Die beiden Wölfe

[201] In einem dicken Wald, wo Wind und Hunger heulten,

War zweener Wölfe Sitz, die sich in mancher Nacht

Nichts im Gebiß, als Raubsucht, heimgebracht,

Die sie recht brüderlich, und ohne Mißgunst theilten.

Allein, sie hatten sich verirrt,

Und zu der Beute nicht den rechten Weg genommen.

Bald aber sehen sie die schönsten Schafe kommen;

Doch kommen auch zugleich der Hylax und der Hirt.

Wo die Gewalt unbrauchbar ist,

Bedient sich auch ein Wolf der List.


Sie halten Kriegesrath. Lycaons Enkel spricht:

Ein rechter Angriff hilft hier nicht.

Ich will mich hinter jenen Hecken,

Im Graben, tief genug verstecken,

Dann mußt du, fern von mir, der Heerde Furcht erwecken.

Trab auf sie zu, und laß dich sehn:

Der Schäfer wird dich bald entdecken,

Und mit dem Hunde dir gewiß entgegen gehn.

Da werd' ich schnell den Raub vollstrecken;

Die Kunst der Flucht mußt du verstehn.

Der andre Wolf bejaht's, gestand, daß sein Gefährte[201]

Sich, als ein alter Wolf, erklärte,

Und hieß den Anschlag wunderschön.


Sie trennen sich, und dieser naht hinan.

Man sieht ihn; Hylax bellt! den Erbfeind zu erwischen,

Sucht ihn der Schäfer oft im Wettlauf anzufrischen.

Ihm setzen beide nach: doch kömmt ihm keiner an,

Und jener schleicht aus den Gebüschen,

Und stiehlt das beste Schaf, das man nur stehlen kann.


So wird man oftmals der Gefahr,

Wo sie am größten ist, am wenigsten gewahr.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 201-202.
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