Clytia und Phoebus,

[12] eine Romanze


Miß Clytia, das schönste Kind,

Cytherens Ebenbild,

War, wie die Mädchen alle sind,

Mit Liebe stets erfüllt.


Sie liebte ihres Nachbars Sohn,

Weil man doch lieben muß,

Im bunten Flügelkleide schon,

Und gab ihm manchen Kuß.


Wie war die Freude doch so groß,

Die ihre Brust durchglitt,

Wenn er auf seinem Steckenroß,

Vor ihrem Fenster ritt!


Die gute Jungfer sah einmahl

Den Phoebus, welcher sich

Nicht selten aus dem Himmel stahl,

Und zu den Nymphen schlich.


Sie kramte ihren Busen aus,

Doch Phoebus, wie es hieß,

Zog seine Stirn beständig kraus,

So oft sie Reize wies.


Satyrisch sah er auf sie hin,

Mit Hohn im Blick, und sprach,

Entflieh, du kleine Buhlerinn,

Schleich Erdensöhnen nach.
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Dies niederschlagende Gebot,

Erschütterte sie tief,

Und machte, daß ein lichtes Roth

Durch ihre Wangen lief.


Von Liebesschmerzen aufgezehrt,

Ward endlich Clytia

Zur Sonnenblume. Hingekehrt

Gen Himmel stand sie da.


Mit liebetrunkner Miene lacht

Sie ihren Phoebus an,

So bald der junge Tag erwacht,

Und schauet himmelan.


Sie blickt ihm nach, wenn er am Saum

Des Abendhimmels blinkt,

Bis er trübröthlicht in den Schaum

Des Oceans versinkt.
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Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 12-14.
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