Französisches Wiegenlied

[222] In meines Vaters Garten –

blühe mein Herz, blüh auf –

in meines Vaters Garten

stand ein schattiger Apfelbaum –

Süsser Traum –

stand ein schattiger Apfelbaum.


Drei blonde Königstöchter –

blühe mein Herz, blüh auf –

drei wundersame Mädchen

schliefen unter dem Apfelbaum –

Süsser Traum –

schliefen unter dem Apfelbaum.
[223]

Die allerjüngste feine –

blühe mein Herz, blüh auf –

die allerjüngste Feine

blinzelte und erwachte kaum –

Süsser Traum –

blinzelte und erwachte kaum.


Die zweite fuhr sich übers Haar –

blühe mein Herz, blüh auf –

die zweite fuhr sich übers Haar,

sah den roten Morgensaum –

Süsser Traum –

sah den roten Morgensaum.


Sie sprach: Hört ihr die Trommel nicht –

blühe mein Herz, blüh auf –

sie sprach: Hört ihr die Trommel nicht

hell durch den dämmernden Raum –

Süsser Traum –

hell durch den dämmernden Raum?


Mein Liebster zieht zum Kampf hinaus –

blühe mein Herz, blüh auf –

mein Liebster zieht zum Kampf hinaus,

küsst mir als Sieger des Kleides Saum –

Süsser Traum –

küsst mir als Sieger des Kleides Saum!
[224]

Die dritte sprach und sprach so leis –

blühe mein Herz, blüh auf –

die dritte sprach und sprach so leis:

Ich küsse dem Liebsten des Kleides Saum –

Süsser Traum –

ich küsse dem Liebsten des Kleides Saum. – –


In meines Vaters Garten –

blühe mein Herz, blüh auf –

in meines Vaters Garten

steht ein sonniger Apfelbaum –

Süsser Traum –

steht ein sonniger Apfelbaum!

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 222-225.
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Schnitzler, Arthur

Reigen

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Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

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