Der Löwe

[199] Ihr Räthe, merkt in diesem Jahre,

Merkt, was die treue Fabel schreibt,

Der Clio Schwester, die das Wahre

Auch diesem Mährchen einverleibt.

Daß sie den Hochmuth nicht verletze,

Nimmt sie den Schein der Einfalt an,

Obgleich die Weisheit ihrer Sätze

Orakel übertreffen kann.


Es herrschte, stolz auf Stand und Ahnen,

Der große Sultan Leopard,

Der, stark durch Reich und Unterthanen,

Durch Bundsgenossen stärker ward.

Ihm huldigten die schwächern Thiere,

Vasallisch und mit banger Pflicht;

Das Wollenvieh und Hirsch und Stiere

Gehörten vor sein Halsgericht.


Dem Löwen ward ein Prinz geboren,

Der Ruf erscholl im Augenblick.

Es ward auch keine Zeit verloren;

Man schickt Gesandten, und wünscht Glück.

Das Schrecken mächtiger Regenten,

Der Vater, starb, nicht sehr betagt.

Man übte sich in Complimenten,

Man schickt Gesandten, lobt und klagt.


Der Sultan läßt den Brandfuchs kommen,

Denn dieser Schalk war sein Vizir.

Du weißt, spricht er, was wir vernommen:

Der Löw' ist todt; was fürchten wir?

Der Waise muß sich schon bequemen,

Und ihn beklag' ich in der That:[199]

Uns kann er auch kein Zicklein nehmen;

Er hüte das nur, was er hat.


Herr, sagt der Fuchs, spart eure Güte

Für andre Waisen, als für ihn.

Ihr zieht wol nicht in sein Gebiete;

Er kann, vielleicht, in eures ziehn.

Entschmeichelt euch dem nahen Rachen,

Macht ihn zum nachbarlichen Freund;

Wollt ihr ihn nicht zum Freunde machen,

So eilt, und schwächet diesen Feind.


Zwar bin ich kein Aspectenmesser,

Allein ich wittre Zank und Krieg,

Und unsre bärtchen Menschenfresser

Verhindern nicht des Löwen Sieg.

Ihm ist das Glück der Waffen eigen,

Nie wird er, eingeschläfert, ruhn,

Und, wann sich seine Rotten zeigen,

Ach! so behalten wir kein Huhn.


Der Sultan hält die Furcht für eitel,

Und, so wie Mupf die Lehrer hört,

Vernimmt er Worte, kratzt die Scheitel,

Gähnt, und entschlummert unbekehrt.

Bald aber zeigt die schnelle Strafe

Die Folgen großer Sicherheit.

Der Löwe weckt ihn aus dem Schlafe:

Er kömmt, und mit ihm Muth und Streit.


Man meldet das den Bundsgenossen,

Macht Lärm, und schreit verwirrungvoll.

Lang' ist der Divan unentschlossen,

Wie man den Einfall hemmen soll.

Man fragt den Fuchs. Wie sehr gewöhnen

Wir uns zur blinden Zuversicht!

Spricht er. Laßt uns den Feind versöhnen,

Und fremder Hilfe trauet nicht.


Thun viele Helfer Wunderwerke?

O nein. Der Löwe hat nur drei:[200]

Den Muth, die Wachsamkeit, die Stärke,

Und siegreich stehn ihm diese bei.

Gebt ihm, daß er nicht mehr entführe,

Ein Schaf, ein Reh, ein feistes Rind:

Kurz, eines der geringern Thiere,

Die unserm Reich entbehrlich sind.


Sein Vorschlag wird verzagt befunden:

Der Reichsrath dachte nicht, wie er.

Man rüstet sich, wird überwunden,

Und macht sich Krieg und Frieden schwer.

Dies lehrt uns eine Wahrheit fassen,

Die Regel der Regierungskunst:

Wollt ihr den Löwen wachsen lassen,

So suchet zeitig seine Gunst.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 199-201.
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