Viertes Kapitel

[221] Ich trauerte lang um meinen Freund. Im Innersten betrübt dacht ich oft, wenn ich an seinem Hause vorüberging, wie er vormals dagestanden wäre am Fenster, und mir entgegengenickt hätte, wenn ich die Straße heraufgekommen wäre, und wenn die Türe offen stand, sah ich wehmütig hinein in den dunkeln Vorsaal, und hörte seine Stimme wieder, wie er mir die Treppe herunter nachrief: schlaf wohl, lieber Junge! wenn das Volk versammelt war, und von ungefähr die Farbe seines Mantels mir erschien, erschrak ich, als wär er da, und wenn ich einen Schiffer hörte, wie er von seiner Fahrt sprach, und von fremden Menschen, die er gesehn, glaubt ich immer, es müßt ihm auch der Herrliche, den ich liebte, bekannt sein; oft, wenn ich draußen herumging, weilte mein Blick am Horizont; dort wär er wohl hinausgefahren, dacht ich, und meine Tränen rannen ins Meer. Der kleinste Laut, den ich von ihm im Herzen bewahrte, war mir heilig, wie der letzte Wille eines Verstorbenen. Ich folgte ihm fast zu treu. Ich verschloß mich, so sehr ich nur konnte vor den Menschen. Neben den Geistern des Altertums fand nur er in meiner Seele Platz. Mein Herz gehörte denen, die ferne waren. Wo ich ging und stand, geleiteten mich die ehrwürdigen Gestalten. Wie Flammen, verloren sich in meinem Sinne die Taten aller Zeiten, die ich kannte, ineinander. Nur Ein großer Sieg waren für mich die hundertfältigen Siege der Olympiaden. Was durch Jahrhunderte getrennt[221] war, versammelte sich vor meinem jugendlichen Geiste. Ich vergaß mich so ganz über all der Größe, die mich umgab.

So war ich allmählich herangewachsen. Ich fing jetzt an, mich über mich selbst zu befragen. Ich kehrt itzt oft von den Halbgöttern, denen mein Herz gehörte, auf mich zurück; ich maß, und erschrak über mein Nichts. Mein ganzes Wesen raffte sich auf, dem tödlichen Schmerze zu entgehen, der im Gefühle meines Mangels lag. Ich wollt im härtesten Kampfe mir einen Wert erringen. Aber wo sollt ich? – Ach! ich hätte gerne eine Stunde aus eines großen Mannes Leben mit Blut erkauft. Traurend sah ich itzt oft in meinen Plutarch, und bittre Tränen rannen mir aufs Blatt. Oft wenn über mir die Gestirne aufgingen, nannt ich ihre Namen, die Namen der Heroen, die einst auf Erden lebten – erbarmt euch meiner, ihr Göttlichen, rief ich, laßt mich vergessen, was ihr wart, oder tötet mich mit eurer Herrlichkeit, ihr seligen Jünglinge! –

Ich suchte endlich Trost unter den Menschen. Was ich mir selbst nicht geben konnte, dacht ich unter andern zu finden. Man hatte mir schon oft gesagt, es würde mir gut sein, wenn ich nicht so sehr einsam lebte. Man würde so leicht exzentrisch in seinen Meinungen bei gänzlicher Zurückgezogenheit. In der Gesellschaft lerne man die Fülle des Guten friedlich unter sich teilen, man lerne, aus sich nicht Alles zu machen, aus andern auch nicht, und sich zu begnügen mit dem, was jedem beschieden sei, man lerne Geduld, und das wäre Gewinns genug. Aber ich war damals so gar nicht gestimmt, etwas Verständiges der Art auf mich wirken zu lassen. Ich trat mit ganz andrem Sinne unter die Menschen.

Es ist sonderbar, wie ein jugendlich Gemüt oft in die Kinderspiele des Lebens so viel Gehalt legt. Es war mir unbegreiflich, wie die Menschen so befriedigt zurückkommen könnten von ihren kleinen Festen, wenn nicht seltne Dinge dabei zu finden wären. Wenn ich mir dachte, daß ich dort wohl auch so fröhlich werden könnte, wie sie, wie unendlich viel mußt ich erwarten![222]

Auch versprach mir jedes ehrliche Gesicht so viel. Ich habe manchen vergöttert, im ersten Augenblicke, der sich recht sehr begnügte mit seiner Menschlichkeit. Mit Bedauren denk ich daran, wie ich itzt oft mit all meiner Liebe trachtete, ein herzlich Lächeln zu erbeuten, wie ich oft in einem Worte meine ganze Seele gab, und einen witzigen Spruch dafür zurückbekam, wie bei einem andern ein wenig Gutmütigkeit mich so innig freute, und wie ich mich verstanden glaubte von ihm, bis auch er mitteilte, was ihm am Herzen lag, und ich dann Dinge hörte, woran ich so gar keinen Wert finden konnte, wie ich dastand und huldigte vor prächtigen Sentenzen – ach! wie ich oft glaubte, das Unnennbare zu finden, das mein werden sollte, dafür, daß ich mich selbst an das Geliebte verlor! – Das arme Wesen dachte, zwei Menschen könnten sich Alles sein, dacht oft wirklich den heiligen Tausch getroffen zu haben, wo einer des andern Gott sein sollte, und machte nun freilich Forderungen, worüber der andre sich wunderte. Er wollte ja nur Kurzweil, nichts so Ernstes!

Einem jungen Manne, Gorgonda Notara nannt er sich, war ich immer gut geblieben. Ich hatte so oft umsonst gehofft, ein Wesen zu finden, wo ich sagen könnte, nun bin ich zufrieden auf ewig! hatte so oft mit Schmerzen mich losgerissen, wo mein Herz so schnell und innig sich angehängt hatte, ich hatte mich durch Dornen gewunden, und sie hatten mit jedem Schritte mich festgehalten, um mich ihren Stachel fühlen zu lassen, ich hatte so oft mich hingedrängt, wo es besser gewesen wäre, auszuweichen, ich war nun froh, doch etwas an ihm zu haben, und wenn ich mich entfernen wollte in meiner Ungenügsamkeit, zog er mich immer wieder an sich. Er war etwas vielseitig, und das kam mir zustatten; gab mir freilich auch oft ein Mißtrauen gegen ihn. Er wußte jedem Dinge einen Wert zu geben; er war äußerst duldsam gegen mich, das tat mir wohl, aber er war es auch gegen andre, die meine Gegenteile waren, und das war mir unbegreiflich. Er bestritt mich oft gerade in meinen liebsten Überzeugungen, aber mit Freundlichkeit und Bedacht, – ich verglich uns,[223] wenn wir so zusammen stritten, oft mit den jungen Lämmern, die sich scherzend einander an die Stirne stießen, als wollten sie sich so das Gefühl ihres Daseins in sich wecken – und, wie es schien, mehr um das Gespräch zu beleben, mehr zum Versuche, was wohl aus dem Für und Wider sich ergeben möchte, als in strengem Ernste, und indes er wider mich sprach, schien er doch auch seine Freude zu haben an dem sonderbaren Geschöpfe, das so ungelenksam und unersättlich wäre in seinen Forderungen, und doch so leicht und oft gerade dem Kleinsten sich hingäbe; ich hätte in meinem Leben noch keinen Menschen gesehen, meinte er, ich wandelte von je her unter Geistererscheinungen, und es wäre nur schade, daß diese verschwänden, sobald ich näher käme, aber man müßt ihm doch gut sein, dem wunderlichen Phantasten! –

Einst saßen wir mit andern zusammen; es war ein alter Bekannter von einer Fahrt zurückgekommen, und wir feierten das fröhliche Wiedersehn. Alle waren inniger, wie sonst; ich glühte, und sprach ungewöhnlich viel. Ich fühlte wirklich zum ersten Male die Freude jugendlicher Verbrüderung ganz. O man lebt doch nicht umsonst, ihr Lieben! rief ich in meines Herzens Trunkenheit, und streckte die Hand aus über dem Tische, und jeder bot die seinige dar. – Öffne geschwinde die Fenster, rief ich einem, der gegen mir über saß, nach einer Weile zu. Was hast du, Hyperion? fragt' ein andrer. Dort gehn die Dioskuren am Meer herauf, rief ich freudig. Zufällig sah ich einen Augenblick darauf in den Spiegel, und glaubte drin ein zweideutig Lächeln an Notara zu bemerken. Betroffen blickt ich um mich, und es war mir, als fänden sich auch auf andern Gesichtern solche Spuren. Das war mir ein Dolch ins Herz! Ich glaubte mein Innerstes verunehrt, meine beste Freude verlacht, von meinem letzten Freunde mein Herz verspottet. Ich sprang auf, und eilte fort. – Alle die traurigen Täuschungen, die ich von je her erfahren, jede Miene, jeder Laut, der mein Herz zurückgestoßen hatte, seit ich unter die Menschen gekommen war mit meinen Hoffnungen, jeder unfreundliche[224] Scherz, womit man sich an meinen kleinen Unaufmerksamkeiten gerächt, jede Mißdeutung, womit man meine unbefangenen innigen Äußerungen lächerlich gemacht, jede Falschheit, womit man, wie mir itzt schien, meine Liebe und meinen Glauben nachgeäfft hatte, alles, was ich längst verziehen hatte und vergessen, gesellte sich nun zu den unverhofften Entdeckungen, die ich eben gemacht, – ich dachte mir einen um den andern aus dem Zirkel, den ich verlassen hatte, wie er mir wohl seine bittern Bemerkungen nachschicken werde; der rauhe Seemann stand lebendig vor mir mit seinem Ärger und gegenüber Notara mit seinen hämischen Entschuldigungen. Itzt kam ich an dem Hause vorüber, wo der edle Fremdling gewohnt hatte. Du hattest recht, guter Mann! dacht ich, o du hattest recht! Ich sollte mich nicht zu viel befassen mit dieser Welt, sagtest du. Ach! daß ich dir nicht folgte, mein Schutzgeist! Nun bist du gerächt.

Man belächelt oft den Menschen, und findet es ungereimt, wenn oft von einer kleinen Wunde sein Innerstes erkrankt, und nur sehr schwer genest. Man würde besser tun, wenn man teilnehmend das Übel zu ergründen suchte. Man würde dann finden, daß auch dem schwächsten Feinde der Sieg sehr leicht wird, wenn ihm ingeheim ein Stärkerer vorarbeitete, und unsre stärksten Feinde sind wir selbst.

Das arme Wesen wollte sich nun zurückflüchten in sich selbst, und hatte doch längst sein Selbst verloren. Ich hatte mich gewöhnt, Ruh und Freude aus fremder Hand zu erwarten, und war nun dürftiger geworden, als zuvor. Ich war, wie ein Bettler, den der Reiche von seiner Türe stieß, und der nun heimkehrt in seine Hütte, sich da zu trösten, und nur um so bittrer sein Elend fühlt zwischen den ärmlichen Wänden. Je mehr ich über mir brütete in meiner Einsamkeit, um so öder ward es in mir. Es ist wirklich ein Schmerz ohne gleichen, ein fortdaurendes Gefühl der Zernichtung, wenn das Dasein so ganz seine Bedeutung verloren hat. Eine unbeschreibliche Mutlosigkeit drückte mich. Ich wagt oft das Auge nicht aufzuschlagen vor den Menschen. Ich hatte Stunden, wo ich das Lachen eines Kindes fürchtete.[225] Dabei war ich sehr still und geduldig; hatt oft einen wunderbaren Aberglauben an die Heilkraft mancher Dinge; oft konnt ich ingeheim von einem kleinen erkauften Besitztum, von einer Kahnfahrt, von einem Tale, das mir ein Berg verbarg, Trost erwarten. Mit dem Mute schwanden auch sichtbar meine Kräfte. Ich glaubte wirklich unterzugehn.

Ich hatte Mühe, die Trümmer ehmals gedachter Gedanken zusammenzulesen, der rege Geist war entschlummert; ich fühlte, wie sein himmlisch Licht, das mir kaum erst aufgegangen war, sich allmählich verdunkelte. – Freilich, wenn es einmal, wie mir deuchte, den letzten Rest meiner verlornen Existenz galt, wenn mein Stolz sich regte, dann war ich lauter Wirksamkeit, und die Allmacht eines Verzweifelten war in mir, oder wenn sie von einem Tropfen der Freude getränkt war, die welke dürftige Natur, dann drang ich mit Gewalt unter die Menschen, sprach, wie ein Begeisterter, und fühlte wohl manchmal auch die Träne der Seligen im Auge, oder wenn einmal wieder ein Gedanke oder das Bild eines Helden in die Nacht meiner Seele strahlte, dann staunt ich und freute mich, als kehrte ein Gott ein in dem verarmten Gebiete, dann war mir, als sollte sich eine Welt bilden in mir; aber je heftiger die schlummernden Kräfte sich aufgerafft hatten, um so müder sanken sie hin; versuche nur nichts mehr, sagt ich mir dann, es ist doch aus mit dir!

Wohl dem, der das Gefühl seines Mangels versteht! wer in ihm den Beruf zu unendlichem Fortschritt erkennt, zu unsterblicher Wirksamkeit, wer im Schmerze der Erniedrigung den kleinen Trost verachten kann, unter den Kleinen groß zu sein, ohne an sich zu verzweifeln, und den Glauben an die Götterkraft des Geistes aufzugeben, wer sie überstanden hat, diese Feuerprobe des Herzens, wenn es überall eine Leere findet, und das wenige, was es geben kann, verschmäht fühlt! – Wohl manches jugendliche Gemüt trauert, wie ich einst trauerte, im Gefühle menschlicher Armut, und je trefflicher die Natur, desto größer die Gefahr, daß es verschmachte im Lande der[226] Dürftigkeit. Mir ist er heilig, dieser Schmerz, so wahr michs freuet, wenn mir ein freundlich Auge begegnet! Aber sagen möcht ich der Seele, die mir ihn klagte, daß sie nur darum ihr Paradies verloren hätte, damit sie ein Paradies erschaffe, doch werde dies mit nichten am siebenten Tage vollendet sein, denn der Ruhetag der Geister würd ihr Tod sein, sagen würd ich ihr, daß sie, um ihres Adels willen nicht einzig fremder Hülfe vertrauen soll, die treuste Pflege müsse den zu Grunde richten, der müßig von ihr allein sein Heil erwarte; in brüderlichem Zusammenwirken bestehe das Beste, doch sei es auch herrlich, allein zu stehn, und sich hindurchzuarbeiten durch die Nacht, wenn es an Kampfgenossen gebreche.

Mich hatte nun der Frühling überrascht in meiner Finsternis. Ich hatt ihn wohl zuweilen von ferne gefühlt, wenn die toten Zweige sich regten, und ein lindes Wehen meine Wange berührte. Das junge Grün hatte mich oft wunderbar belebt auf Augenblicke, und manchmal, wann das freundliche Morgenlicht mich weckte, hatte die Ahndung, daß es wohl noch besser werden könnte, mein hülflos Herz erfreut. Aber das war vorübergegangen, wie der Schatten einer Geliebten.

Ich hatte mich häuslicher Geschäfte wegen einige Wochen in einem andern Teile der Insel aufgehalten, und kehrte nun zurück nach San-Nicolo.

Er war itzt da in meinen Hainen, der holde Frühling, in aller Fülle der Jugend.

Mir war, als sollt ich doch auch wieder fröhlich werden. Ich öffnete meine Fenster, und kleidete mich, wie zu einem Feste. Auch für mich sollt er wiederkehren, der himmlische Fremdling! Was hofft dann der Arme? möchten die Toten auferstehn? dacht ich bei mir selbst. Aber mein Herz ließ sich nicht abweisen. Es ging mir, wie den Kindern, die so gerne Zutraun fassen zu einem heiter farbigen Kleide. Mit jedem Blicke wuchs in mir der Glaube an bessere Tage vor dem fröhlichen Bilde der Natur.[227]

Ich sah, wie alles hinausströmte aufs freundliche Meer von Tina, und sein Gestade. Ich ging auch hinaus.

Alles verjüngte und begeisterte der süße zauberische Frühling. Fast jedes Gesicht war herzlicher, lebendiger; überall wurde gutmütiger gescherzt, und die sonst mit fremdem Gruße vorübergegangen waren, boten sich itzt die Hände.

Das fröhliche Volk bestieg die Boote, steuerte hinaus ins Meer und jauchzte von ferne der holden Insel zu, kehrte dann zurück in die Platanenwälder, zu seinen zephyrlichen Tänzen, lagerte sich unter Zelten zum lieblichen Mahle, und pries und freute sich hoch, daß keiner sich verirrt hätte in den Labyrinthen des Ronnecatanzes.

Aber mein Herz suchte mehr, als das. Das konnte nicht vom Tode retten.

Ich ging fort, und streifte herum auf einsamen Hügeln, sah oft hinunter nach der fröhlichen Welt, und dachte, warum ich dann darben müßte, wo alles so selig wäre. Doch wollt ich keinem seine Freude mißgönnen, und hoffte, auch meiner warte vielleicht noch eine gute Stunde. So kehrt ich zurück.

An Notaras Hause, wo ich vorüberkam, saß seine Mutter, deren Liebling ich war, und um sie ein Zirkel edler Mädchen, die Seide spannen, und kindliche Liedchen sangen. Da kömmt der Menschenfeind, rief die Mutter mir zu. Ich trat näher, und dankt ihr für den freundlichen Gruß. Du bist gestraft, daß du so lange wegbliebst, fuhr sie lächelnd fort, etwas Lieberes hat indes in meinem Hause Platz genommen. Man kann dich nun entbehren, du Stolzer!

Ich sah mich um. Da stand sie vor mir, die Herrliche, wie eine Priesterin der Liebe, heilig und hold! – ach! über dem Lächeln voll Ruh und himmlischer Duldsamkeit thronte mit eines Gottes Majestät ihr großes begeistertes Auge, und wie Wölkchen ums Morgenlicht, wallt' im Frühlingswinde der dunkle Schleier um ihre Stirne.

Ich kann es nicht anders nennen, es war Gefühl der Vollendung, was sie mir gab in diesem Augenblicke; war doch die Nacht und[228] Armut meines Lebens, die ganze dürftige Sterblichkeit, mit allem, was sie gibt und nimmt, so dahin, als wäre sie nie gewesen! Oft trauert ich, daß wir nur dann erst wissen, von diesen Momenten der Befreiung, wann sie vorüber sind. Sie wägen Aeonen unsers Pflanzenlebens auf, sprach ich oft bei mir selbst, wenn ich ihr Andenken feierte, diese namenlosen Begeisterungen, wo das irdische Leben tot und die Zeit nicht mehr ist, und der entfesselte Geist zum Gotte wird.

Jahre gingen vorüber, Meere trennten mich von ihr, tausendfältig verwandelte sich vor mir die Gestalt der Welt, aber ihr Bild verließ mich nie. Oft, wenn ich am heißen Mittag, ermattet von meinen Wanderungen, unter fremdem Himmel ruhte, erschien sie mir, wie in dem trunknen Momente, da ich sie fand, ich preßt es an mein glühendes Herz, das süße Phantom, ich hörte ihre Stimme, das Lispeln ihrer Harfe; wie ein friedlich Arkadien, wo in ewigstiller Luft die Blüte sich wiegt, wo ohne Zwang die Frucht der Ernte und die süße Traube gedeiht, wo keine Furcht das sichre Land umzäunt, wo man von nichts weiß, als von dem ewigen Frühling der Erde, und dem wolkenlosen Himmel und seiner Sonne, und seinen heiligen Gestirnen, so stand es offen vor mir, das Heiligtum ihres Herzens und Geistes.

Und später, unter den Bitterkeiten und Mühen des Lebens, bei stürmischer Fahrt, am Schlachttag, unter namenlosem Unmut, wo er mir auf ewig verschwunden schien, der gute Geist, den ich sonst so gerne ahndete, in allem, was lebt, wo ich kalt und stolz mir sagte: hilf dir selber, es ist kein Gott! ach! da trat oft ihr Schatten vor mich, wie ein Engel des Friedens, und besänftigte mein verwildertes Herz mit seiner himmlischen Weisheit.

Jetzt ehr ich als Wahrheit, was mir einst dunkel in ihrem Bilde sich offenbarte. Das Ideal meines ewigen Daseins, ich hab es damals geahndet, als sie vor mir stand in ihrer Grazie und Hoheit, und darum kehr ich auch so gerne zurück, zu dieser seligen Stunde, zu dir, Diotima, himmlisches Wesen!
[229]

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Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 3, Stuttgart 1958, S. 221-230.
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