Die Maynacht

[159] Wenn der silberne Mond durch die Gesträuche blickt,

Und sein schlummerndes Licht über den Rasen geußt,

Und die Nachtigall flötet,

Wandl' ich traurig von Busch zu Busch.


Selig preis' ich dich dann, flötende Nachtigall,

Weil dein Weibchen mit dir wohnet in einem Nest,

Ihrem singenden Gatten

Tausend trauliche Küße giebt.


Überschattet von Laub, girret ein Taubenpaar

Sein Entzücken mir vor; aber ich wende mich,

Suche dunkle Gesträuche,

Und die einsame Thräne rinnt.


Wann, o lächelndes Bild, welches wie Morgenroth

Durch die Seele mir strahlt, find' ich auf Erden dich?

Und die einsame Thräne

Bebt mir heißer die Wang herab!
[159]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 159-160.
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