kennt, sondern wie alles, das man noch nicht gesehen hat. In diesen Unförmlichkeiten Entstellungen alter Überlieferungen zu finden, einfache, aber tiefsinnige Keime einer urweltlichen Offenbarung oder auch nur eines heiligen, frommen und simpeln Zeitalters: das heißt, von einer kindischen Ansicht, die wir schon erwähnten, nur eine ernsthafte Anwendung machen.

Das klassische Altertum hatte den schönsten Ausdruck für das religiöse Prinzip der alten Welt: Religion ist alles, was man entweder selbst nicht ist oder nicht kennt. Die Griechen, mit ihren östlichen Ahnen und deren architektonischen Vorstudien der vollendeten heidnischen Idee, die Griechen setzten die Religion in die Kunst, sie setzten sie in das, was im Ungewissen immer das Gewisse ist, in das Maß aller Dinge, in den Menschen. Man konnte eine einseitige Idee nicht schöner ausdrücken und konnte doch zu gleicher Zeit nicht tiefer sinken. Wenn die Menschheit nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen ist, so war sie jetzt da wieder angekommen, von wo sie ausging. Wir[108] werden uns, solange die Erde kreist, in Zirkeln bewegen. Hier war ein Zirkel, dessen Anfang sich in sein Ende zurückbog.

Wäre das Heidentum ohne Kultus gewesen, warum hätte die Menschheit nicht an ihm Genüge finden sollen? Aber die Priester der Religionen pflegen immer diejenigen zu sein, welche ihre Religionen selbst untergraben. Könnten sich die Religionen von Gebräuchen, Äußerlichkeiten, von der Zudringlichkeit ihrer berufenen und verordneten Diener frei erhalten, so würden sie eine längere Dauer in Anspruch nehmen dürfen. Das Heidentum war Poesie und bildende Kunst, war Veredlung der Sinnlichkeit, war Gestaltung der rohen Materie; Julian, der Apostat, fühlte es wohl, daß die Götter Griechenlands einen Mann von Geschmack befriedigen konnten. Das Heidentum war tolerant. Es war die friedfertigste Religion von der Welt, solange sie nicht nötig hatte, um ihre Existenz zu kämpfen. Das Heidentum wurde blutig, verfolgungssüchtig, ich möchte sagen, christlich erst da, als ein sonderbarer Aberglauben zur Aufwiegelung der Völker gepredigt wurde, als sich gleißnerische Frömmler in die Gemächer der Fürstinnen schlichen und eine Gottesherrschaft, eine Religion, die nicht Friede, sondern das Schwert brachte, eine politische Revolution zu verbreiten suchten. Der Ursprung dieses Ereignisses kam aber auf folgendes zurück.

In Judäa, einem sehr barocken Lande, trat ein junger Mann namens Jesus auf, der durch eine bedenkliche Verwirrung seiner Ideen auf den Glauben kam, er sei schon seinen Vorfahren als Befreier der Nation, der er angehörte, verkündigt worden. Jesus war aus Nazareth gebürtig, unehelichen Ursprungs, Stiefsohn eines braven Zimmermanns namens Joseph. Jesus beschäftigte sich viel mit den Schriften der jüdischen Literatur, reiste, unterrichtete sich und strebte mit edler Selbstüberwindung nach einer stoischen Sittenreinheit. Jesus fühlte, daß eine Mission an sein Herz pochte. Es war ihm, als[109] müßte er einen Auftrag erfüllen, über den er zeit seines Lebens nicht im klaren war. Er adoptierte den Glauben an einen verheißenen König, der seine eitle Nation zur Herrscherin der Welt machen würde: er erschrak aber selbst vor dieser übermütigen Verheißung, welche einer wahren Idee Gottes gänzlich unwürdig war. Jesus wußte selbst da noch nicht, wohinaus, als er die ersten unbesonnenen Schritte getan, als er seinen Freund Johannes auf Kundschaft und Prüfung der Menge vorausgesandt hatte; er wurde Rabbi, ein erlaubter Volkslehrer, er nahm Schüler zu sich, er predigte Buße und gottseligen Wandel, predigte das reine, das Urjudentum des Moses, er nannte sich Messias und stritt nirgends gegen die falsche Auslegung seiner Absicht, nirgends gegen die Begriffe, welche man in Judäa mit dem Messias verband. Nicht einmal des römischen Joches erwähnte Jesus; er scheint gefühlt zu haben, daß der Messias nur eine theologische Bedeutung haben könne, und richtete doch seine Invektiven gegen die politische Verfassung in Jerusalem, gegen den hohen Rat und gegen Priester, die er einer zu ihrem Frommen falschen Auslegung der alten Bücher bezüchtigte. Inzwischen mehrte sich die Unruhe, Jesus zog mit Tausenden durch das Land, hielt einen gewaltsamen Einzug in Jerusalem, vergriff sich tätlich an dem Tempel, dem Nationalheiligtume der Juden, und fiel als ein Opfer seiner falschen Berechnung und innerlichen Unklarheit. Er hatte dem trägen Volke Energie zugetraut: es verließ ihn wie Thomas Müntzern, als er keine Wunder tun konnte, wie zahllose Revolutionäre alter und neuer Zeit, da sie die Hülfe nicht brachten, die sie versprachen. Jesus wurde gekreuzigt. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« rief er und starb. Jesus war nicht der größte, aber der edelste Mensch, dessen Namen die Geschichte aufbewahrt hat.

Dies ist der historische Kern eines Ereignisses, aus[110] welchem spätere Zeiten ein episches Gedicht machten mit Wundern und einer ganz fabelhaften Göttermaschinerie. Eine kleine Anekdote wurde welthistorisch. Die französische Revolution hinterließ eine Menge von politischen Wahrheiten, welche im Ansehen geblieben sind, selbst wenn jene weniger glücklich vonstatten gegangen wäre. So kam es auch, daß die verunglückte Revolution des Schwärmers Jesu etwas zurückließ, was zuletzt eine Religion wurde. Sollte hier zum ersten Male ein kleines, zufälliges Faktum den Anstoß zu einer großen Bewegung gegeben haben? Nein, die Folgen jener Historie mögen so umfassend gewesen sein, wie sie es waren, so kann davon nichts auf die Naivetät der Historie selbst zurückfallen. Jesus war in Rücksicht auf den jüdischen Messiasglauben nicht der rechte Messias, sondern ein falscher, so gut wie Theudas, Judas Galiläus und Bar Kochba. In Rücksicht auf die Weltgeschichte war er desgleichen nicht mehr; nur daß seine Anhänger zufällig von der Zeit, von dem unsinnigen Heidenritus, von der Sucht des Geheimnisses profitierten. Das Ereignis, das allen den folgenden Begebenheiten und Revolutionen zum Grunde lag, steht an und für sich betrachtet auf keiner höhern Stufe als die Lebensumstände des Pythagoras, Zoroaster oder Sokrates.

Jesus war Jude. Er dachte nicht daran, eine neue Religion zu stiften. Es war bei ihm weder von einer Aufhebung noch von einer Erläuterung des Judentums die Rede. Er sagte selbst, daß er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen; ein Ausdruck, der freilich im griechischen Texte mehr sagt als das bloße: Befolgen, aber nicht über den Begriff eines vollkommnen, in allen seinen Bezügen verstandenen Judentums hinausgeht. Da war auch nicht eine einzige neue Lehre, welche Jesus brachte. Enthüllte er tiefer die Geheimnisse Gottes? Nein, er kennt nur jenen pädagogischen Gott des Judentums. Waren seine Andeutungen über die Unsterblichkeit neu? Sie waren es, der dunkeln und zweifelhaften Lehre[111] des Alten Testaments gegenüber: aber seit dreihundert Jahren glaubten die Juden an die Fortdauer nach dem Tode aus eignem Antriebe: die Pharisäer hatten daraus das Feldgeschrei ihrer Parteimeinung gemacht. Was blieb demnach im Munde Jesu übrig? Eine Moral, welche allerdings veredelnde Kraft hat, aber nie mehr gibt und geben will als das lautre Judentum. Die Moral Jesu hält sich immer dicht bei den Gebräuchen des Zeremonialgesetzes und ist nur darin charakteristisch, daß sie für den äußern Ritus innerlich entsprechende Gesinnungen forderte. Jesus lehrte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! So lehrte schon Moses; aber der Stifter einer neuen Religion mußte sagen: Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst! Daraus schließt man, daß Jesus eine Person war, die einzig und allein der Geschichte, keineswegs aber der Religion oder Philosophie angehörte.

Törichter Glaube, das Neue Testament für die Grundlage einer Religion anzusehen, für ein Buch, das geschrieben worden wäre, um symbolischen Wert zu haben! Der Kanon ist nichts als die erste Erscheinung des Christentums. Das Christentum selbst liegt darüber hinaus: das heißt, vage Begriffe über ein gescheitertes historisches Ereignis wurden von Männern herumgetragen, die dabei beteiligt gewesen waren. Die Apostel hatten die Fähigkeit nicht gehabt, eine Begebenheit zu verstehen, welche mit sich selbst in Widersprüchen lag; sie konnten sich nur der Wirksamkeit nicht entschlagen, welche eine so bedeutende Persönlichkeit wie die ihres Lehrers auf sie ausübte: sie glaubten seinen dreisten Behauptungen, daß er der Messias wäre, und fanden bei der Verbreitung dieser Ansicht darin eine Unterstützung, daß Jesus seine baldige Wiederkunft versprochen hatte. So entspann sich ein romantisches Truggewebe von Wundern, subjektiven, die Jesus verrichtet habe, objektiven, die an ihm selbst geschehen wären. Die Apostel übersahen, wie sehr die Mehrzahl dieser Wunder, welche eher auf einen Eskamoteur als auf einen Propheten schließen lassen (ich[112] erinnere nur an die Fabel von dem Stater im Leibe eines Fisches), das göttliche Gepräge ihrer Erzählungen verwischte. Ja, sie wußten nicht einmal, wieviel sie moralisch wagten, alle ihre Behauptungen wechselseitig ohne Prüfung anzunehmen. Denn das Altertum war überall auf das Außerordentliche hin gerichtet und konnte sich keine große Begebenheit ohne Abweichungen von dem natürlichen Laufe der Dinge erklären. Auffallend bleibt es indessen, daß die Apostel selbst im Neuen Testamente so wenig scharf und präzis als Verbreiter der Lehre Jesu auftraten, daß erst andere meist ein Amt übernahmen, was ihnen vor allen zukam. Hätten sie wirklich den Leichnam Jesu gestohlen? Dann klänge dies Stillschweigen fast wie böses Gewissen. Hierüber mag ich nichts entscheiden: nur dies scheint fest, daß die Apostel Menschen von borniertem Verstande waren, daß sie überhaupt viel Ähnlichkeit mit unsern Theologen hatten und daß es zuletzt nicht ohne typische Vorbedeutung war, wenn neben der Krippe Jesu gleich ein Ochs und ein Esel standen.

Diejenigen unter den Anhängern Jesu, welche, ich sage nicht, logische Schlüsse machen, doch wenigstens begreifen konnten, wie z.B. der von den Theologen gern zu einem tiefsinnigen Philosophen gestempelte Paulus, befolgten in der Stiftung einer neuen Sekte den dreisten Gang, daß sie in Jesu nur die Neuerung anerkannten. Sie rissen seine Erscheinung als etwas Isoliertes vom Gesetze los. Sie machten aus polizeilichen Differenzen ihres Lehrers mit der Synagoge absichtliche, dogmatische, religionsstiftende. Eine übermütige Exegese, welche die Stellen des Alten Testamentes in einem sträflich verkehrten Sinne auf Jesus bezog, mußte ihre Absichten unterstützen. Jesus wurde ein Wundertäter, und er machte als solcher unter den Heiden ein Glück, das Apollonius von Tyana auch gehabt hätte, wäre ihm der Jude Jesus nicht in der Zeit zuvorgekommen. Die geringe Philosophie, die hinzukam, alle diese Märchen zu erklären und in[113] einen dogmatischen Zusammenhalt zu bringen, waren die Unterscheidungen zwischen physischer und psychischer Natur, zwischen Fleisch und Geist, zwischen dem Gesetz und der Freiheit. Wahrlich, eine Religion mußte diese Einfachheit haben, um so um sich zu greifen, wie es das Christentum tat!

Das Christentum ist eine Religion der Persönlichkeit. Moses war doch nur der Sendling Gottes, Muhamed Allahs Prophet, sie ließen sich keine göttliche Ehre erweisen! Sehet hier eine Religion, deren unwillkürlicher Stifter von einigen verworrenen Köpfen mit Gott selbst verwechselt wurde, eine Religion, die nichts für ihren Gegenstand und alles für ihren ersten Priester tut! Jede allgemeine, jede Weltreligion muß unabhängig von irgendeinem Namen sein, und im Christentum ist man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott, welche Jesu gebührt. Welch ein Glaube! Wir sind nicht ohne Poesie, wir schwärmen gern, weil wir in jedem Hauche der Natur einen Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht unglücklich sein, wenn wir nicht zuweilen auf unsern herben Lebenswein ein Rosenblatt der Illusion legen dürften, ein Rosenblatt, das uns in den Mund kömmt und zu trinken hindert und das wir doch nicht missen möchten. Aber hier überschreitet eine Zumutung die Linie des Erträglichen. Das Christentum wurzele nicht in Jesu Lehre, sondern in seinem Leben: nicht die Liebe sei es, sagen sie, die er im Abendmahle eingesetzt habe, sondern sein Fleisch und Blut, seine eigne Persönlichkeit, die nun immerdar solle gegessen und getrunken werden. Auf die individuellen Begegnisse eines unglücklichen Menschen wird eine Religion gebaut, eine Dogmatik, die sich nicht um die Worte seines Mundes kümmert, sondern seine Fußtapfen als Paragraphenzeichen nimmt, seine Nägelmale als Kapiteleinschnitte: kurz, das Christentum ist eine Religion, die auf eines Menschen körperlichen Verrichtungen und Leiden gegründet ist, eine Religion, die das objektive Evangelium eines Menschen[114] predigt. Armer Rabbi von Nazareth! Statt daß sie weinen sollten über dein wehmütiges Schicksal, freuen sie sich deines Todes und haben ihn lachendes Mutes im Munde! Die Kreuzigung Jesu wird gar nicht mehr historisch nachempfunden; sondern da alles in des unglücklichen Mannes Leben typisch und als Notwendigkeit gedeutet wird, so geht die Teilnahme und das Mitleiden gleichgültig an dem Schmerze vorüber und sieht am Karfreitage immer nur Ostern, bei einem Sterbenden eine grausame Hand, die ihm das Kissen unterm Kopfe wegzieht, damit er schneller sterbe, damit er schneller auferstünde! Das Kruzifix ist eine Zierat geworden, die man im Ohre hängen hat.

Die große, imponierende Gewalt des Christentums liegt in seiner welthistorischen Ausdehnung. Nicht, daß ich dieser Lehre die Umgestaltung Europas zuschriebe, nicht, daß ich so ungerecht gegen Gott wäre und behauptete, er habe ohne die verworrenen Ideen einiger palästinensischer Fischer und Teppichfabrikanten die Welt nicht auf diesen Gipfel der Kultur bringen können: nein, schon dadurch wird die christliche Idee geschwächt, daß sich die germanischen Völker für sie interessierten und ihre eigne welthistorische Prädestination in jene Lehre legten und das Christuskind als Christoffel durch das Weltmeer trugen. Das einzige, was mich an das Christentum kettet, ist ein magischer, mit Blut beschriebener Kreis; jene schreckhaften Verfolgungen, denen der neue Glaube ausgesetzt war, jene Hekatomben, die das Christentum dem Heidentum opfern mußte, die Männer, Weiber, Kinder, die zu Tausenden hingemordet wurden – ah, das preßt an die Kammern des Gehirns: die Fibern des Nachdenkens ziehen sich zitternd in ihren Versteck: das brennt und schmerzt, wenn man Sinn für Historie, Sinn für die Leiden der Menschheit hat. Nur jener Blutströme wegen bin ich gewissermaßen Christ, weil meine Religion die des Schmerzes und mein Kultus der Mut ist. Ich würde nicht raten, eher ein neues Bekenntnis abzulegen,[115] ehe man nicht im Begriffe und in der Lage ist, dafür dasselbe auszustehen, was das alte Bekenntnis gekostet hat.

Bis hieher konnte noch von einem Christentum die Rede sein. Als der Begriff Kirche erfunden war, als Konzilien und Würdenträger eingesetzt wurden, da hatte sich die Lehre Jesu in eine neue Art von Heidentum verwandelt, in Mythologie auf der einen, Aristotelismus auf der andern Seite. Zwischen beiden wucherte die Mystik, keine ursprünglich christliche Pflanze, sondern arabisch-jüdisch-kabbalistisches Gewächs, das in der Philosophie als Platonismus wieder zum Vorschein kam. Das Christentum, insofern es von Priestern und Mönchen repräsentiert wurde, war auch nicht einmal eine Religion mehr, sondern nur noch Vorwand einer politischen Tendenz des Zeitalters. Die Hierarchie umgürtete sich mit dem Schwerte und fluchte wie ein Landsknecht. Das Christentum war nun doch ein Reich von dieser Welt geworden. Der tote Rabbi Jesus drehte sich im Grab um: er hatte sich gerächt. Wann gab es eine Religion, die in tausend Jahren mit so disparaten Anomalien sich äußern konnte? Der Islam ist zwölfhundert Jahre alt, und noch weht die grünseidne Fahne des Propheten wie damals, als er aus der Wüste zog. Man hatte Jesus zum Stifter einer Religion machen wollen. Jesus hatte sich gerächt. Die falsche Auslegung seiner Mission war gescheitert.

Luther versuchte noch einmal, das lecke Schiff einer imaginären Möglichkeit zusammenzufügen. Ein Bergmannssohn aus Thüringen stieg in das Bergwerk des Christentums hinab, durchhämmerte die oberen Flözschichten der Tradition und holte aus den tieferen Erzgängen hervor, was er für reines, silbernes und goldenes Christentum hielt. Es war eine kühne Neuerung, die sich aus dem Wittenberger Flachlande, aus der Gegend von Kroppstädt und Treuenbrietzen, die ganz so aussieht wie der gesunde Menschenverstand, entwickelte. Tausende sagten sich von dem römischen Heidentume los, das[116] mit der Seelen Seligkeit einen Aktienhandel durch ganz Europa etabliert hatte. Die Wittenberger Reformation war ein großer Fortschritt der Menschheit, wenn es groß ist, wie Herr Tholuck getan haben soll, in Rom von den antiken Götterstatuen zu sagen: Es sind schöne Götzen! Darum handelte es sich: die Menschheit von einem religiösen Mechanismus zu befreien, zu gleicher Zeit aber auch auf dreihundert Jahre die Kunst, die Literatur, die Schön heit aller vergangenen Zeiten und die Schönheit der Ewigkeit zu derogieren. Das ist kein Unglück, wenn es von einem großen Glücke ersetzt worden wäre. Für das Christentum geschah in der Reformation alles, für die Wahrheit und den gesunden Menschenverstand und die Naturreligion aber nichts.

An zwei Begriffen siechte gleich anfangs die Reformation: an einem, den sie nicht abschaffte, an der Kirche; und an einem, den sie neu erfand, am Evangelium.

Biblisches Christentum! Was heißt das? Ein Christentum erfinden, das sich gründete auf falscher Exegese, schlechten kritischen Hülfsmitteln, auf Interpolationen und frommen Betrügereien, auf einer ungestörten und sorglosen Verbindung des Alten und Neuen Testamentes, endlich aber auf jener heillosen Verwechselung zwischen dem Kanon als einer Richtschnur des Christentums, statt daß der Kanon, wie wir zeigten, nur erste Erscheinung, die ganz prekäre und subjektiv überall beanstandete Erscheinung des Christentums war. Der Protestantismus bekam seine symbolischen Bücher, welche die Lehrer beschwören mußten, seine Katechismen, den großen und den kleinen, nach welchen die Unmündigen an einen Glauben geschmiedet wurden, dem sie schon als Säuglinge durch die Taufe willenlos sich hingeben mußten. Was muß ich glauben? Ich muß glauben, daß Gott die Welt erschaffen hat – als wenn ein Gott, der sich in so endlichen Werken, wie die Erde ist, ausspricht, ein Gott, der zugibt, daß etwas außer ihm ist, ohne er selbst zu sein, als wenn ein Gott, der Raum und Zeit erschaffen hat, um aus[117] Laune irgendeinen kleinlichen Weltzweck zu erfüllen, um durch die Dauer zu tun, was ihm ja im Nu gelingen könnte, um unglückliche, von Zweifeln zerfleischte, halb tierische, halb menschliche Menschen auf einem gewissen Erdballe, in einem gewissen Deutschland, hier in dieser ganzen Misere herumkriechen zu lassen, als wenn ein solcher Gott jemals meinem philosophischen Bewußtsein entsprechen könnte! Aber was Philosophie? Wir reden nicht von Philosophie: ich vergaß, daß wir über einige Ammenmärchen und poetische Grillen sprechen. Ich muß glauben, daß Christus sei ein eingeborner Sohn Gottes, von einer Jungfrau geboren, niedergefahren zur Hölle und wieder auferstanden – Nein, auch dies ist nicht der Kern des Christentums. Was soll ich glauben? Daß Christus ist unser Mittler, daß er im Abendmahl persönlich assistiert als Fleisch und Blut im Brot und Weine, daß er uns rechtfertigt durch die Gnade, daß die Erbsünde, an die ich als Psycholog und Menschenkenner faktisch glaube, theologisch zu erklären sei, zum großen Teile aber eine Dogmatik, welche auf jedes einzelne Glied im Körper des Rabbi Jesus gegründet ist. Der Katholizismus war sinnlicher Götzendienst mit polytheistischer Färbung. Der Protestantismus wurde mystischer Götzendienst mit einer Beschränkung auf einen Gott, der aber drei Hypostasen hatte. Wittenberg und der Sand waren Schuld, daß diese Lehre immer flacher, äußerlicher und zänkischer sich ausbildete. Aus dem Evangelium, der Bibelmanie und den symbolischen Büchern setzte sich zuletzt das knöcherne Skelett der Orthodoxie zusammen, eine Gestalt, die statt des Herzens einen ledernen Beutel, statt des Gehirns eine Anhäufung schwammartiger Stoffe zu tragen hat.

Das zweite Unglück des Protestantismus war die Beibehaltung des Begriffes der Kirche und die unterlassene Ausgleichung desselben mit dem Begriffe: Gemeine. Hier trat früh ein Schwanken ein, das auf der einen Seite das Extrem der englischen Hochkirche und auf der andern das[118] quäkerische Extrem der allgemeinen Priesterschaft erzeugte. Das Luthertum an und für sich selbst nahm früh eine servile Richtung. Es stritt für das göttliche Recht der Fürsten ebensosehr, wie es seine eignen Satzungen in ein legitimes, unantastbares Gewand zu kleiden suchte. Thomas Müntzer schalt mit Recht auf Luther, den Papst von Wittenberg. Das Territorialsystem war die Folge der Schmeichelei. Die Kirche blieb etwas Ganzes, der Glaube wurde nicht an die stille Kammer des Herzens als seinen Tempel verwiesen, sondern die Kirche repräsentierte wie ehemals. Die Geistlichen regieren untereinander. Sie scheinen eine Monarchie für sich zu bilden und ducken sich außerdem unter der politischen Souveränität, so daß es noch heutiges Tages nicht entschieden ist, wie weit sich die kirchliche Autorität als Landeshoheit erstreckt, wie weit man wagen darf, Agenden zu verfassen und sie mit militärischer Gewalt, wie in den Schlesischen Dragonaden geschehen ist, in Wirksamkeit zu setzen. Hier ist alles vag, hoffärtig, augendienerisch, despotisch und erfüllt das Herz des Biedermannes mit den schmerzlichsten Gefühlen.

Die deistische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts konnte deshalb dem Christentum keinen merklichen Abbruch tun, weil sie bald zu frivol, bald zu witzig war. Der unsittliche Reformator macht nirgends Glück. Der Witz ist einer so großartigen Institution wie das Christentum gänzlich unangemessen. Die naive Einfachheit kindlicher und glaubensfreudiger Seelen pariert alle Nadelstiche Voltaires, eines Mannes, den man für einen Schneider halten möchte, so furchtsam und eitel war er. Das Christentum fordert andere Waffen heraus, überhaupt keine Waffen, die nur für den Krieg taugen, sondern solche, welche sich an einen Stiel stecken lassen, positiv und schaffend werden und die Erde zur neuen Saat auflockern. Das achtzehnte Jahrhundert, der mephistophelische Geist der abstrakten Verneinung hauchte mit dem ersten Seufzer aus, der auf der Revolutionsguillotine[119] ausgestoßen wurde. Die Negation der Revolution war schon eine schöpferische.

Die Flügel meiner Seele schlagen freudiger, weil ich die Morgenröte (ach! die blutige Morgenröte) der neuen Schöpfung sich am Himmel malen sehe. Aber noch halte mich zurück, du stürmischer Genius des Jahrhunderts; noch einmal wurde in Deutschland der Versuch gemacht, zu einem trostreichen Resultate über die wunderbaren Begebenheiten in Palästina zu gelangen. Die Welt seufzt in ihrer Achse ob der stürmischen Bewegung. Wie glücklich wären wir alle, wenn wir in den Träumen unsrer Jugend uns ewig wiegen dürften und uns keine Unruhe der Seele von den Spielen der Unschuld verscheuchte!

Die Kantische Philosophie schien unsern Vätern nach langem Schlafe ein wunderbares Erwachen. Noch nie ist eine Entdeckung mit so reinem Enthusiasmus empfunden worden. Die Kantische Philosophie war Kritizismus: sie war ohne Geheimnisse; aber sie schien den Schlüssel der Geheimnisse zu besitzen. Früher wurde sie auf die Offenbarung und das Christentum angewandt: aber die Konsequenzen, welche sich hier durch sie ergaben, waren von der entgegengesetztesten Art. Der Rationalismus hielt sich an die Unmöglichkeit, das Ding an sich zu erkennen; der Supernaturalismus an die Vermutungen, welche hinter dem Dinge an sich liegen konnten. Das Ding an sich war ebensosehr negativ wie mystisch positiv: das weite Chaos der Zweifel lag in ihm ebensogut wie das Chaos der Gefühle. Diese beiden Prinzipien über Christentum machten fünfzehn Jahre in Deutschland die Tagesordnung aus. Es war ein Streit um den Anfang eines Zirkels. Der Rationalismus, der von Gott behauptete, daß man vieles von seinem Wesen wisse, manches aber noch unerörtert zu lassen habe, begann mit dem Bestimmten und hörte mit dem Unbestimmten auf. Der Supernaturalismus, der aus seinen Ahnungen ein System, aus seinen Ungewißheiten eine Dogmatik schuf, fing mit dem[120] Unbestimmten an und hörte mit dem Gegenteile auf. So war der Streit ohne des Endes Möglichkeit. Niemand trat aus dem Zirkel heraus. Sie walzten ihre Debatten herum und erschöpften sich in Konzessionen praktischer und theoretischer Art. Mischgattungen drängten sich zwischen die Extreme: Damenprediger, welche das Christentum mit Gemälden verglichen, wo die Konturen dem Rationalismus, die Farben dem Supernaturalismus angehören müßten: Professoren der Theologie, die das Urchristentum wollten; Generalsuperintendenten, welche die Perfektibilität des Christentums lehrten. Andre, wie Schleiermacher, adoptierten die Dogmatik, wenn ihre Lehrsätze sich gemütlich als Seelenzustände betätigten. Mit einem Worte, sie mochten so freidenkerisch verfahren wie immer; so riß doch niemand den Vorhang der Lüge weg. Auf der Kanzel gaben sie niemals jenen Glauben preis, den sie auf dem Katheder anatomisch zergliederten. Überall trifft man auf Diakone und Konsistorialräte dieser Art, welche sich wie jesuitische Aale theoretisch winden und hin- und hersträuben, praktisch aber sich immer wieder in ihren homiletischen Schleim verstecken.

Schelling und Hegel, jener von katholischer, dieser von protestantischer Seite, stellten den letzten Versuch an, die Philosophie mit der Offenbarung in Einklang zu bringen. Schelling übertrug allerhand Analogien des Naturprozesses auf die Geheimnislehren des Christentums: er wußte Opfer, Menschwerdung usf. durch witzige Bilder von seiten der Phantasie annehmlich zu machen. Hegel stützte sich auf den Geschichtsprozeß, auf die innerlichen Ruhemomente seiner metaphysischen Logik, deren ganzes Schema allein schon den Begriff der Trinität ausdrückte. Hegels Philosophie scheint mir auch wahrlich die einzige, die imstande ist, das Christentum zu beurteilen. Ihr Standpunkt ist der historische. Sie bringt einen Schematismus in die Begebenheiten, welcher den innern und äußern Sinnen wohltut. Wodurch ist auch das Christentum eine so imposante Erscheinung? Durch seine historische[121] Stellung. Hegel hat die Verschiedenheit der Zeiten immer vortrefflich charakterisiert und das Eigentümliche des Christentums darin gefunden, daß sich logische und historische Begriffe daran akkommodieren lassen. Aber mehr gelang ihm nicht. Seine Philosophie des Christentums konnte nur da erst anfangen, als die Entwicklung der christlichen Lehre zu Ende war. Hegels Maßstab ist überall die Vergangenheit. Seine Erklärungen sind typischer Art, seine Philosophie ist eine Auslegung. Schelling und Hegel stehen an der Spitze jenes christlichen Dilettantismus, der aus künstlerischen Interessen sich mit verstopftem Ohre in eine grundlose Flut versenkt. Das Christentum selbst muß dabei seinen Kredit verlieren, wenn nur noch Dichter, Grübler, Künstler, verzweifelte und polizeilich beaufsichtigte Menschen sich für die Erklärung seiner Satzungen interessieren. Der gesunde Teil der Menschheit wird in eine andere Strömung des stürmenden Weltgeistes gerissen werden.

Unser Zeitalter ist politisch, aber nicht gottlos. Wie gern verbände es die Freiheit der Völker mit dem Glauben an die Ewigkeit! Aber unchristlich ist unser Zeitalter, denn das Christentum scheint sich überall der politischen Emanzipation in den Weg zu stellen. Daher jene merkwürdigen Erscheinungen, welche die neuere Zeit auf dem Gebiete, man weiß nicht, soll man sagen, der Politik oder der Religion hervorgebracht hat. Überall Sektengeist, Religionsstifter, Religionen auf Aktien, Religionen auf Subskription, jede Religion, nur kein Christentum. Man spricht von Priestern, von einer Theokratie, von Gottesdienst, nur nichts Christliches. Es ist erstaunenswert, daß diese Dinge in Frankreich auftauchen, in einem Lande, das für Europa die Mission der Freiheit hat, in einem Lande, das in der neuern Geschichte für alle Fragen der Kultur die Initiative übernommen zu haben scheint. Wir reden hier vom St. Simonismus und den »Worten eines Gläubigen«.

In diese beiden Bekenntnisse ist zuerst die Anerkennung[122] der politischen Tendenz des Jahrhunderts niedergelegt. Man hat hier die Unverschämtheit vermieden, welche die hungernden Arbeiter auf das himmlische Brot des ewigen Lebens anweist. Die Religion der Entsagung mag für Jahre passen, wo die Ernte nicht geraten ist; aber wo Fülle und Verschwendung rings ihre Feste feiern, da murrt die Menschheit über eine Religion, welche immerfort an das Sichschicken, an die Demut, an den Ratschluß Gottes appelliert. Von dieser Seite des Christentums überhaupt, die sich dem Zeitgeiste entgegenstellt, kann nicht mehr die Rede sein. Der Unterschied zwischen den beiden Bekenntnissen ist der, daß der St. Simonismus das Christentum antiquiert und durch einige materielle Philosopheme nebst kirchlichen, freilich dem alten Glauben entnommenen Institutionen zu ersetzen sucht, die »Worte eines Gläubigen« dagegen auf den demokratischen Ursprung des Christentums zurückgehen und unverhohlen eine republikanische Tendenz desselben aussprechen. Der St. Simonismus will den Staat von der Kirche, die »Worte eines Gläubigen« wollen die Kirche vom Staate befreien. Jener weist auf die Zukunft, diese auf die Vergangenheit. Beide aber kränkeln an ähnlichen Gebrechen: der St. Simonismus an der Philosophasterei: La Mennais am Katholizismus. Wie soll man in der Kürze über beide Tendenzen urteilen? Beide sind keine Revolutionen, aber sie sind Symptome. Der St. Simonismus verrät ein Bedürfnis der Menschheit: die »Worte eines Gläubigen« suchen es zu befriedigen, aber sie befriedigen es nur zur Hälfte.

Ich habe die Tatsachen der Vergangenheit verfolgt und breche da ab, wo alles, was nun kommen muß, nicht so von mir vorgezeichnet werden kann, sondern in die Hand der Zeitgenossen gegeben ist. Lasset mich an einem Orte innehalten, den wir selber auszufüllen haben, bei jenen weißen Blättern der Geschichte, die hinfort von uns beschrieben werden sollen!

Ich höre draußen ein simultanes Glockengeläut: katholische[123] und protestantische Töne. Es ist Pfingsten, ein Fest, wo man zwar nicht mehr plötzlich wie einst in Jerusalem gut Englisch, Spanisch und Sanskrit lernt, was mir sehr lieb wäre: wo aber der Heilige Geist auf alle Welt ausgegossen wurde. Wir leben in der Zeit des Heiligen Geistes, von dem Christus selber sagt, daß er uns in alle Wahrheit führen und freimachen würde. So scheint es sogar jener Mann gewußt zu haben, daß die Geschichte immerdar ihre eigne Autorität bleibt, daß der Weltgeist rastlos wirkt und in uns schafft und die Wahrheit zuletzt nur der Gottesdienst im Tempel der Freiheit ist. Wir werden keinen neuen Himmel und keine neue Erde haben; aber die Brücke zwischen beiden, scheint es, muß von neuem gebaut werden.


Es schlug Mitternacht, als Wally das saubergeschriebene Heft durchlesen hatte. Die Wachskerze war tief heruntergebrannt, ihre Augen glühten, sie hatte Tränen nötig, um den heißen Brand zu löschen. Aber die Tränen kamen nicht. Sie saß da, versteinert wie Niobe, der man das Liebste und Teuerste wegschießt. Rings war alles grauenhaft still, nur der Uhrpendel schwang sich unterm Glase hin und her und zählte die Minuten, die den Geistern auf Erden zu wandeln vergönnt waren. Wally lebte nur in den Worten, die sie gelesen hatte, und flüsterte sich zu: »Ich sterb' auch mit ihnen.« Dann ergriff sie mechanisch den kleinen Kerzenrest, der noch brannte, und schritt in ihr Schlafgemach, einen finstern, dämonischen Schatten werfend.


Noch sechs Monate hielt Wally ein Leben aus, dessen Stütze weggenommen war. Sie, die Zweiflerin, die Ungewisse, die Feindin Gottes, war sie nicht frömmer als die, welche sich mit einem nicht verstandenen Glauben beruhigen? Sie hatte die tiefe Überzeugung in sich, daß ohne Religion das Leben des Menschen elend ist. Sie ging nun damit um, dem ihrigen ein Ende zu machen.[124]

Je unerschütterlicher sich dieser Gedanke bei ihr festgesetzt hatte, desto mehr suchte sie ihn äußerlich zu verbergen. Sie zeigte sogar, je gewisser sie mit sich selbst wurde, eine heitre Unbefangenheit, die die Rückkehr ihrer frühern Laune hoffen ließ.

Sie war viel auf ihrem Zimmer allein, weinte und rang; aber beten konnte sie nicht. Sie warf sich wohl oft verzweifelnd auf die Knie, aber wie eine eherne Mauer stand es vor ihr, wenn sie flehend die Hand ausstreckte. Sie schrieb noch einzelne ihren Seelenzustand verratende Aphorismen in ihr Tagebuch; die meisten bewegten sich um den Gedanken des Todes. An der Ursache desselben hatte sie nichts mehr, was sie in sich ändern konnte. Eine Stelle, welche man später im Buche fand, war ganz mit Tränen durchnäßt. Man konnte das an der geronnenen Dinte und dem zerknitterten Papiere sehen. Sie hieß:


O Jesus! Nie warst du mir teurer als tränenvergießend im Garten von Gethsemane! Jesus! Du batest Gott, daß er den Kelch dieses herben Todes möchte an dir vorübergehen lassen, du, du, der die Welt verändert hat! Und die Jünger schliefen. Sie achteten deiner flehenden Stimme nicht, daß sie mit dir wachten, daß sie mit dir weinten auf dem Ölberge. Ach, um mich schlafen sie alle, und niemand kennt den Schmerz, der mich verzehrt, niemand wacht mit mir, niemand betet für mich!


Es war an einem trüben und regnerischen Herbsttage. Die Kastanien prasselten von den Bäumen. Der Wind schlug die Regenschauer an die nassen Fenster. Alles in der Natur schien zu Grabe zu gehen. Wally saß einsam in ihrem Zimmer. Eine Uhr lag neben ihr. Neben der Uhr ein rotes Tuch, das einen unsichtbaren Gegenstand bedeckte.

Eine Stunde verrann nach der andern. Um die sechste[125] dunkelte es. Man brachte ihr Licht. Sie winkte stumm mit der Hand, als man nach ihren Befehlen fragte.

Sie trat ans Klavier und schlug einige Akkorde an. Es schlug sieben Uhr.

Dann setzte sie sich und schrieb einige Zeilen:


Ich muß sterben, denn hassenswert schien' ich mir, wenn ich mich durch die Welt schliche und mir selbst verbergen wollte, was ich leide. Wir erkennen Gott nicht. Nun und nimmer mehr. Das tragische und der Menschheit würdige Schicksal unsers Planeten wäre, daß er sich selbst anzündete und alle, die Leben atmen, sich auf den Scheiterhaufen der brennenden Erde würfen. Alle müßten sie sich opfern – aus Haß gegen den Himmel; opfern, wie man Rechnungen verdirbt, die ohne den Wirt gemacht werden. Alle! Alle! Dann wäre das Problem gelöst, und Gott müßte eilen, sich neue Menschen, neue Sklaven zu schaffen. Barbarischer Mord der Völker untereinander, glaubt ihr, werde das Ende der Dinge sein? Die wiedererwachende Roheit der Natur? Hyänen, die sich untereinander zerfleischen, sind euch der Zweck der Geschichte? Gräßlicher Gedanke! Prophezeihung, würdig eines Henkers! Sie werden sterben, aber sie werden alle den Dolch in ihre eigene Brust senken und eine große Kette der Freundschaft schließen, die Menschen! Sie werden sich fassen alle an ihrer Hand und mit der Rechten den Stoß vollbringen und noch im Tode sich mit ihren Küssen bedecken. Sie werden sterben, weil sie reif sind, weil sie das Höchste erreichten in Wissenschaft und Kunst, weil sie alle ineinandergerechnet der Gottheit gleichkommen. Aber die Gottheit sitzt hinter einem Vorhange und verbirgt nach wie vor ihr sprödes Antlitz und zögert, zu kommen und sich zu enthüllen. Was haben wir ihr getan?


Es schlug acht Uhr. Sie war in eine Aufregung gekommen, welche für ihren Entschluß nicht paßte. Was[126] ist Sturm, Ungewitter, Herbst, was selbst der Schmerz der Seele und des Herzens, wenn der Geist seine Gedanken aufrüttelt und die Denkkraft ihre Fühlfäden ausschießt? Das Denken erhält den Mut, den man am Wissen verliert. Wally war so nahe daran, ihre Verirrung zu fühlen. Aber sie war ein weibliches Herz, das nicht so leicht vergißt, was es einmal wollte, und in sich selbst kein großes Register von Entschließungen hat, wo sie wählen könnte. Sie fiel in den alten Schmerz zurück.

Um neun Uhr griff sie noch einmal nach der Feder und schrieb:


Lebet wohl! Alle! Alle! Armselig war mein Leben; wie klein, wie nichtig alle die Beziehungen meiner Jugend! Und das war wohl des Todes wert; denn ich bin nichts, nur Staub, nur Vernichtung. Mein Leben ist unnütz. Grüßet sie alle, grüßet den Frühling des kommenden Jahres, wo ich tot sein werde und keines Vogels Ruf mich wieder wecken wird. Ich danke euch allen, die mich liebten, und Dir, Dir, Cäsar; allen! Allen!


Sie mußte noch viel geweint haben. Auch diese Zeilen waren verronnen in nasse Punkte. Sie mußte dann den Stoß vollbracht haben mit jenem Dolche, der ihrem toten Bruder gehörte.

Man fand sie auf dem Bette ausgestreckt. Das Licht stand zu ihren Häupten. Sie hatte mit beiden Händen den in das rote Tuch gewickelten und darin auch von ihr während des Stoßes gelassenen Dolch in ihr Herz gedrückt und lag da, nicht lächelnd und ruhig, wie wohl in andern Fällen hier getroffen ist, sondern mit krampfhafter Verzerrung ihres schönen Antlitzes und einem Ausdrucke der Verzweiflung in den starren Augen, der erschrecken machte.

Sie wurde mit Gepränge bestattet. Die, welche am Grabe standen, beweinten nicht sie selbst, sondern nur ihre Jugend.[127]

Quelle:
Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Stuttgart 1979, S. 106-128.
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