(CXXXV.)
Die Regung deß Geblüts.

[124] Uber dem gemeinen Sprichwort / die Liebe steigt untersich / und nicht übersich / ist die Frage; woher doch solches komme? Kein Gebot heisst die Eltern ihre Kinderlieben / weil solches ohne Gebot beschihet / zum andern trachtet der Mensch in diesem Leben nach nichts eiferiger / als nach der Unsterblichkeit / welche er gleichsam in seinen Kindern vorsihet / und ihme selbsten verheissen kan. Drittens ist die Ursache an den Kindern / welche wie fast alle Menschen gegen GOtt dem himmlischen Vatter / undanckbar gesinnet sind gegen ihre Eltern / welche alles was von ihnen kommet / solt es auch das unvollkommenste Ding in der Welt seyn / mit blinder Liebe behertzigen. Ja es findet sich in jhrem Gemüt eine solche Regung deß Geblüts / wann sie die lieben ihrigen / auch unbekanter Weise ansehen / daß jhnen das Hertz saget / was sie nicht wissen wie auß nachgesetzter Erzehlung zu ersehen seyn wird.

2. Zu Toledo spatzierte auff den Abend an den Fluß ein alter aber sehr armer Edelmann mit seinem Weib / einer Magd / und seiner Tochter / welche kaum das sechszehende Jahr an etretten hatte. Die Nacht war hell / der Lufft heiter / der Weg in einer so grossen Statt sicher / aber doch / wie wir hören wollen / nicht versichert / und hat jhn solche Spatzierlust viel Jahr grossen Unlust verursachet.

3. Rudolf (oder Rodolfo, wie jhn der Spanische Scribent nennet) ein vornehmer reicher / und deßwegen mutiger junger Herr / begegnete jetztgemeldten mit noch vier seiner jungen und frischen Edelleuten / welchen gleich ihme kein Frevel und Mutwillen zu verüben bedencklich war. Diese Wölffe begegneten den Schafen / und liessen sich gelusten / das zartste von der Heerde zu kosten. Der Schäfer (ich sage der alte Edelmann) verwiese jhnen solche Ungebühr / und hiesse sie ihren Weg gehen / welches sie zwar gethan / in dem fortgehen[124] aber einen Anschlag auff Leocadia (also nennte man die Jungfrau) gemacht / und jhr auff der nechsten Strassen vorgewartet / sie zu entführen / einstimmig entschlossen.

4. Solches zu vollziehen war unschwer / massen diese fünff bewehrte / mit drey schwachen und verzagten Weibspersonen und einem unbewaffneten Mann zu thun hatten / daß also Rudolf Leocadiam umarmet und in seine Behausung träget / welche in dem Schrecken in eine Ohnmacht gesuncken / und nicht wissen mögen wie ihr geschehen / die andren Gesellen aber jagen den Vatter und seine Haußgenossen mit blosen Degen durch etliche Gassen / und hat jhnen und ihrem Geschrey bey der stillen Nachte niemand zu Hülffe geeilet.

5. Inzwischen hatte Rudolf seinen viehischen Willen mit der ohnmächtigen Leocadia brünstigst vollbracht / und als er sie wider an jhrem Orte gewünschet / (massen dergleichen Sünde mit der Reue und dem Abscheuen verbunden ist /) unn dahin zu bringen bedacht / kommet sie wider zu jhrem Verstand / und erwachet gleich auß dem Sündenschlaff jhrer Unschuld / und bedachte / was ihr wider ihren Willen unwissend geschehen; mit hertzlichem Wunsche / daß selbe Nacht die letzte jhrer Tage / und das Bett / auf welchem sie sich entblöset befunden (dann Rudolf hatte sie verschlossen / und wolte sich bey seinen Gesellen Raths erholen / was ferners zu thun) jhr zu einer Grabstette werden möchte. Weil nun mit Klagen der Sache nicht geholffen / beschauet sie den Ort / in welchem sie sich befande / und fühlte daß die Thüre verriegelt / das Zimmer mit schönen Tapeten bekleidet / und daß das Fenster in einen Garten sahe; nahme auch darauß ab daß jhr Unglück sie an kein schlechtes Ort begleitet hatte.

6. Unter andern fande sie bey dem Schreibzeug ein kleines Crucifix von dichtem Silber / welches sie zu jhr nahme / der Hoffnung / daß sie GOtt aus diesen Nöthen retten / und aus jhrer Unschuld wider zu Ehren bringen werde. In dem kommet Rudolf wider / und zwar stillschweigend / damit sie jhn an der Rede nicht erkennen solte. Er thäte sich wider freundlich zu jhr / und wolte wider anfangen / wo er zuvor auffgehöret[125] hatte / sie aber vertheidigte sich mit Händen und Füssen / und wolte nit zulassen / was sie zuvor unwissend verstattet. Als er nun nichts richten können hat er abgelassen / jr die Augen verbunden / und wie sie flehendlich begehret / zu der Hauptkirchen geführet / und alldar stehen lassen, da sie dann den Weg / mit vielem Wehklagen wider nach Hause gefunden / und ihre hertzbetrübte Eltern mit ihrer Gegenwart erfreuet / durch die Erzehlung aber ihrer Begegniß noch mehr bekümmert hatte.

7. Ob sie nun erstlich vermeinten das besagte Crucifix auf allen Cantzeln verruffen zu lassen / und dardurch desselben Herrn in Erfahrung zu bringen; hat sie doch leichtlich ermessen / daß desselben rechter Inhaber sich nicht anmelden / sie aber dardurch in offentliche Schandegesetzet werden möchte / von welcher ein Quintlein schwerer ist / als ein Centner heimlicher und wider Willen begangener Unehre. Der Vatter und die Mutter trösteten ihre unschuldige Tochter / und stellten sie endlich mit beharrlicher Neigung gegen sie / etlicher Massen zu frieden: Doch erneurte sich ihr Schmertzen / als sie sich schwanger befande / und dem Spott ihrer Befreunden zu entfliehen / auff das Land begeben muste / da sie zu rechter Zeit eines jungen Sohnes genesen / und ihn Ludwig nennen lassen.

8. Rudolf raiste inzwischen in Welschland / und hatte dieser That vergessen / mit seiner ersten Windel; lebte alldar wol / und übte sich in allen ritterlichen und wolständigen Sitten / daß er also mit grossem Lob / nach etlichen Jahren / wider nach Hause gekommen. Auff eine Zeit fügte sich / daß dieser Ludwig auf der Rennbann / unter das Pferd seines unbekannten Anherrns lauffet / und schmertzlich getretten wird. Dieser Rittersmann / Maximin genannt / springet so bald von dem Pferd / nimt das schöne Kind in seine Arm / und trägt es selbsten nach Hause / nit ohne sondre Regung deß Geblüts / und hertzliches Mitleiden / wegen begebenen Unglückes.

9. Das Geschrey von dem verwundeten kleinen Ludwig erschallet / und fraget die Mutter nach ihrem Pflegkinde / (wie sie es zu nennen pflegte / ) erfuhre auch endlich / daß solches in[126] Maximins Hause getragen worden; dahin sie sich eiligst begiebet / den verletzten Knaben abzuholen. So bald sie nun in das Zimmer kommet / erkennet sie das Bett / das Gartenfenster / die Thür und den Schreibzeug / von welchem sie das Crucifix genommen; hörte auch mit Freuden / daß der Schaden ohne Gefahr / und leichtlich wieder zu heilen seyn würde. Maximin und sein Weib hatten mit dem Kind übergrosses Mitleiden / und wil es nicht aus dem Hause lassen / bevor es völlig geheilet und von der Verletzung genesen / welches Leocadia geschehen lassen / und verhofft / zu Erkäntniß dessen ihres Ehrenraubers dardurch zu gelangen.

10. Dieses Sinnes eröffnet sie ihren Eltern den gefasten / und bey ihr sichern Wahn / daß in selben Hauß / und in selben Zimmer der Anfang ihres Unglücks sich begeben / und durch diese Fügniß auch geendiger werden möchte; zu deme weil Maximin unn sein Weib Stefania vielmals sagten / daß dieser Knab ihrem vorsieben Jahren abgereisten Sohn in dem Angesicht sehr gleichte / unn solches eben die Zeit in welcher Leocadia verunehret worden? Zu fernern Beweiß probirte sie dz Crucifix / und fande / daß es eben der Schreibzeug / auf welchen es gestecket. Solches alles eröffnete sie Stefania / und bate sich ihrer / als ihre Mutter und Großmutter deß kleinen Ludwigs / anzunehmen.

11. Stefania liesse ihren Sohn Rudolf ohne das wieder auß frembden Landen kommen / und erforschte von seinen Gesellen und Dienern / daß er vor 7. Jahren eine unbekante Jungfrau entführet und in sein Zimmer gebracht hatte / deßwegen sie ausser allem Zweiffel der Leocadia Worten Glauben zugestellet. So bald auch Rudolf das Kind ersehen / und das Kind Rudolf hinwieder / ist das Geblüt / wie man zu reden pfleget / zusammen gerunnen / und hat sich nicht triegen lassen.

12. Kurtz zu sagen Rudolf hat seinen begangenen Fehler ersetzet / die betrübte Leocadiam gefreyet und erfreuet / welche ihre Armut mit der Tugend erstattet / und alles außgestandenen Unglückes vergessen; ja erkennet / daß sie sonder solches zu einer so stattlichen Heurat nicht gelangen mögen. Hierin haben nun beederseits Eltern gewilliget /[127] und sich diese Eheleute schiedlich und friedlich mit einander betragen / daß also wahr scheinet / daß der die Erste Blum der Jungferschafft abbricht / bey der verunehrten Person leichtlich wider zu Gnaden kommet / und sie ihme die Zeit ihres Lebens nicht abhold seyn könne.

Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Der grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte, 2 Bde, Frankfurt a.M. und Hamburg 1664, S. 124-128.
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